Es wird viel gelästert in den Leserbriefspalten der Schweizer Zeitungen. «Die Jugendlichen sind einfach zu faul zu arbeiten, denn das gibt ja schmutzige Hände. Alle wollen nur noch am Computer sitzen.» Ein anderer meint: «Schulabgänger wollen lieber sofort ein paar Tausender, um sich mit 18 einen tiefergelegten Audi A4 mit Alu-Felgen leisten zu können.»

Tatsache ist, dass letztes Jahr 6500 von 93500 Berufsausbildungsplätzen unbesetzt blieben. Und dieses Jahr wird es nicht viel besser aussehen, prognostiziert das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Geringere Schülerzahlen, wenig Interesse von jungen Frauen und auch schlechtes Marketing der Firmen tragen zur Unterversorgung bei.

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«Die Schwierigkeit liegt bei den technischen und handwerklichen Berufen wie Logistiker und Polymechaniker », sagt auch der Berner SVP-Nationalrat und Unternehmer Hansruedi Wandfluh. «Die Anforderungen stiegen in den letzten Jahren. Diese Berufe erfordern handwerkliches Grundgeschick, Interesse an Maschinen und Technik, aber auch gutes theoretisches Verständnis.»

Aufwand für Rekrutierung steigt

Das heisst aber nicht, dass man nichts unternehmen kann. Dass er selbst seine elf neuen Lehrstellen besetzen konnte, führt Wandfluh unter anderem auf den frühzeitigen Kontakt mit Jugendlichen zurück. «Für Schulen bieten wir Betriebsbesichtigungen und Einblick in verschiedene Berufe an, für Eltern einen Informationsnachmittag », sagt der Unternehmer, welcher mit seiner Wandfluh- Gruppe Komponenten der Hydraulik und Elektronik herstellt. «Jugendliche haben auch jederzeit die Möglichkeit, eine Schnupperlehre zu absolvieren. Diese ist für den Selektionsprozess massgebend.»

Der Aufwand für die Rekrutierung geeigneter Lehrlinge steigt jedenfalls allgemein. Das hat auch der Zürcher FDP-Nationalrat Ruedi Noser erfahren. Seine Unternehmensgruppe bildet in Zürich und Bern 30 Lehrlinge aus, vor allem Informatiker. «Nach einer ersten Selektion der Dossiers und einem Interview führen wir eine Art Mini-Assessment durch», sagt Noser. «Das führt zwar zu einem hohen Initialaufwand, dafür kommt es seltener zum Abbruch der Lehre.» Der Aufwand sei nötig, «weil die Qualität der Bewerbungen häufig schlecht ist und weil sich viele Jugendliche melden, die sich für den Beruf nicht eignen und die Voraussetzungen nicht erfüllen».

Immer weniger Schulabgänger

Fragt sich, ob die Anforderungen der beruflichen Fachschulen in den letzten Jahren unnötig erhöht wurden. «Man kann generell nicht davon sprechen, dass sie gegenüber der praktischen Ausbildung zu hoch sind», sagt Bildungsökonom Stefan Wolter. «Die Verordnungen werden von den Berufsverbänden geschaffen.» In fast allen anderen Ländern mit einem Berufsbildungssystem entscheiden die Verwaltung oder die Berufsschulen darüber. «Nirgendwo haben die Arbeitgeber einen so grossen Einfluss auf die berufliche Ausbildung wie in der Schweiz.» Und Unternehmen würden kaum Bedingungen schaffen, die ihnen selbst Schwierigkeiten verursachen.

Der Aufwand dürfte in den nächsten Jahren nicht kleiner werden, denn die Zahl der Schulabgänger sinkt kontinuierlich. 2007 verliessen 84590 Jugendliche die Schule nach der neunten Klasse, 2010 waren es noch 81128, und 2018 werden es nach Berechnungen des Bundesamtes für Statistik bloss noch 75294 sein. Hinter dem Rückgang stehen nicht nur demografische Gründe. «Die schulischen Ausbildungen – etwa die Gymnasien – konkurrieren mit den Lehrbetrieben um immer weniger junge Menschen», sagt Wolter (siehe Interview). «Die steigende Maturaquote muss nicht schlecht sein. Sie bewirkt aber, dass das Reservoir an Bewerbern tendenziell schlechter qualifiziert ist. Jeder Gymnasiast fehlt als Bewerber vor allem für anspruchsvolle Lehrstellen.»

Besonders rar machen sich bei den technischen Berufslehren die junge Frauen. In den Ausbildungsfeldern Elektrizität, Elektronik, Metallverarbeitung und Informatik beträgt ihr Anteil an den Lehrlingen zwischen 2 und 8 Prozent (siehe Tabelle). In der Spital- und Heimpflege und in Arztpraxen liegt er über 90 Prozent. Berufsverbände organisieren deshalb am 8. November Zukunftstage für Mädchen. Betriebe, Fachschulen und Hochschulen öffnen ihre Türen und geben den Schülerinnen die Möglichkeit, Berufe in der Informatik, der Technik oder im Bauwesen zu entdecken. Bislang ohne durchschlagenden Erfolg.

Es fehlt an Handwerkern

Auch dem Handwerk fehlt es an Nachwuchs. Verhältnismässig gut geht es noch dem Schreinergewerbe. Der Luzerner CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger ist Präsident des Branchenverbandes und führte bis vor kurzem seine eigene Schreinerei in Romoos. «Diesen Sommer konnten mit einigen wenigen regionalen Unterschieden alle Lehrstellen besetzt werden», sagt er. «Unsere Branche ist in der glücklichen Lage, dass Schreiner immer noch für viele junge Leute der Wunschberuf und nicht nur eine Notlösung ist.» Kommt hinzu, dass Schreiner nicht schlecht verdienen. Im Kanton Luzern beträgt der im Gesamtarbeitsvertrag festgelegte Monatslohn für einen 20-jährigen Berufsarbeiter im ersten Jahr nach Lehrabschluss 4018 Franken.

Ein Metzger dagegen kommt unter den gleichen Voraussetzungen auf 3870, ein Coiffeur auf 3000 Franken. Beide Gewerbe haben zu wenig Nachwuchs. Ist also doch auch das Geld entscheidend? «Der Lohn spielt immer eine Rolle, aber der Inhalt der Ausbildung ist mindestens ebenso wichtig», sagt Experte Wolter. «Sonst hätten wir nicht den grossen Andrang zu Berufen wie Pferdepfleger, Floristin oder Schneiderin.»

So bleibt den Lehrmeistern nichts anderes übrig, als sich persönlich ins Zeug zu legen, wenn sie genügend Lehrlinge gewinnen wollen. Eine neue Studie* zeigt, dass sich das auch auszahlt: «Der Nettonutzen über alle Lehrverhältnisse gerechnet summierte sich 2009 auf 474 Millionen Franken», schreiben die Autoren.

Grossen Betrieben fällt es aber alleine wegen ihrer üppigeren Ressourcen eher leichter, die Ausbildungsplätze zu besetzen. ABB-Lehrlinge beispielsweise werden zuerst beim Lernunternehmen Libs angestellt und erhalten dort ihre Grundausbildung. Die zweite Hälfte der Lehre absolvieren sie in Abteilungen des Elektrotechnikkonzerns. Kleine Betriebe setzen auf ihren Ruf, informieren die Lehrer der Region und laden zu Schnuppertagen ein. Schreinermeister Lustenberger hat «stets Lehrlinge rekrutiert, deren Elternhaus ich gut kannte. Das Sprichwort vom Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, hat sich in aller Regel bewahrheitet. »

*Mirjam Strupler, Stefan Wolter: Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe. Rüegger Verlag, 2012.

Interview mit Stefan Wolter, Bildungsökonom, Universität Bern

Längst nicht alle Lehrstellen konnten dieses Jahr besetzt werden. Steckt das schweizerische Berufsbildungssystem in einer Krise?
Stefan Wolter:
Nein. Die Krise war früher. Sie fand in den 1990er-Jahren statt, als der Mangel an Lehrstellen so gross war, dass das ganze schweizerische Berufsbildungssystem in Frage gestellt wurde. Erschwerend kam dazu, dass die Reformen einzelner Berufe viel zu schleppend vorankamen und mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt halten konnten. Das galt auch für die Entwicklung neuer Berufe.

Was hat sich seither geändert, ist es wirklich besser geworden?
Heute herrscht eine ganz andere Dynamik bei den Behörden und auch in der Wirtschaft. Dafür sprechen neben der hohen Zahl an Lehrstellen unter anderem der Erfolg neuer Berufe wie etwa Fachmann und Fachfrau Gesundheit oder anspruchsvolle Berufe wie Informatiker in zukunftsträchtigen und technologisch sich schnell entwickelnden Wirtschaftssektoren.

Die höhere Berufsbildung ist im Ausland wenig bekannt. Das kann zu Schwierigkeiten bei der Stellensuche führen.
Die internationale Anerkennung der Abschlüsse in der höheren Berufsbildung ist ein bislang ungelöstes Problem. Ein Äquivalent dazu existiert im Ausland meist nicht. Und unser System der Berufsbildung ist im Ausland viel zu wenig bekannt. Daher ziehen selbst Einwanderer in der Schweiz für ihre Kinder die klassische Berufsbildung gar nicht erst in Betracht.