Abend für Abend erklärt Anja Kohl den deutschen Fernsehzuschauern die Börse. Kurz vor der «Tagesschau» berichtet sie, wie die Papiere auf Ereignisse des Tages reagierten, warum Händler Anteile kauften oder verkauften, wieso der Dax gefallen oder gestiegen ist.

Die Index-Tafel hinter ihr, über dem Parkett der Deutschen Börse, ist das kurvengewordene Abbild davon. Hier pocht das Herz des deutschen Aktienhandels, hier werden Kurse gemacht. Das zumindest suggeriert die Szene, und das glauben auch die meisten Zuschauer.

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Dunkle Nebenwelt

Doch in Wahrheit findet inzwischen der grösste Teil des deutschen Aktienhandels in einer dunklen Nebenwelt statt. Händler kaufen oder verkaufen dort Aktien in einem Paralleluniversum, in einer virtuellen Blackbox. Sie bedienen sich sogenannter Dark Pools, zu denen nur Grossanleger Zugang haben. Dort wollen sie unter sich sein, um sich nicht vom öffentlichen Markt in die Kurse pfuschen zu lassen.

Solche Dark Pools haben durchaus ihren Zweck. Aktienhandel abseits der regulierten Börse gab es in der einen oder anderen Form schon immer. Manche Deals sind einfach zu unhandlich für die reguläre Börse. Ausserdem würden sie dort unnötig viel Unruhe stiften und die Kurse in verrückte Bahnen lenken. Doch wie so vieles in der Finanzwelt sind auch die Dark Pools mittlerweile aus dem Ruder gelaufen.

Ein Kollaps hätte unabsehbare Folgen

Selbst den Nutzniessern der Schattenbörsen wird die Sache unheimlich. Sie rufen nach dem Gesetzgeber und stärkerer Regulierung. Denn mittlerweile steht fest: Ein Kollaps in den Dark Pools hätte unabsehbare Folgen, bis hin zu einer neuen Krise.

Vor einigen Wochen geriet der für die Aussenwelt kaum sichtbare Markt plötzlich ins Rampenlicht. Auslöser war ausgerechnet die britische Barclays Bank. Sie war schon vor zwei Jahren zu zweifelhaftem Ruhm gelangt. Damals war aufgeflogen, dass sie jahrelang den wichtigen Referenz-Zins Libor manipuliert hatte. Nun wurde bekannt, dass die Bank eines der wichtigsten Gebote des exklusiven Netzwerks für Grossanleger missachtet hatte: Sie liess in dem Pool sogenannte Hochfrequenzhändler mitmischen.

Dabei sind gerade die es, vor denen sich grosse Investoren eigentlich schützen wollen, wenn sie auf Dark Pools ausweichen. Sofort kamen weitere Fragen auf. Wenn so etwas über längere Zeit unentdeckt blieb – welche Unwägbarkeiten verbergen sich noch in diesem Markt?

Alles auf eine Aktie

Um die Aufregung unter den Finanzprofis zu verstehen, muss man sich in den Handelsraum eines Grossanlegers begeben, beispielsweise von Allianz Global Investors (AGI). Die Uhren an der Wand verweisen dort auf die grosse, weite Welt.
Ein an der Decke befestigter Fernseher beliefert den Raum mit Nachrichten von CNN. Darunter sitzen Händler an Dutzenden von Bildschirmen, nehmen Aufträge entgegen und bestätigen deren Ausführung, klicken sich durch Tabellen und Kurse, kaufen und verkaufen. Oft auch in Dark Pools.

«Wir bekommen immer mal wieder Aufträge von unseren Fondsmanagern, für einen ihrer Fonds so viele Stücke einer Aktie zu kaufen oder zu verkaufen, dass dies dem gesamten Handelsvolumen eines Tages in diesem Wert entspricht», erklärt Christoph Mast, Leiter des Handels bei AGI.

Das können Riester-Renten-Fonds sein oder Fonds, in die Privatanleger einen Teil ihrer Ersparnisse gelegt haben. «Unsere Kunst besteht dann darin, dies so umzusetzen, dass es den Markt möglichst nicht beeinflusst», sagt Mast. Dies sei letztlich nur im Sinne der Anleger.

Rasend schnelle Kommunikationswege

Doch das ist nicht so einfach. Denn wenn einer seiner Händler eine solche Order an einer geregelten Börse aufgibt, sehen dies alle anderen Marktteilnehmer sofort. Sie reagieren und drehen den Preis unter Umständen in eine ungewünschte Richtung. Vor allem aber lockt eine solche grosse Order die Hochfrequenzhändler an.

Dabei handelt es sich um Computer, die den Aktienmarkt beständig nach irgendwelchen Zeichen aussergewöhnlicher Aktivitäten durchkämmen. Sie bedienen sich dazu komplizierter Algorithmen. Sobald diese beispielsweise feststellen, dass jemand eine grössere Zahl an Aktien kaufen möchte, werden sie aktiv, kaufen blitzschnell die entsprechenden Papiere am Markt auf und verkaufen sie dem Kaufinteressenten danach, natürlich ein klein wenig teurer.

Das Entscheidende dabei: Diese Hochfrequenzhändler sind normalen Händlern haushoch überlegen, weil sie über rasend schnelle Kommunikationswege verfügen. Innerhalb von Mikrosekunden können sie kaufen und verkaufen, mitunter handeln sie 250-mal in einer einzigen Sekunde. Und an manchen Börsen sind sie schon für ein Drittel oder gar die Hälfte sämtlicher Aufträge verantwortlich. Ihnen wollen die Grossanleger aus dem Weg gehen.

Handelsaufträge über 20 Millionen Euro

So auch Paul Squires, Handelschef bei Axa Investment Manager in London. «Wir haben öfter sogenannte 'big tickets'», sagt er und meint damit Handelsaufträge im Wert von 20 Millionen Euro oder mehr. «Das Letzte, was Sie mit einem solchen Auftrag machen werden, ist, ihn über eine öffentliche Börse auszuführen – der Markt würde das sofort erkennen und reagieren.» Mindestens ein Drittel seiner Orders handelt er daher ausserhalb der öffentlichen Börsen.

Unter anderem bei Liquidnet. Dessen Europa-Chef, Mark Pumfrey, hat äusserlich nichts Klandestines an sich – unauffälliger Anzug, Seitenscheitel, eine ruhige, sonore Stimme. Und doch steht er einer dieser finsteren Handelsplattformen vor, die den Grossanlegern genau das bieten, was sie suchen: Anonymität.

Denn wenn beispielsweise einer der Händler von Squires eine Kauforder im Dark Pool von Liquidnet einstellt, erfährt davon niemand. Nur das System selbst durchforstet blitzschnell alle anderen aktuellen Handelsaufträge. Es könnte sein, dass es dabei auf einen Auftrag von einem der Händler von AGI-Mann Mast stösst, der genau diese Aktien verkaufen möchte.

Das System würde den beiden nun Bescheid geben, dass es eine Gegenpartei für den Handel gibt. «Beide erhalten aber weiterhin keinerlei Information darüber, um wen es sich bei der Gegenseite handelt und wo sie sitzt», sagt Pumfrey.

Kein Einfluss auf den Kurs der Aktie

Das gilt selbst dann, wenn der Handel schliesslich über die Bühne gegangen ist. «Die beiden Parteien wissen nur, dass sie mit einem anderen Mitglied von Liquidnet gehandelt haben.» Und sie können sich sicher sein, dass dieser Handel den übrigen Markt nicht beeinflusst hat, den Kurs der Aktie also nicht nach oben oder unten gedrückt hat.

Das ist natürlich schön für Squires, Mast und die anderen Grossanleger, die bei Liquidnet aktiv sind. Doch andere halten genau dies für eine Todsünde. «Aktienhandel ist ein Prozess, durch den aktuelle Informationen in einen Preis eingearbeitet werden», sagt Amin Rajan, Chef der unabhängigen Analysefirma Create Research in London.

Natürlich würde ein grosser Kaufauftrag an den Börsen den Preis nach oben treiben – aber das sei ja nur folgerichtig, schliesslich gebe es ja eine verstärkte Nachfrage. Die Grossanleger manipulierten den Preis, indem sie auf Dark Pools ausweichen und damit ihre Informationen der öffentlichen Börse und damit dem Markt vorenthalten.

Das sei umso dreister, da die Händler sich gleichzeitig beim Preis, den sie in den Dark Pools für die Aktien verlangen oder bezahlen wollen, an den Kursen orientieren, die an den öffentlichen Börsen gestellt werden. Denn aufgrund der Intransparenz und Anonymität ist im Dark Pool selbst eine Preisfindung ja nicht möglich.

Die Dark-Pool-Kunden nutzen also die Preisinformationen der Börsen, umgehen diese aber gleichzeitig – ganz ähnlich wie der Kunde, der sich im Einzelhandel zu einem Produkt beraten lässt, es dann aber anschliessend im Internet bestellt.

Erste Firmen fallen aus dem Index

Gleichzeitig, so ein weiterer Vorwurf, entziehen die grossen Spieler den herkömmlichen Börsen durch ihr Ausweichen auf Dark Pools Liquidität. Der Handel dort dünnt immer weiter aus. Inzwischen finden beispielsweise nur noch knapp 40 Prozent des Handels mit Dax-Aktien auf Xetra, der elektronischen Plattform der Deutschen Börse, statt. Der Rest wird über unregulierte Kanäle abgewickelt, meist Dark Pools.

«Der Markt wird dadurch illiquider», sagt Silke Schlünsen von der Close Brothers Seydler Bank in Frankfurt. Sie ist dort für das sogenannte Designated Sponsoring zuständig, sprich, sie ist von den Unternehmen beauftragt sicherzustellen, dass ihre Aktien jederzeit gekauft oder verkauft werden können, vor allem auch von privaten Kleinanlegern oder kleineren Vermögensverwaltern, die nicht in der Welt der Grossen mitmischen können. Doch das wird natürlich umso schwerer, je mehr Handel im Geheimen stattfindet.

«Ausserdem kann das Abwandern des Handels dazu führen, dass Firmen aus einem Index fallen», sagt sie. Denn für die Indexzugehörigkeit ist ein entscheidendes Kriterium, wie gross der Umsatz der jeweiligen Aktien am regulierten Markt der Deutschen Börse ist.

Der war beispielsweise bei MVV Energie im vergangenen Jahr so gering, dass das Unternehmen den SDax verlassen musste, obwohl es beim zweiten Kriterium, der Marktkapitalisierung, eigentlich eine komfortable Position hatte. Doch 90 Prozent der Aktien wurden nicht mehr an der Börse gehandelt. Das Treiben der Dark Pools fordert also inzwischen echte Opfer.

Kostenspirale nach unten

Dem hält Peter Dietz, Leiter des Aktienhandels bei der Commerzbank, jedoch entgegen, dass es das, was Dark Pools heute machen, eigentlich schon immer gegeben habe. «Auch früher wurde ausserbörslich gehandelt», sagt er. Das geschah jedoch meist, indem ein Händler zum Telefonhörer griff und auf diese Weise einen Abnehmer für ein Aktienpaket suchte.

«Dabei bestand jedoch stets die Gefahr, dass etwas am Markt bekannt wird», sagt er. «Dieses Problem gibt es bei Dark Pools nicht.» Sie setzten daher nur eine Praxis fort, die es auch früher schon gab, allerdings auf technisch hohem Niveau.

Und schliesslich war die Entwicklung letztlich vom Gesetzgeber genau so gewollt. Denn die EU hatte 2007 die Finanzmarktrichtlinie Mifid in Kraft gesetzt. Sie sollte die Macht der Börsen beschränken, die bis dahin aufgrund ihrer Monopolstellung die Preise für den Aktienhandel diktieren konnten und damit satte Gewinne machten.

Seit 2007 gilt nun, dass eine Wertpapierfirma für ihre Kunden stets jenen Handelsplatz wählen muss, der das beste Ergebnis hinsichtlich Kosten, Ausführungswahrscheinlichkeit und Schnelligkeit der Ausführung bietet.

Seither schossen alternative Handelsplätze aus dem Boden, führten zu einer Kostenspirale nach unten, was letztlich den Kunden, Kleinsparern und Grossanlegern, zugutekam. Doch die Grossen handelten seither immer häufiger auch über Dark Pools, weil sie die besten Preise boten.

Viele fordern stärkere Regulierung

Rund 50 solcher Handelsplätze gibt es daher heute in den USA, in Europa sind es etwa 30. Und zwischen ihnen herrscht inzwischen ein solch harter Konkurrenzkampf, dass es zu Auswüchsen wie bei Barclays kommen konnte. Hinter vorgehaltener Hand äussern dabei die meisten Beteiligten am Markt die Überzeugung, dass die Briten nicht die Einzigen sind, die mit unlauteren Mitteln kämpfen. Sie waren nur so dumm, sich erwischen zu lassen.

Durch diese Übertreibungen sind nun aber selbst jene, denen die Dark Pools eigentlich zugutekommen, für eine stärkere Regulierung.«Der Grossteil des Aktienhandels sollte wieder an die öffentlichen Börsen zurückgelenkt werden», sagt Christoph Mast.

Auch Paul Squires tendiert in diese Richtung. «Man sollte Mindestgrössen für die Orders in Dark Pools einführen», sagt er. So wären diese künftig nur noch dem Handel von grossen Aktienpaketen vorbehalten, ihrem ursprünglichen Zweck entsprechend.

Unglücklich gewählter Name

Einige Regulierer unternehmen auch schon erste Schritte. So verlangt die Hongkonger Börsenaufsicht neuerdings, dass Firmen ihre Algorithmen bekannt machen müssen, nach denen in ihren Dark Pools gehandelt wird. Damit kommt ein wenig Licht ins Dunkel.

Und in der EU steht eine Weiterentwicklung der Finanzmarktrichtlinie Mifid an. Im Rahmen von Mifid II soll dabei beispielsweise vorgeschrieben werden, dass maximal acht Prozent des Handels in einer Aktie in Dark Pools stattfinden sollen.

Noch sind die Regeln aber nicht Gesetz. Frühestens 2017 ist es so weit, die Verhandlungen laufen noch. Bis dahin könnte noch mancher Skandal die Diskussionen verschärfen. «Am Ende könnte dann eine Regulierung stehen, die wieder in die andere Richtung überschiesst», warnt Christoph Mast.

Dabei seien Dark Pools weder gut noch böse, man müsse sie nur richtig einsetzen. «Durch den unglücklich gewählten Namen klingen sie aber leider schlimmer, als sie sind.» Für den Namen indes kann der Gesetzgeber nichts. Den haben sich die Betreiber selbst ausgesucht.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Schwesterpublikation «Die Welt».