Erst in einem Monat wird abgestimmt – doch schon heute feuern Befürworter und Gegner der 1:12-Initiative aus allen Rohren: Erst drohte der Mehrheitsaktionär des Logistikkonzerns Kühne+Nagel Ende vergangener Woche mit Abwanderung ins Ausland, sollten die Schweizerinnen und Schweizer für eine Begrenzung der Saläre stimmen. «Wir müssten wohl unseren Hauptsitz aus der Schweiz abziehen», sagte Klaus-Michael Kühne mit Blick auf 1:12.

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Am Montag dann hielt der Zürcher Finanzwissenschaftler und Bankenexperte Marc Chesney dagegen: Die Grossbanken in der Schweiz würden heute subventioniert, die Lohnentwicklung in der Finanzindustrie sei in den vergangenen 30 Jahren ausser Kontrolle geraten, sagte Chesney in einem Interview mit dem Blick. «Die heutigen Lohndifferenzen sind weder moralisch noch ökonomisch vertretbar.»

Bei der Bevölkerung haben die Befürworter inzwischen kräftig aufgeholt. Einer Umfrage zufolge liegen sie mit 44 Prozent Zustimmung gleichauf mit den Gegnern.

«Hohe Lohnunterschiede sind ökonomisch nicht zu rechtfertigen»

Auch nach Ansicht des früheren Chefökonomen der Uno-Welthandelskonferenz Unctad, Heiner Flassbeck, sind die hohen Lohnunterschiede ökonomisch nicht zu rechtfertigen. Die Ursache dieser Entwicklung sieht er vor allem darin, dass Märkte nicht mehr funktionierten und einige Konzerne heute marktbeherrschende Positionen inne hätten. «Wir haben keine Marktwirtschaft mehr, sondern zunehmend eine Monopolwirtschaft», so der Ökonom. Deshalb, so resümierte Flassbeck in einem Interview mit dem «Tagesanzeiger», hätten eigentlich «Freisinnige 1:12 lancieren müssen».

Die Wahrheit in dieser stark interessengeleiteten Debatte ist freilich komplex. Nach Ansicht der unabhängigen Wirtschaftswissenschaftler der Konjunkturforschungsstelle Kof sind die Effekte von 1:12 auf die öffentlichen Finanzen und die Sozialwerke kaum prognostizierbar. Letztlich wären von der Initiative jedoch nur 1'200 von insgesamt 313'000 Unternehmen in der Schweiz betroffen, haben die Kof-Experten herausgefunden.

Lohnschere zwischen den Branchen wächst seit 20 Jahren

Unbestritten ist, dass die Lohnentwicklung in der Schweiz zwischen den einzelnen Branchen seit Jahren immer stärker auseinander klafft. Das zeigen kürzlich veröffentlichte Daten des Bundesamts für Statistik: Seit 1992 haben die Löhne in keinem anderen Wirtschaftszweig stärker zugelegt als in der Finanzbranche. Bei den Banken legten die Saläre seitdem – ohne Berücksichtigung der Preisentwicklung – um fast 40 Prozent zu. Die Beschäftigten in der Versicherungsbranche verbuchten in dieser Zeit fast ebenso kräftige Lohnsteigerungen. Vergleichsweise gut stehen heute auch Mitarbeiter der Pharmabranche da. 

Damit stiegen die Löhne bei Banken und Versicherungen in den vergangenen beiden Dekaden fast doppelt so stark wie etwa an Schweizer Schulen: Lehrerinnen und Lehrer mussten sich seit 1992 mit nominalen Salärsteigerungen von vergleichsweise mageren 20 Prozent begnügen. Ähnliches gilt für die Gesundheitsbranche und die Beschäftigten am Bau. Auch in der Industrie sieht es nur unwesentlich besser aus: In den vergangenen zwei Jahrzehnten stiegen dort die Löhne um rund 23 Prozent.

Kof: Lohnspanne in der Schweiz dennoch gering

Gleichzeitig steht indes auch fest, dass stark ungleich verteilte Löhne in der Schweiz eher eine Ausnahmeerscheinung sind. Nach Kof-Angaben liegt die durchschnittliche Lohnspanne in Schweizer Unternehmen lediglich bei 1 zu 2,2. Ähnliches zeigen Daten des Europäischen Statistikamts Eurostat: Demnach ist die Einkommensungleichheit in der Schweiz weniger stark ausgeprägt als im Schnitt der 28 EU-Länder. Die Euro-Statistiker vergleichen dabei die Einkommen der einkommensstärksten 20 Prozent der Bevölkerung mit dem einkommensschwächsten Fünftel.

Wirtschaftliche Ungleichheit in der EU höher als in der Schweiz

Der für die Schweiz errechnete Faktor liegt demnach bei 4,3, für die gesamte EU hingegen bei 5,1. In einigen – vor allem südeuropäischen Ländern – ist das Verhältnis noch deutlich grösser, ebenso in einigen osteuropäischen Staaten. Die Ungleichheit in der Schweiz ist also keineswegs himmelschreiend hoch. Gleichzeitig gilt jedoch: In skandinavischen Staaten wie Schweden und in den Niederlanden ist die Einkommensspanne zwischen Geringverdienern und einkommensstarken Haushalten kleiner. Gleiches gilt für Norwegen, Island, Malta, Luxemburg oder Slowenien.

Vor allem die gut funktionierenden Volkswirtschaften Skandinaviens, mit denen die Schweiz in vielen Rankings – etwa beim Thema Lebenszufriedenheit, wirtschaftliche Prosperität, Standortqualität oder Lohnniveau – oft auf Augenhöhe oder sogar darüber liegt, scheinen der Eidgenossenschaft in Sachen Sozialverträglichkeit etwas voraus zu haben. Immerhin: In den vergangenen fünf Jahren hat die wirtschaftliche Ungleichheit in der Schweiz diesem Indikator zufolge nicht mehr zugenommen. Im Gegenteil: 2008 lag der Wert noch bei 5,3.

Wie gut oder schlecht eine ausgeglichene Einkommensverteilung für eine Gesellschaft ist, darüber streiten sich Ökonomen heute – die Ansichten gehen bei diesem Thema fast diametral auseinander. Bis vor einigen Jahren herrschte in der Wissenschaft vor allem die Ansicht vor, dass wirtschaftliche Ungleichheit in Gesellschaften zu begrüssen sei. Denn dann, so lautete die Argumentation, arbeiteten Menschen mehr und besser. Durch den Anreiz angestachelt, mehr zu verdienen, würde am Ende die gesamte Wirtschaft schneller wachsen – was schliesslich wiederum mehr Einkommen für jeden Einzelnen bedeuten würde. Als Massstab wurde häufig das sozialistische System herangezogen, um die dortigen Ineffizienzen im Vergleich mit der Marktwirtschaft aufzuzeigen.

Tatsächlich hat dieser Glaubenssatz jedoch enorm an Reputation eingebüsst. Denn oft ist mit den Gesetzen der Marktwirtschaft – wie vom früheren Unctad-Chefökonom Flassbeck kritisiert – nicht mehr erklärbar, ob ein Manager sein Geld auch wert ist. Wie kann gemessen werden, dass ein Geschäftsleiter für ein Unternehmen den zwanzigfachen Wert erwirtschaftet als ein einfacher Arbeiter, der sich mit einem Zwanzigstel des Lohns begnügen muss?

Kate Pickett: Ungleichheit schädlich für Gesellschaften

Darüber hinaus gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen, die resümieren, dass starke wirtschaftliche Ungleichheit sogar krank machen kann. Berühmt sind vor allem die Forschungsergebnisse der britischen Gesundheitswissenschaftlerin und Professorin für Epidemiologie an der University of York, Kate Pickett. Sie hat herausgefunden, dass stark ungleiche Gesellschaften deutlich schlechter funktionieren als ausgeglichene. So sind in egalitäreren Gesellschaften nicht nur die Lebenserwartung und das persönliche Glücksempfinden höher, auch psychische Krankheiten wie Depressionen sind weniger verbreitet. Ebenso gibt es weniger Gewalt, Jugendschwangerschaften und Suizide.

Zu viel wirtschaftliche Ungleichheit kann das soziale Gefüge in der Schweiz also durchaus aus den Angeln heben. Doch wieder zeigt der internationale Vergleich: Den Schweizerinnen und Schweizern geht es vergleichsweise gut. Die Lebenserwartung ist hoch, Ausbilung und Lohnniveau fast unerreicht. Der gesundheitliche Standard gehört zu den besten der Welt, psychische Krankheiten sind viel weniger verbreitet als in vielen Ländern rund um den Globus.

Klagen auf hohem Niveau

Entsprechend deutlich unterscheidet sich die Wahrnehmung der 1:12-Befürworter von dem Bild, das die Schweiz im Ausland abgibt. Erst im September stimmte die «Huffington Post» ein Loblied auf Land und Wirtschaft an – und pries das Schweizer Modell als Vorbild für viele andere Länder rund um den Globus.