Vor zehn Jahren war der Spuk endgültig vorbei. Am 5. Juni 2003 wurde der Neue Markt zu Grabe getragen. Mit ihm starb die Hoffnung auf schnellen Reichtum, ohne eine Hand krumm zu machen. Das Börsensegment für Wachstumswerte hatte Millionen Deutsche kein Vermögen gebracht, sondern schmerzliche Verluste. Vielen impfte es die Vorstellung ein, dass Börsenpapiere im wesentlichen Betrug sind.

Bis heute hat sich die Aktienkultur in Deutschland nicht davon erholt.

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Die Ursprungsidee war gut gewesen: Der Neue Markt sollte eine «deutsche Nasdaq» werden, unsere Antwort auf Amerikas erfolgreiches Wachstumssegment in New York. Mittelständler aus den Branchen Umwelttechnik, Telekommunikation, Biotechnologie und vor allem Internet sollten sich hier mit Risikokapital versorgen können und damit den Grundstein legen zu globaler Expansion.

Das Vorbild war die US-Softwarefirma Microsoft, die es innerhalb von 20 Jahren von einer Garagenfirma zum Weltkonzern schaffte. Als Bill Gates' Unternehmen 1986 an die Börse ging, spülte das gerade mal 58 Millionen Dollar in die Firmenkasse. Heute ist Microsoft einer der grössten Konzerne der Welt und 300 Milliarden Dollar schwer.

Zum Start war Mobilcom angetreten

Am 10. März 1997 wurde der Neue Markt ins Leben gerufen. Zunächst war die Skepsis gross. Das Segment startete mit lediglich zwei Unternehmen, und davon war nur eines neu an der Börse, der Telekommunikationsanbieter Mobilcom, der sich anschickte, dem Ex-Monopolisten Deutsche Telekom mit Call-by-call-Tarifen Konkurrenz («19 Pfennig pro Minute» mit der Vorwahl 01019) zu machen.

Der Mobilcom-Aktienkurs schoss im ersten Jahr des Börsendaseins um 2800 Prozent in die Höhe. Damit war der Bann gebrochen. Die Aussicht auf ähnliche Gewinne lockte Tausende Privatanleger aufs Parkett, die vorher nie etwas mit Aktien zu tun hatten.

Das Börsensegment wuchs rasant: Im Mai 1998 wurde die Marke von 100 Firmen durchbrochen, im Dezember 1999 waren es bereits doppelt so viele. Am 10. März 2001 zählte das Segment schliesslich 337 notierte Aktien.

Bald wurde ein eigener Index eingerichtet, der Neue-Markt-Index Nemax. Im April 1997 bei 500 Punkten gestartet, ging es binnen drei Jahren auf knapp 8600 Punkte nach oben. Zu dem Zeitpunkt überflügelte der Nemax seinen älteren Bruder Dax.

Zahl der Aktionäre stieg sprunghaft an

Die Aktionärszahl in Deutschland stieg in der Zeit sprunghaft an: von 5,6 Millionen im Jahr 1997 auf einen Rekordstand von fast 12,9 Millionen nach der Jahrtausendwende. Doch dann kam der Absturz. Die Euphorie erwies sich als Blase. Im Hochgefühl der «New Economy» war so manche Firma an die Börse gegangen, die alles andere als solide war. Bis Oktober 2002 fiel der Index auf 349 Punkte. Danach konnte er sich anders als der Dax nie mehr richtig erholen.

Mobilcom-Gründer Gerhard Schmid urteilte Jahre später: «Die Banken haben doch jeden an die Börse gebracht, der einen ambitionierten Geschäftsplan vorgelegt und dabei das Wort Internet richtig geschrieben hat.» Berichte über aufgeblasene Bilanzen, Insiderhandel und Kursbetrug brachten den Neuen Markt als Zockerbörse in Verruf und beschädigten auch das Image der Deutschen Börse.

Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass der Münchner Telematik-Spezialist Comroad fast seine gesamten Umsätze erfunden hatte. Das war nur ein Beispiel von vielen. Im März 2002 räumte sogar der damalige Börsenchef Werner Seifert ein, es habe am Neuen Markt «kriminelle Machenschaften» gegeben.

Der «New-Economy-Crash» der Jahre 2000 bis 2003 gab dem Neuen Markt den Rest. Vielen Deutschen hat der Nemax die Beschäftigung an Aktien verleidet. Nach Zahlen des Deutschen Aktieninstituts ist der Anteil der Aktionäre an der Gesamtbevölkerung mit 13,7 Prozent deutlich geringer als in anderen Industriestaaten.

Allerdings hat der Neue Markt längst nicht nur Nieten hervorgebracht. Die Erfolgsgeschichte mancher Biotech- oder IT-Firmen sei ohne den Neuen Markt nicht denkbar, meint zum Beispiel Dirk Schiereck, Professor für Unternehmensfinanzierung an der TU Darmstadt: «Es sind eine ganze Reihe von Unternehmen dazugekommen, die den Kurszettel dauerhaft verlängert haben.»

Nur noch die Hälfte aller Nemax-Werte an der Börse

Heute befindet sich noch rund die Hälfte der ehemaligen Neue-Markt-Firmen an der Börse. Darunter gibt es viele, die vor sich hinvegetieren und deren Kurs sich in den vergangenen Jahren per saldo nicht mehr von der Stelle bewegt hat. Dazu zählen aber auch einige Erfolgsunternehmen.

Ein leuchtendes Beispiel ist der Online-Dienstleister United Internet. Die Aktie der Firma aus Montabaur hat Ende Mai bei einem Stand 23,50 Euro ein Allzeithoch erreicht. Zu Neue-Markt-Zeiten war das Papier bis auf umgerechnet zwölf Euro gestiegen, ehe es im Crash auf 0,39 Euro absackte. Gemessen am Ausgabekurs von März 1998 liegt das Papier heute um das 22-Fache höher.

Dann gibt es da noch jene Aktien, die zwar weit von ihren alten Hochs entfernt sind, aber seit dem Crash eine passable Entwicklung hinlegen konnten. Der Halbleiterzulieferer Aixtron ist hier paradigmatisch: Von umgerechnet 2,13 Euro der Erstausgabe der Aktien stieg der Kurs auf 89,50 Euro. Dann stürzte er im Crash auf zwei Euro und notiert heute bei rund 13 Euro.

Rekord-Kurse brachen schnell ein

Ein ähnlicher Fall ist das Biotechnologie-Unternehmen Morphosys: Von Anfänglich 25 Euro im März 1999 kletterte die Aktien rasant. Als der Neue-Markt-Guru Bernd Förtsch in der «3Sat Börse" andeutete, Morphosys könne auf "dausend" steigen, sprang der Kurs nach oben, zwar nicht auf 1000, aber immerhin auf 450 Euro.

Vom Hoch ging es rapide abwärts, und zwar auf 1,57 Euro. Heute steht die Biotech-Aktie bereinigt um einen Aktiensplit bei rund 117 Euro.
Trotz «3Sat Börse» und Neuer-Markt-Hype konnten Anleger, die bei der Emission dabei waren, 350 Prozent Gewinn machen. Keine schlechte Bilanz. Längst hat der Neue Markt einen Nachfolger gefunden, den Entry-Standard. Dort werden inzwischen zum grossen Teil Anleihen gehandelt. Die sind teilweise womöglich so riskant wie Nemax-Aktien.