Es ist geradezu absurd. Lange schon redet sich der vielleicht prominenteste Wirtschaftsnobelpreisträger unserer Zeit den Mund fusslig. Vor zwei Jahren widmete Joe Stiglitz seinem Lieblingsthema sogar ein ganzes Buch mit dem reisserischen Titel «Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht». Die Kritiken seinerzeit waren gefällig, vom Hocker riss das Werk jedoch kaum jemanden. Just more of the same, wie der Amerikaner sagen würde.

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Umso erstaunlicher ist, dass nun ausgerechnet ein junger, den Sozialisten nahestehender Franzose sich anschickt, die amerikanische Gesellschaft mit haargenau dem gleichen Thema in ihren Grundfesten zu erschüttern. Und dies mit einem über 700 Seiten dicken, recht akademisch geschriebenen Buch, dessen Titel – «Capital in the 21st Century» – unamerikanischer, weil vager kaum sein könnte.

Bei Amazon in den Bestsellerlisten weit oben

Seit Wochen liegt das Buch in den Bestsellerlisten bei Amazon ganz weit oben – und zwar nicht bei den Wirtschaftspublikationen, sondern im Gesamtranking. Inmitten von Lebensratgebern, Jugendbüchern und Fantasyromanen, die den Verlagen überlicherweise die höchsten Auflagen bringen. Talkshows reissen sich um den 43-Jährigen, jede relevante Zeitung oder Illustrierte hat in den vergangenen Wochen über ihn berichtet, in den USA und in Europa. Piketty  wird zum Popstar – er steht nicht länger nur mit seinen Theorien, sondern auch als Person im Rampenlicht. So sehr, dass es erste Berichte über pikante Details aus seinem Privatleben gibt – Vorwürfe seiner Ex-Partnerin, der französischen Kultusministerin Aurelie Filippetti, spülten an die Oberfläche.

Doch während Piketty weltweit gefeiert wird, formiert sich erste ernsthafte Kritik in der Fachwelt. Es sei erinnert: Der Franzose geht davon aus, dass der Kapitalismus per se hohe wirtschaftliche Ungleichheit schafft. Um zu dem vermeintlich trivialen Ergebnis zu kommen, hat Piketty Langzeitdaten zur Einkommensentwicklung in verschiedenen Volkswirtschaften untersucht.

Seine These begründet der Franzose damit, dass die Erträge aus Kapital in der Regel immer stärker steigen als das Wirtschaftswachstum – so wie es bereits im 19. Jahrhundert zu beobachten gewesen sei. Dass der Anteil der Superreichen ab Ende der 1930er- Jahre sank, ist laut Piketty eher eine Ausnahmeerscheinung – und vor allem auf den zweiten Weltkrieg, höhere Inflationsraten, die Nationalisierung und hohe progressive Einkommenssteuern zurückzuführen.

Piketty fordert Umverteilung von oben nach unten

Entsprechend attraktiv ist Piketty für viele Linke. Optimalerweise würde eine globale Vermögenssteuer das Problem der zunehmenden Ungleichheit in den Griff bekommen, sagte er Anfang April gegenüber Handelszeitung.ch. Auch eine progressive Einkommenssteuer nennt er als Mittel für die von ihm geforderte Umverteilung von oben nach unten.

Damit kann denn auch Pikettys plötzlicher Ruhm teilweise erklärt werden. Viele Amerikaner sind unzufrieden, dass sie am wirtschaftlichen Aufschwung nach der Finanzkrise nicht partizipierten. Und Piketty gibt sich nicht mit Kleinvieh zufrieden, er wagt den ganz grossen Wurf. Mit seinen Forschungsergebnissen will er zu verstehen geben: Es ist etwas grundsätzlich faul am kapitalistischen System. Damit bestätigt er das vage Unwohlsein vieler Menschen in Amerika.

Doch Piketty trifft mit seinen Analysen nicht nur einen besonderen Nerv. Er stattete auch die linke Occupy-Bewegung erst mit ihrer Munition aus: Gemeinsam mit seinem Kollegen Emmanuel Saez von der Uni Berkeley stellte Piketty vor Jahren bereits ein umfangreiches Zahlenwerk zur Einkommensverteilung bei den Bestverdienern Amerikas zusammen. Den beiden Franzosen ist das Wissen zu verdanken, dass das oberste ein Prozent in den USA seit der Finanzkrise 95 Prozent des Wachstums einstrich.

Piketty erhält dabei in seiner Argumentation namhafte Unterstützung – etwa von Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der selbst seit langer Zeit die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich anprangert und als Kommentator der «New York Times» eine hohe meinungsbildende Kraft in den USA besitzt. Auch Nobelpreisträger Stiglitz tritt gerne öffentlich mit Piketty auf. Andere Fachleute, wie der ehemaliger stellvertretende US-Finanzminister und Berkeley-Ökonom Brad DeLong begünstigen Pikettys Aufstieg indirekt: Sie halten den konservativen Wirtschaftsexperten vor, dass ihre Kritik am Franzosen bislang überraschend schwach ausfällt.

Barack Obamas Chefökonom zweifelt an Pikettys Thesen

Doch wo viel Ruhm, ist auch viel Neid. Allmählich formieren sich die Kritiker. Einer der prominentesten von ihnen ist Jason Furman, oberster Wirtschaftsberater von Präsident Barack Obama. In Dublin hielt der Chefökonom der US-Regierung vergangene Woche eine Rede zum Thema Ungleichheit – und äusserte gleich mehrfach Zweifel an Pikettys Thesen.

So sei der starke Einkommenszuwachs des obersten ein Prozent in den USA von 1970 bis 2010 vor allem auf gestiegene Einkommen (zu 68 Prozent) und weniger auf höhere Kapitalerträge (32 Prozent) zurückzuführen. Damit scheint Furman Piketty mit dessen eigenen Zahlen zu widerlegen. Zudem sei keineswegs gesichert, dass Kapitalerträge, so wie Piketty behauptet, künftig stärker als die Wirtschaft wüchsen, sagte Furman. Das Wachstum sei abhängig von verschiedenen Parametern wie dem technologischen Wandel, der heute jedoch nicht vorhersehbar sei.

Furman ist dabei nicht der einzige Kritiker. Selbst einige sonst eher heterodoxe Ökonomen, denen Pikettys provokante Denke liegen sollte, fühlen sich nicht mit seiner Art und Weise wohl, mit der er argumentiert. Dazu gehören selbst Franzosen, die wie Piketty den Sozialisten nahe stehen. Doch für ihre Skepsis haben sie gute Gründe.

Lesen Sie mehr über die wachsende Kritik an dem 43-jährigen Popstar der Wirtschaftswissenschaften am Freitag auf Handelszeitung.ch.