Die Geldpolitik hat ihre eigene Ornithologie. Es gibt die Tauben: Sie sind für billiges Geld und tiefe Zinsen. Und es gibt die Falken: Sie sind für teures Geld und hohe Zinsen. Hyun Song Shin zählt zur zweiten Gattung.

Der koreanische Volkswirtschafter beobachtet die immer expansivere Politik der Notenbanken mit Argwohn. «Der Zustand der Weltwirtschaft wird dramatisiert», sagt er beim Treffen in seinem Büro bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), hoch über den Dächern von Basel. «Das Wachstum liegt gar nicht so weit vom langjährigen Durchschnitt entfernt.»

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Erst gingen die Leitzinsen global auf null

Shin wählt seine Worte mit Bedacht. Denn von seinem Arbeitgeber wird erwartet, dass er sich nicht in die inneren Angelegenheiten seiner Eigentümer einmischt, sprich die der Federal Reserve, der Europäischen Zentralbank und anderer Notenbanken. Zumindest nicht zu offensichtlich.

Dem Forschungschef der «Bank der Notenbanken» fällt dies nicht leicht, denn die Notenbanken haben den Finanzmarkt seit der Finanzkrise mit Geld geflutet. Erst gingen die Leitzinsen global auf null. Dann begannen die Quantitative-Easing-Programme, später kamen in Europa und Japan negative Leitzinsen dazu. Shin hält diese Politik für riskant: Ihre Risiken seien beträchtlich, ihr Nutzen nicht erwiesen.

«Man dachte immer, dass Geldpolitik wie ein Auto funktioniere», sagt er zurückblickend. «Die Notenbank drückt bei den Zinsen aufs Gas und die Konjunktur nimmt Fahrt auf.» In Wahrheit sei die geldpolitische Mechanik aber komplizierter. «Ob und wie sich ein monetärer Impuls auswirkt, hängt von vielen Details ab.»

Sich in diese Details zu verbeissen: Dies ist Shins Aufgabe bei der BIZ. Sein Team untersucht dazu etwa das Verhalten von Geschäftsbanken im Tiefzinsumfeld. Theoretisch müssten sie nach einer Zinssenkung mehr Kredite an Unternehmen vergeben, die investieren wollen. Passiert ist davon zuletzt aber wenig. Zwar sind die Zinsen, zu denen Firmen Geld aufnehmen können, in Europa gesunken – um gut 1 Prozent über die letzten zwei Jahre. Trotzdem gingen die Investitionen nur zaghaft hoch. Eine Erfahrung, die den Finanzspezialisten, der vor zwei Jahren von der Uni Princeton zur BIZ nach Basel wechselte, nachdenklich stimmt.

Bei den Banken stellt sich ein perverser Effekt ein

Laut Shin rührt die schleppende Investitionsbereitschaft von den falschen Anreizen für Banken. «Senkt eine Notenbank ihre Leitzinsen unter null, so schrumpft die Zinsmarge und das Kreditgeschäft wird weniger profitabel», sagt er. «So kann der perverse Effekt eintreten, dass ein geldpolitischer Impuls die Kreditvergabe bremst, statt sie anzutreiben.»

Allzu viel Mitleid hat der 57-jährige Ökonom allerdings nicht. Denn: Es sei der Fehler vieler Banken selbst, dass sie heute nicht aus dem Vollen schöpfen können. Viele Institute hätten zuletzt lieber Dividenden ausbezahlt, als Kapital aufzubauen. Dies räche sich nun. «Je besser eine Bank kapitalisiert ist, desto mehr Kredite kann sie vergeben», sagt Shin. «Viele Banken haben aber nicht genug Kapital, um die Wirtschaft zu unterstützen.»

Der ehemalige Oxford-Student weiss, wovon er spricht. Als Wissenschafter hat er über 70 Paper publiziert – über Spieltheorie, über das Bankgeschäft, über die Risiken im Finanzsystem. 2010 holte ihn der Präsident von Korea für ein Jahr zu sich: Shin sollte eine neue Finanzstabilitätspolitik für das Land entwerfen.

Rund um den Nullpunkt kommt es zu ungewissen Effekten

Dass eine fundamentale Grösse wie die Zinsen jemals unter null fallen können, glaubte lange Zeit niemand. Heute ist es aber Tatsache, dass sich nicht nur Staaten, sondern auch Unternehmen Geld zu Minuszinsen beschaffen können. Sonova, Henkel und Sanofi haben jüngst davon profitiert. Sie finanzierten so die Übernahme anderer Firmen. Experten sind jedoch unsicher, ob solche M&A-Transaktionen einen echten Nutzen bringen oder ob sie bloss die Firmengrösse aufblähen.

Shin zweifelt auch in einem weiteren Punkt. «Angenommen, eine Person hat im Hinblick auf die Pensionierung ein bestimmtes Sparziel, dann muss diese Person umso mehr Geld pro Jahr zur Seite legen, je tiefer die Renditen am Finanzmarkt fallen.» Steigt die Sparneigung bei den Konsumenten, dann leidet darunter aber der Konsum. Laut Shin ein weiterer möglicher Grund, warum sich Firmen immer noch zurückhalten.
Ob negative Zinsen unter dem Strich tatsächlich die Wirtschaftsaktivität hemmen, lässt Shin offen. Mehr empirische Forschung sei nötig, sagt er. «Doch der Zusammenhang ist plausibel.»

Hyun Song Shin: «Ebenso rasch, wie sie gestiegen sind, könnten die Anleihenpreise wieder fallen.»

In ihren Publikationen zur Weltwirtschaft mahnt die BIZ schon länger zur Vorsicht. Die Schulden seien hoch, die Produktivität niedrig, die Finanzmärkte instabil. Besser nicht noch mehr unkonventionelle Politik in den Cocktail mischen, so die unterschwellige Botschaft.

Beim Internationalen Währungsfonds in Washington war man lange optimistischer. Negative Leitzinsen würden insgesamt der Wirtschaft helfen, hiess es noch im April. Zuletzt krebste aber auch der IWF zurück. Die Negativzinspolitik stosse nun an Grenzen, schrieben dessen Forscher im August. Die mehr oder weniger explizite Forderung an EZB-Chef Mario Draghi: Bitte nicht noch tiefere Zinsen.

Bemerkenswert tolerant zeigt man sich jedoch gegenüber der Schweiz. Zur Schweizerischen Nationalbank meinte der IWF, sie könne notfalls ihre Leitzinsen auch noch tiefer ins Negative senken. Zurzeit liegen die Zinsen der SNB bei –0,75 Prozent. Das ist der weltweit tiefste Wert. Laut dem IWF hilft der Negativzins, den Druck auf den Franken abzufedern.

Auch bei der BIZ ist man gegenüber der SNB milder gestimmt. «Jetzt die Zinsen hochzuschrauben, ist als kleine und offene Volkswirtschaft ein riskantes Unterfangen», mahnt Shin. Als direkten Tipp an SNB-Chef Thomas Jordan will er die Aussage aber nicht verstanden wissen. Ratschläge zur Konjunkturpolitik erteilt Shin sowieso nur zurückhaltend. «Wenn sie einmal in Gang ist, speist sich die Konjunktur weitgehend von selbst», sagt der Ökonom. «Doch es ist nicht einfach, den richtigen Trigger zu finden.»

Die Blase bei den Staatsanleihen ist Anlass zur Sorge

Zwischen den Zeilen wird dennoch deutlich, wo die Reise seiner Ansicht nach hingehen soll. Staaten sollen den Fokus auf Stabilität legen – und die Finger lassen von Ausgabenprogrammen im grossen Stil. Solche Programme fordert derzeit etwa der IWF: Jetzt sei der Moment gekommen, um Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu tätigen. Staaten sollten die Gelegenheit ergreifen und Kredite zu Null- oder Negativzinsen aufnehmen.

Shin geht auf Distanz. «Wenn Investitionen die gesamtwirtschaftliche Produktivität fördern, ist dies natürlich eine gute Sache», sagt er. «Doch die Staaten sollten sich nicht darauf verlassen, dass die Finanzierungsbedingungen in zwei oder drei Jahrzehnten immer noch günstig sind.» Würden sich Länder nun stark verschulden, könnten steigende Zinsen sie dereinst in Bedrängnis bringen.

In der Schweiz rentieren zehnjährige Staatsanleihen derzeit mit –0,5 Prozent. In Deutschland mit 0,1 und in Spanien mit 1,1 Prozent. Entsprechend teuer sind die Anleihen an der Börse. Shin glaubt nicht, dass dafür bloss Fundamentalfaktoren verantwortlich sind. «Eine selbstverstärkende Dynamik treibt die Preise zusätzlich nach oben», sagt er.

Ein Grund für das Überschiessen seien die Zwänge, denen institutionelle Anleger unterworfen sind. Pensionskassen sähen sich derzeit dazu veranlasst, trotz Tiefzinsen noch mehr Geld in langfristige, sichere Staatsanleihen zu investieren. Dieser Trend könne sich bei einer wirtschaftlichen Normalisierung umkehren.

«Ebenso rasch, wie sie gestiegen sind, könnten die Anleihenpreise wieder fallen», sagt Shin mit ernster Miene. «Wenn hier Elemente einer Blase vorhanden sind, ist dies ein Anlass zu grosser Vorsicht.»