Wenige Tage nach dem Brexit-Referendum fragen sich alle, wo Grossbritannien dazugehören würde, wenn es nicht mehr Teil der EU wäre.

Das zeichnet sich noch nicht ab. Die Dynamik ist eine umgekehrte als bisher. Wenn früher über EU-Verträge mit nein abgestimmt wurde, dann hat man in Brüssel lange herumüberlegt, wie man dieses Ergebnis revidieren kann. Jetzt ist es umgekehrt: Brüssel will sehr schnell agieren. Aber die britische Politik sucht nach Auswegen, um diese Entscheidung zu umschiffen. Das könnte bis hin zum vollen Verbleib im Binnenmarkt gehen. Mit dem Unterschied, dass Grossbritannien am Entscheidungsprozess in der EU nicht mehr beteiligt wäre.

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Zu welchem Länderkreis in Europa wird Grossbritannien gehören, wenn der Ausstieg formell vollzogen wird?

Das wäre eine Aussenbeziehung der Europäischen Union, weil Grossbritannien kein Mitglied mehr wäre. Es ist dann die Frage, ob es in beiderseitigem Interesse ist, den freien Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren. Wenn ja, dann wohl nur unter den gleichen Bedingungen wie bisher. Die EU-27 haben keinen Grund gegenüber Grossbritannien nachzugeben.

Könnte hier die Schweiz Grossbritannien mit Rat und Tat zur Seite stehen?

Eine Achse Schweiz-Grossbritannien sehe ich nicht. Ausserdem werden die Verhandlungen mit der EU noch lange nicht beginnen. Erst wenn der Artikel 50 gezogen wird - und das ist die letzte Autonomie, die Grossbritannien jetzt noch hat - dauert es zwei Jahre, bis der Ausstiegs-Prozess erledigt ist. Und wenn kein Deal erreicht wird, ist Grossbritannien einfach nur draussen. Dann greifen die WTO-Regeln.

In der Schweiz wird immer wieder mit Blick auf die Bilateralen Verträge mit der EU argumentiert, dass die WTO Regeln bereits eine ausreichende Basis für den Freihandel wären. Stimmt das?

Die WTO-Regeln sind eine minimale Basis für die Handelsbeziehungen. Die Zölle sinken in dem Gefüge nachweislich und kontinuierlich. Industriegüter sind von der WTO abgesichert, Dienstleistungen allerdings nicht. Dafür gibt es keine ähnlichen Regeln. Die deutschen Autobauer beispielsweise wären gegen exorbitante Zölle abgesichert. Banken und Versicherungen hingegen kaum. Finanzdienstleister können sehr schnell und sehr einfach ihre Leistungen in den Euroraum verlegen und das macht sich bereits bemerkbar. Sie werden ihre Leistungen in die Eurozone verlagern, um sich abzusichern.

Wäre der Beitritt zur EFTA für Grossbritannien ein Ausweg?

Der weitere Zugang zum EU-Binnenmerkt, etwa über eine EFTA-Beteiligung, könnte ein mögliches Verhandlungsziel sein. Aber auch dafür müsste die Personenfreizügigkeit akzeptiert werden, was in der britischen Kampagne explizit abgelehnt wurde. Alle britischen Ziele zusammen sind nicht zu vereinbaren und es ist mehr als unwahrscheinlich, dass für Grossbritannien Ausnahmen gemacht werden.

Die Briten wollen den freien Zugang zum Binnenmarkt behalten, aber ohne Personenfreizügigkeit. Ist das realistisch?

Das wird nicht möglich sein. Man kann nicht jedem Land Sonderrechte einräumen, ob das die Schweiz oder Grossbritannien ist. Der freie Binnenmarktzugang kommt unumstösslich im Paket mit der Personenfreizügigkeit. Wer diese Regeln nicht akzeptiert, der hat auch nicht den freien Marktzugang.

Warum soll das Grossbritannien nicht gelingen?

Weil man dabei vergisst, dass es sich nicht um ein Verhältnis 1:1 handelt. Hier Grossbritannien auf der einen Seite, dort der Rest. Der Rest besteht aus 27 Ländern. Eine Verschlechterung der Beziehungen bedeutet eine Verschlechterung Grossbritanniens gegenüber 27 Ländern, aus EU-27 Sicht verschlechtern sich die Beziehungen nur gegenüber einem Land. Hier wird deutlich, wer letztendlich von wem mehr abhängig ist.

Liegt es nicht auch im ökonomischen Interesse der EU-Länder, die Beziehungen zu Grossbritannien zu stabilisieren?

Ja, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Sehen wir uns die Handelsbeziehungen an: Deutschland beispielsweise exportiert Autos und Maschinen nach Grossbritannien. Solche Güter sind über die WTO-Regeln abgesichert. Ein paar Prozent mehr beim Zoll machen keinen grossen Unterschied. Währungsschwankungen haben da jetzt schon einen viel grösseren Einfluss. Im umgekehrten Fall exportiert Grossbritannien hauptsächlich Öl und Dienstleistungen. Öl kann sehr einfach von woanders her ersetzt werden. Und Dienstleistungen können sehr einfach in die Eurozone verlegt werden.

Warum schätzen Sie die Position Grossbritanniens für so schwach ein?

Grossbritannien hat effektiv gesagt, dass es aus den gemeinschaftlichen Strukturen der Kompromiss- und Entschiedungsfindung austreten will. Warum sollten nun die britischen Interessen in der EU plötzlich mehr Gewicht haben? Das ist utopisch.

Der Schweiz ist es ja auch gelungen, Vorteile für sich mit der EU zu verhandeln.

Das ist eine ganz andere Ausgangslage. Die Schweiz war nie Mitglied der EU. Grossbritannien war das 43 Jahre lang. Und aus EU-Sicht ist das ein Präzedenzfall, sie kann allein schon deshalb nicht nachgeben.

Um einen Massenexodus aus der EU-Mitgliedschaft zu verhindern?

Es stimmt, dass die Unzufriedenheit in den Mitgliedsländern wächst. Das wird oft zu Unrecht plump an der Personenfreizügigkeit festgemacht. Das Problem ist aber komplexer. Wenn es zu grösseren Bewegungen gekommen ist, dann liegt das sicher auch an den ökonomischen Ungleichheiten innerhalb der EU. Wir haben auch Probleme bei Integrationsfragen, Infrastruktur oder öffentlichen Guetern. Es gibt aber genug Möglichkeiten, das zu lösen, ohne die EU Mitgliedschaft oder die Personenfreizügigkeit per se in Frage stellen zu müssen.

Mehr denn je zeigt sich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. In welche Richtung würde sich die EU nach einem Brexit entwickeln?

Europa teilt sich grob gesagt in die Eurozone, den Schengen Raum und einzelne Mitgliedstaaten, die bei der einen oder anderen Vereinbarung mitmachen. Ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten gibt es schon seit Jahren, wurde aber nur noch nicht institutionalisiert. Dass immer mehr Länder hinzukamen, macht die Vereinigung der Integrationsinteressen schwieriger. Es gibt einen Kern und eine zweite, losere Ebene.

Was heisst das genau?

Die unterschiedlichen Ebenen beziehungsweise Räume, die ich vorher erwähnte, müssen unter einen Hut gebracht werden. Sonst wird die EU unregierbar. Ein Europa à la carte ist schlichtweg nicht machbar. Im Moment haben wir vielmehr ein Zufallsprodukt, wo die Briten einen anderen Status haben als zum Beispiel die Skandinavier. Es geht jetzt darum, die Mitgliedschaftskriterien klarer zu definieren. Es ist nicht praktikabel, dass so viele Länder einen eigenen Status und unterschiedliche Positionen in der Gemeinschaft haben.

Was bildet den Kern der EU?

Die Eurozone. Diese hat immer noch Probleme, die nicht gelöst sind. Das wäre für die Verhandlungen innerhalb der EU der Ausgangspunkt, den man lösen muss. Anschliessend kommen die Länder ausserhalb der Eurozone, wo definiert werden muss, wie diese zum Kern stehen. Und wie die Bedingungen aussehen können, dass sie dazustossen können. Die Reformen der Eurozone wurden leider verschleppt.

Wird die EU sich jetzt von Grund auf reformieren?

Die EU muss sich ändern aber das ist im Moment gar nicht so sehr das dringlichste Thema. Das Problem liegt vor allem innerhalb Grossbritanniens, das eine veritable Verfassungskrise hat. Keiner weiss, wofür verhandelt werden soll. Die einen sagen, wir wollen im Binnenmarkt bleiben, die anderen wollen komplett raus. Es gibt ein Machtvakuum, wer das Verhandlungsziel für Grossbritannien definieren und die Verhandlungen überhaupt führen soll. Zum Zweiten ist die Verfassungskrise auch mit Nordirland und Schottland verbunden. Die Schotten haben mit 62 Prozent für den  Verbleib in der EU gestimmt. Sie suchen nun Wege, aus dem Dilemma heraus zu kommen. Und Nordirland ist auch ein komplexer Fall, weil es um eine mögliche EU Aussengrenze zwischen Irland und Nordirland geht.

Wie lange wird diese Unsicherheit anhalten?

Ewig kann das nicht gehen. Banken ziehen jetzt schon die Konsequenzen und planen Verlagerungen in die Eurozone. Unternehmen verzögern ihre Investitionen oder überlegen sich, woanders zu investieren. Je länger die Unsicherheit anhält, desto mehr ist das Gift für die Wirtschaft.

Nach all dem fragt man sich, worüber die Briten eigentlich abgestimmt haben. Über die EU, die Zuwanderung oder sogar gegen den Euro?

Die Abstimmung war nicht über die EU im engeren Sinne. Die meist gegoogelten Fragen nach dem Referendum waren zum Thema „Was ist die EU eigentlich?“. Das ist ein typischer Referendumseffekt. In repräsentativen Demokratien, wo das Parlament als Souverän definiert ist, war das eine Abstimmung über alles Mögliche, nur nicht über die eigentliche Frage: die EU und den Verbleib von Grossbritannien in der EU.

Sondern worüber?

Das generelle Einwanderungsthema wurde mit der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU vermischt. Es wurde argumentiert, dass all die Zuwanderer die Arbeitsplätze gefährden. Dann wurde argumentiert, dass Grossbritannien als Beitrag 350 Millionen Pfund pro Monat nach Brüssel schicken würde. Die EU-Gegner behaupteten, das angebliche Geld könnte man sinnvoller in die Gesundheitsversorgung stecken. Jetzt wird klar, dass das schlichtweg Lügen waren. Die Kampagnenführer ruderten zurück und sagten, dass weder die Zahl stimmen würde noch, dass eventuell gespartes Geld notwendigerweise in den Gesundheitsdienst fliessen würde.

 

* Henning Meyer ist Experte in Fragen Europäischen Union und der Politischen Ökonomie. Seit 2010 forscht Meyer an der London School of Economics im Bereich Public Policy. Heute ist er in Globalsierungsfragen beratend tätig und ist Herausgeber der Plattform New Global Strategy.