Hat die Wirtschaft aus dem Seveso-Fall von 1976 etwas gelernt?

Jörg Sambeth: Ja, ganz sicher. Vor allem auf dem Gebiet der technischen Sicherheit und des Umweltschutzes. Für die ganze Industrie und insbesondere für die chemische Industrie war Seveso ein Fanal, weitaus mehr als Bhopal; so gibt es seither beispielsweise «Seveso-Richtlinien» für den Umgang mit gefährlichen Produkten.

Aber Bhopal hatte für die Bevölkerung doch viel schrecklichere Auswirkungen.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Sambeth: Sicher, sofern man das überhaupt gegeneinander aufrechnen kann. Aber Bhopal war aus europäischer Sicht sehr weit entfernt, Seveso dagegen liegt in unmittelbarer Nachbarschaft, den Unfall und die hilflosen Vertuschungsversuche hatte ein Schweizer Unternehmen, die Hoffmann-La Roche, zu verantworten.

Technische Pannen kann es immer geben, aber das Problem ist doch ein menschliches: Sicherheitsvorkehrungen werden umgangen, fallen Sparübungen zum Opfer. Und danach wird oft versucht, den Vorfall zu vertuschen wie auch bei «Schweizerhalle».

Sambeth: Ja natürlich, und das ist das Schlimme: Gerade aus diesen Gründen kann es wieder zu ähnlichen Katastrophen kommen, und es kann jederzeit passieren.

Geht man auch heute noch stümperhaft mit Störfällen um, oder hat man auf der menschlichen Ebene auch etwas gelernt?

Sambeth: Heute gibt es Anleitungen zur Bewältigung solcher Krisen, wenn auch nicht überall. Aber das Instrumentarium ist zumindest vorhanden. Ob es genutzt wird, ist eine andere Frage. In Seveso gab es solcherlei nicht es herrschte das absolute Chaos.

Bis in die Konzernspitze?

Sambeth: Auch die Konzernspitze war hoffnungslos überfordert. Es herrschte Angst vor den drohenden Folgen und dem abwesenden Chef. Und so gingen alle auf Tauchstation.

Heute verfügt zumindest ein Teil der Unternehmen über Krisenhandbücher.

Sambeth: Ich bin kein Anhänger von Krisenhandbüchern. Die Krisenpläne sollten auf höchstens zwei Seiten Platz haben.

Wird heute verantwortungsbewusster kommuniziert?

Sambeth: Generell gesprochen ja. In einer grossen chemischen Firma sollte so etwas wie in Seveso heute eigentlich nicht mehr passieren.

Was hat sich denn geändert?

Sambeth: Wenn es heute erste Anzeichen dafür gibt, dass giftige Substanzen ausgetreten sind, würde man sofort handeln.

Und bereits dann informieren, wenn die Auswirkungen noch unklar sind?

Sambeth: Ja. Allerdings gibt es leider auch Gegenbeispiele. Bei dem Unfall im Werk von Hoechst vor ein paar Jahren, als ein Kessel explodierte und ein Produkt austrat, wurden die Karrosserien von Autos zerstört. Da dauerte es auch eine Weile, bis Hoechst gesagt hat, was passiert war. Und Hoffmann-La Roche konnte als Teil eines Vitamin-Skandals identifiziert werden.

Was ist das Wichtigste bei der Krisenkommunikation?

Sambeth: Von vornherein lückenlos, ehrlich, geradeaus. Und das nach innen und nach aussen. Denn Fehler werden verziehen, Vertuschungsaktionen nicht.

Was hätten Sie aus heutiger Sicht damals anders machen sollen?

Sambeth: Ich hätte durchsetzen sollen, dass sofort informiert wird. Und zwar von der Geschäftsleitung von Hoffmann-La Roche. Es gibt schliesslich auch eine Loyalität gegenüber der Öffentlichkeit und den Opfern. Weil die Geschäftsleitung nicht informierte, tat ich es selbst, als ich die Zustände vor Ort sah. Heute sage ich, ich hätte nicht so lange warten dürfen.

Sie waren also zu loyal und wären heute nicht mehr so loyal.

Sambeth: Ganz sicher nicht. Aber das ist leicht gesagt.

Woran mangelt es den Managern auch heute noch besonders?

Sambeth: Manager müssten auch Menschen sein. Das heisst: Sie sollten moralisches Verhalten von der Wiege auf mitbekommen haben. Es geht um Charakterfragen. Verheerend sind etwa kopierende Söhne von Industriefürsten, Gernegrosse, die um jeden Preis nach oben wollen, Profilneurotiker.

Wären Ethik-Kurse eine Hilfe?

Sambeth: Ethik allein genügt nicht, wenn sie nur in Vorlesungen oder Kursen angelernt wurde. Ich sage ja nicht, Schlauheit und Pragmatismus seien zu verbieten. Aber unzulässig sind Ausreden à la «das habe ich nicht gewusst, das wollte ich nicht».

Welche Führungsprinzipien müssten stärker beachtet werden?

Sambeth: Teamarbeit aber nicht nur, wenn es gerade «passt»; ein Vorbild für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein, und vor allem: In jeder Situation glaubwürdig bleiben. Dabei ist man einzig seinem Gewissen gegenüber verantwortlich. Halten Sie sich unbedingt ans Bauchgefühl, behalten Sie die Füsse auf dem Boden und bewahren Sie Menschlichkeit. Lassen Sie sich den Sinn für das Machbare nicht durch Illusionen betäuben.

Ist in den Konzernspitzen seither eine Verbesserung feststellbar?

Sambeth: Ganz sicher. Aber es hängt an den Menschen, die die Prinzipien und Methoden umsetzen müssen. Und wenn sie aus irgendwelchen Unzulänglichkeiten heraus Ausflüchte suchen oder Umgehungsversuche unternehmen, kann es wieder genauso schief gehen.

Literatur: «Zwischenfall in Seveso», neu erschienener Tatsachenroman des Interviewpartners Jörg Sambeth; Unionsverlag 2004, Zürich (320 Seiten)



Zur Person

Name: Jörg Sambeth

Geboren: 18. März 1932

Zivilstand: Verheiratet, zwei Kinder

Wohnort: Cabris bei Grasse (F) und Zug

Funktion: (bis 1984 technischer Direktor der Givaudan-Gruppe)