Draussen vor der Fabrik ist es still, sehr still. Weisse Windräder drehen sich langsam im kalten Wind. Ab und zu blöckt ein Schaf. Das Meer rauscht leise. Sonst ist es still in Flimby, einem Ort an der Grenze zu Schottland, irgendwo im Nirgendwo.

In der Fabrik herrscht hingegen Betriebsamkeit. Maschinen rattern, ein lautes Summen und Dröhnen erfüllt die graue Halle. Es riecht nach Klebstoff und Leder. Rund 240 Mitarbeiter stellen an diesem Ort New-Balance-Turnschuhe her. Im Stehen stanzen sie Stücke aus Leder aus, nähen sie zusammen und kleben eine Sohle dran.

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Hier, in der Grafschaft Cumbria, gab es früher viele Bekleidungsunternehmen, die Gegend im Nordwesten Englands war einmal eines der Zentren der britischen Textilindustrie. Doch Anfang der 80er-Jahre wanderte die Industrie nach Asien ab, Tausende Arbeitsplätze gingen in Folge dessen verloren.

Klum und Rihanna tragen New Balance

New Balance dagegen kam – und blieb. Seit 1982 produziert der Sportartikelhersteller in Flimby. Die Fabrik ist einer von sechs Standorten weltweit. Das Unternehmen gehört einem Amerikaner, der sich entschied, trotz des Preisnachteils in Grossbritannien fertigen zu lassen.

New Balance, die Marke der Sternchen und Stars – nicht nur amerikanische Schauspielerinnen, sondern auch Heidi Klum und Sängerin Rihanna tragen New Balance – ist stolz darauf, in Grossbritannien zu produzieren. Mehrere Dutzend Nähmaschinen tun in Flimby den ganzen Tag nichts anderes, als britische Flaggen und «Made in England» auf Laschen zu tackern, die später an prominenter Stelle die Schuhe zieren.

New Balance ist damit ein Beispiel dafür, wie die Textilindustrie in hochpreisigen Ländern wie dem Vereinigten Königreich überleben kann: mit Produkten am oberen Ende der Preisklasse und einem Eigentümer, dem das langfristige Ansehen der Firma wichtiger ist als kurzfristiger Gewinn.

Der Konzern bleibt von Skandalen verschont

Das Unternehmen bleibt gleichzeitig vor Skandalen verschont wie dem, der den Wettbewerbern zuletzt negative Schlagzeilen in China bescherte. Mitarbeiter des Auftragsproduzenten Yue Yuen gingen in Dongguan im Süden des Landes tagelang auf die Strasse, um gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren.

Die Mitarbeiter von New Balance haben hingegen keinen Grund zu protestieren. Sie sind froh, dass sie Arbeit haben und dass ihre Fabrik noch da ist. Viele von ihnen kommen ursprünglich vom anderen Ufer der Meerenge, aus Schottland. Auch dort sind Jobs rar. «Ich mag meine Arbeit», sagt Lynsey McGregor, eine junge Frau, die in der Verpackungsabteilung arbeitet.

Seit sechs Jahren ist sie bei New Balance, sie prüft die Schuhe, bevor diese in den Versand gehen, und bessert kleine Fehler aus. Vor ihr liegen deshalb Pinsel, Klebestift und eine Bürste aus Pferdehaar, mit denen die 33-Jährige den Schuhen den letzten Schliff gibt. «Es gibt nicht mehr so viele Betriebe hier, die in Handarbeit Textilien machen», sagt sie.

Die Ware ist in den USA und Japan heiss begehrt

Die Marke New Balance wurde vor einigen Jahren «wiederentdeckt» und geniesst nun in Ländern wie den USA oder Japan Kultstatus. «Wir haben regelmässig Besuchergruppen aus Japan hier», sagt Bill Mallinson, der als Vertriebsmanager bei New Balance arbeitet. «Die Leute sind total verrückt nach den Schuhen», sagt er.

Der Werbeslogan «No Hype, No Trash, No Egos» – übersetzt etwa «Kein Hype, Kein Müll, Keine Egozentriker» – komme bei Kunden aus der ganzen Welt an. Die Pappkartons, die im Verladezentrum bei Bill Mallinson eintreffen, werden von Southampton aus verschifft oder als Luftfracht ab Manchester verschickt.

80 Prozent der Schuhe, die New Balance in Flimby produziert, gehen in den Export. «Gerade haben wir wieder 5000 Paar nach Japan verschifft», sagt Mallinson, «die nächste Charge geht nach China, das ist einfach grossartig.» Es verschafft dem früheren Soldaten grosse Genugtuung, dass seine Schuhe nach China exportiert werden.

Das Reich der Mitte ist eines der Länder, das die meisten Briten – wie auch die Amerikaner – für den Todbringer ihrer heimischen Industrie halten. «Wir exportieren nach Brasilien, nach Israel und nach China», sagt Mallinson. Rund eine Million Paar Schuhe spuckt die Fabrik in Flimby im Jahr aus.

Grossbritanniens Exporte steigen endlich wieder

Im Verhältnis zu den rund zehn Milliarden Paar Schuhen, die China nach Angaben des Branchenverbandes Clia im Jahr 2012 exportierte, ist diese Zahl zwar verschwindend gering. Doch sie ist ein Baustein der aktuellen Entwicklung auf der Insel. Seit Jahren lag der Wert der Exporte Grossbritanniens unter dem der Importe.

Doch zuletzt verringerte sich das Handelsdefizit, von 1,7 Milliarden Pfund im März auf 1,3 Milliarden Pfund im April, umgerechnet rund 1,6 Milliarden Euro. Dem nationalen Statistikamt ONS zufolge stiegen die Exporte um 4,9 Prozent, während die Importe um 2,8 Prozent zulegten.

«Wir sehen endlich ein paar Zeichen, die in Richtung rebalancing zeigen», sagt Lee Hopley, Chefökonomin bei EEF, der Vereinigung des verarbeitenden Gewerbes in Grossbritannien. Mit «rebalancing» ist in Grossbritannien der Prozess der wirtschaftlichen Ausbalancierung gemeint, weg vom starken Fokus auf die Finanz- und Bankwirtschaft in London, hin zu mehr Produktion und Güterexport.

«Die Hersteller sind deutlich optimistischer, ihre Bestellungen wachsen und die Exporte sind stark», erklärt Hopley. Bis 2020, so schätzt der Verband, benötigt das verarbeitende Gewerbe denn auch eine Million neue Arbeitskräfte. Kampagnen wie «Let´s make it here», übersetzt etwa «Lasst uns hier produzieren», sollen britische Unternehmen davon überzeugen, mehr in Grossbritannien und weniger im Ausland zu fertigen. «Es ist eine aufregende Zeit, um in der Mode- und Textilindustrie in Grossbritannien zu arbeiten», sagt etwa die britische Modedesignerin Betty Jackson.

Nur die teuren Schuhe werden vor Ort gefertigt

Trotz des Fokus auf «Made in England» wird bei New Balance längst nicht alles in Flimby hergestellt. Schuhe aus dem günstigeren Segment kommen aus den US-Fabriken, T-Shirts und andere Sportkleidung von Auftragsproduzenten in Asien. New Balance ist wie andere internationale Firmen an die globale Lieferkette angeschlossen:

Während das Leder vor allem aus Europa, aus Polen, Portugal und Schottland, kommt, stammen die Sohlen und die Obermaterialien teilweise aus Asien, aus China und aus Vietnam. «Es ist eine Sache der Menge», sagt Fabrikdirektor Andy Okolowicz, «wir müssen diese Teile dort produzieren lassen, alles andere wäre wirtschaftlich nicht darstellbar.»

Die lokale Fertigung vor Ort macht für das Unternehmen ohnehin nur im oberen Preissegment Sinn, also bei Schuhen, die für 100 Pfund, rund 120 Euro, und mehr verkauft werden. «Wir können nicht alle Schuhe hier herstellen», sagt Fabrikleiter Okolowicz. «Das, was hier produziert wird, ist am oberen Ende der Preisklasse angesiedelt.»

In Deutschland bleibt bislang nur die Nische

Seine Kunden seien mit der Marke vertraut und ihr gegenüber sehr loyal eingestellt. Das belegen auch die Zahlen: So wuchs das Segment «Lifestyle» im vergangenen Jahr um 24 Prozent, in diesem Jahr legte es bislang um zehn Prozent zu. Der Patriotismus-Faktor wirkt offenbar. 72 Prozent der Briten bevorzugen einer YouGov-Umfrage zufolge in Grossbritannien gefertigte Produkte.

«Die Marke ist jünger geworden, wir werden beliebter», sagt Okolowicz. Seit 1982 habe es keine Entlassungen und keine Kurzarbeit in Flimby gegeben. Der Fabrikleiter ist stolz, ganz offensichtlich. Sein Unternehmen habe eine eigene Identität, meint der Manager. Es gehe nicht darum, eine andere Marke zu imitieren oder stark zu wachsen. «Uns geht es nicht um Grösse.»

In Deutschland fristet die Marke im Vergleich zu den grossen Herstellern allerdings noch ein Nischendasein. «New Balance ist eine bedeutende Traditionsmarke», sagt Klaus Jost, Geschäftsführer von Europas grösstem Sportfachhändlerverbund Intersport. «In Deutschland besitzt sie jedoch noch lange nicht die Bedeutung, die sie in Nordamerika hat.»

Auf der Liste der 50 bedeutendsten Zulieferer von Intersport findet sich der Name von New Balance nicht. Die Liste gilt als wichtige Referenzgrösse im Sportartikelmarkt. Das liegt allerdings auch daran, dass New Balance im Gegensatz zu Adidas, Nike und Puma nicht als Unternehmen wahrgenommen wird, das das ganze Sortiment an Sportartikeln anbietet. «Die DNA von New Balance liegt im Laufsport», sagt Klaus Jost. In dieser Nische ist New Balance besonders stark, die Marke gehört bei Intersport zu den Top 10 der Laufschuhmarken.

Textilbranche entdeckt Europa neu

Trotz der wachsenden Nachfrage nach New Balance glaubt Andy Okolowicz nicht, dass sich an der Produktion in Flimby viel ändern wird. Während Massenhersteller wie Nike oder Adidas gezwungen sind, auf steigende Löhne in Ländern wie China zu reagieren, bleibt sein Unternehmen, wo es ist.

Der Branchenverband der Schuhindustrie in Asien, die «Asia Footwear Association», rechnet damit, dass ein Grossteil der Hersteller in den chinesischen Küstenregionen in den kommenden fünf bis zehn Jahren in Länder mit geringeren Arbeitskosten abwandert, nach Vietnam, Laos und Indonesien. Rund 19 Millionen Arbeiter sind bedroht.

«Diese Probleme haben wir nicht», kann Okolowicz sagen. Er glaubt deshalb, dass noch mehr britische Hersteller ihre Produktion zurück ins Heimatland verlegen werden. «Wir werden eine kontinuierliche Rückkehr sehen, zumindest in einigen Landesteilen», erwartet er.

Das gilt auch für seine Wettbewerber. Die Sportartikelindustrie versucht schon länger, die Produktion näher an ihre Absatzmärkte zu holen, also verstärkt auch wieder in Europa zu produzieren. Das hat den Vorteil, dass sie schneller auf modische Trends reagieren können.

Die alten Zeiten kehren nicht zurück

Adidas lässt deshalb bereits einen grossen Teil der Mode-Kollektion in der Türkei fertigen und vertreibt daneben – wie Nike – gestrickte Schuhe, die zu einem grossen Teil von Maschinen gefertigt werde können. Diese Fertigungen könnten in Zukunft auch direkt neben einem Zentrallager in Europa aufgebaut werden.

Andy Okolowicz macht sich dennoch keine Illusionen. Er weiss, dass die britische Textilwirtschaft nie wieder so viele Mitarbeiter beschäftigen wird wie noch in den 80-ern, als über 3000 Menschen in den Schuhfabriken der Region arbeiteten, bei Bata in Maryport oder Millers in Cockermouth. Dafür sei der Kostendruck zu gross.

Doch Pläne wie die, den Hafen in Workington auszubauen, so dass Containerschiffe aus Rotterdam hier anlegen können, seien ein klares Zeichen dafür, dass sich die Region wieder aufrappelt. «Die Industrie wird zwar nicht riesig werden, aber sie wird auf keinen Fall weiter schrumpfen», prophezeit er. Es bleibt also womöglich auch draussen nicht ganz so still.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt».