Ein Manager stürzt sich im Anschluss an eine Sitzung aus dem fünften Stock des Firmengebäudes. Alle sind schockiert. Die Chefin muss hospitalisiert werden. Ein nicht vorhersehbares Ereignis? Nicht unbedingt. Zumindest die Frau des Selbstmörders hat bei ihrem Mann zunehmende Stresssymptome beobachtet. Wie sie später erklärte, hatte er geglaubt, ständig kontrolliert und eingestuft zu werden und sich keine Fehler erlauben zu dürfen. In den Wochen vor dem Suizid ist er immer später nach Hause gekommen, um sich gleich wieder an die Arbeit zu setzen. Schliesslich habe er 8 kg abgenommen. Am Morgen vor dem Sprung in die Leere wollte seine Frau ihn zum Arzt mitnehmen. Er verweigerte dies mit dem Hinweis auf eine wichtige Sitzung. Bei der ging es um einen 18-monatigen Auslandaufenthalt, den er nicht wagte abzulehnen. Aber er wollte auch seine Familie nicht so lange alleine lassen.

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Fiktion? Nein. Das Drama ereignete sich am 20. Oktober letzten Jahres im Technozenter Guyancourt des französischen Autobauers Renault. Eine typisch französische Tragödie? Auch nicht. Im August 2006 beging ein 47-jähriger Investment Banker in einem Besprechungszimmer im Üetlihof-Gebäude der Credit Suisse in Zürich kurz nach seiner Entlassung Selbstmord.

Mit jährlich 1300 bis 1400 Selbstmorden weist die Schweiz im europäischen Vergleich eine überdurchschnittlich hohe Suizidrate auf. Nur Russland, Ungarn, Slowenien, Finnland, Kroatien, Belgien und Österreich liegen aufgrund einer Erhebung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) aus dem Jahr 2005 höher.

Alarmzeichen per Mail

Doch warum töten sich Menschen reihenweise selbst in einem Land, in dem die Lebensqualität einen positiven Spitzenplatz belegt, in dem politische und religiöse Toleranz gelebt und individuelle Freiheiten weitgehend gewährt werden? In einem Land, in dem die Löhne hoch sind und fast Vollbeschäftigung herrscht? Kommen die Schweizer mit ihrem Glück einfach nicht zurecht? Das Sorgenbarometer, das im Auftrag der Credit Suisse jährlich erhoben wird, lässt letztere Vermutung plausibel erscheinen. 2006 gaben 66% der Befragten an, ihre grösste Sorge sei der Arbeitsplatzverlust.

Tatsächlich ist es in der Schweiz mit dem Kündigungsschutz nicht weit her. Doch geschürt wird die Angst wohl eher durch den steigenden Druck am Arbeitsplatz und – dies gilt auch für die höheren Einkommen – die steigenden Erwartungen im privaten Bereich. Arbeitsplatzverlust kann den Zusammenbruch der gesamten Existenz bedeuten, weiss der in Zürich tätige Outplacementberater Toni Nadig. In seiner Praxis berät und betreut Nadig immer wieder Fälle von Personen, die mit der Stelle auch gleich den Halt im Leben verloren haben. Suizidgedanken solcher Menschen sind Nadig vertraut.

Doch in die Lage zu geraten, nicht mehr weiter zu können, widerfährt durchaus auch solchen, die ihre Stelle eigentlich fest im Griff haben und bei denen man keinerlei Probleme vermuten würde. Auch solche Fälle kennt Nadig, und er weiss, dass es durchaus Alarmzeichen gibt. «Wenn etwa jemand seine Mitarbeiter mit

E-Mails bombardiert, in denen er einen wahren Pendenzenberg auflistet.» Auch der Renault-Mitarbeiter hat sich so bemerkbar gemacht: Kaum ein Wochenende verging, ohne dass er seine Kollegen behelligte. Demonstrativer Arbeitseifer, über den sich die in ihrer Sonntagsruhe gestörten Kolleginnen und Kollegen geärgert haben.

Der Tropfen und das Fass

Dass jemand am Arbeitsplatz offen von Suizid spricht, ist eher selten. Stefan Boëthius, Direktor von ICAS, einer international tätigen Beraterfirma, die sozusagen als dargebotene Hand die vielfältigen Probleme von Mitarbeitern entgegennimmt und zu helfen versucht, war erst einmal mit einem Suizidfall konfrontiert. Auch Peter Sumpf von der im selben Gebiet tätigen Beraterfirma Movis spricht von Suizid im konkreten Zusammenhang mit Arbeitsumfeldern von Randerscheinungen.

Boëthius und Sumpf betonen überdies, dass Selbstmorde oder Selbstmordversuche stets vielfältige Gründe hätten. Das unterstreicht auch Toni Nadig. «Ich spreche immer von einem Fass, das durch einen letzten Tropfen zum Überlaufen gebracht wird», gibt der Berater, der selbst sechseinhalb Jahre als klinischer und wissenschaftlicher Assistent in der Neuropsychologie der Neurologischen Universitätsklinik Zürich gearbeitet hat, zu verstehen. «Wer beispielsweise nur die Stelle verliert, findet innert nützlicher Frist erneut eine. Wer dazu aber noch weitere Probleme, seien es gesundheitliche, familiäre oder finanzielle, hat, bei dem kann das Fass rasch voll werden», erklärt er – und da genügt wenig, um die Katastrophe herbeizuführen.

Der Druck aber entsteht nach Ansicht von Nadig nicht mehr allein familien- oder firmenintern. Mit der Diskussion um Rentenschwindler und IV-Revision sind nicht nur die Möglichkeiten geschrumpft, präventiv Hilfe zu beanspruchen. Auch der soziale Druck in einer Gesellschaft, in der ein Herzinfarkt durch Überlastung eher als Prädikat heroischer Hingabe denn als Selbstmissbrauch betrachtet wird, ist gestiegen.

Keine Zeit verlieren

Direkte Signale, die auf die Katastrophe hindeuten, wird man also kaum empfangen, glauben auch Boëthius und Sumpf. Beide empfehlen deshalb, der Sache sofort auf den Grund zu gehen, wenn ein «Ich-kann-nicht-mehr» oder «Es-wäre-mir-egal-wenn …» fällt. Den Grund, weshalb die vielen Selbstmorde in der Schweiz gerade nicht am Arbeitsplatz ausgeführt werden, sieht Boëthius darin, dass das Büro wenig Gelegenheit wie Möglichkeit dazu bietet. Im Hinblick auf die gängisten Selbstmordmethoden – bei den Männern Erhängen und Erschiessen, bei den Frauen Vergiften, gefolgt von Erhängen, Ertränken und Herunterstürzen – müsste man wohl noch in Betracht ziehen, dass Selbstmord eine private Entscheidung ist und unter Umständen auch einen privaten Rahmen verlangt.

Doch selbst wenn der Suizid nicht in unmittelbarer Arbeitsumgebung geschieht, Kolleginnen und Kollegen sind auf jeden Fall betroffen. «Schuldgefühle werden aufkommen», meinen Boëthius und Sumpf gleichermassen. Sie zu tabuisieren, sei falsch, und allzu vorschnell den Satz auszusprechen «Du kannst ja gar nichts dafür», halten die Berater für kontraproduktiv.

Die Witwe des französischen Renault-Mitarbeiters hat den Grund für den Selbstmord klar im Arbeitsumfeld ihres Mannes geortet, und indirekt hat Renault seine Verantwortung für den Fall akzeptiert. Selbstmord als Arbeitsunfall? «Stress ist für mich allgemein Belastung. Mobbing und Burnout sind berufsbezogen», meint Toni Nadig. Insofern kann die Frage doch teilweise mit Ja beantwortet werden.

Im Fall des französischen Managers hat die Krankenversicherung übrigens gezögert, von einem Arbeitsunfall auszugehen – und nicht gezahlt. Und auch in der Schweiz muss die Unfallversicherung bei einem Suizid oder Suizidversuch nur dann zahlen, wenn der Selbstmörder vollständig urteilsunfähig war. Dies hat das Eidgenössische Versicherungsgericht 2003 entschieden. Erstattet werden nur die Bestattungskosten.

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Heidi Aeschlimann, Psychotherapeutin SBAP im «Carelink»-Notfall-Team: «Oft verschenken Gefährdete persönliche Dinge»

Gibt es sichere Anzeichen für einen sich abzeichnenden Suizid?

Heidi Aeschlimann: Rückzugsverhalten, emotionale Teilnahmslosigkeit, Abnahme der Leistungsfähigkeit, Apathie, besondere Reizbarkeit, aber auch ausserordentliche Ruhe können Warnsignale sein. Hin und wieder verschenken Suizidgefährdete auch persönliche Dinge.

Was empfehlen Sie?

Aeschlimann: Wenn Sie sich um einen Menschen sorgen, trauen Sie Ihrem Instinkt. Fragen Sie nach und hören Sie aufmerksam zu. Zeigen Sie Mitgefühl und ermutigen Sie ihn, Hilfe zu suchen. Menschen, die Suizid begehen wollen, sehen oft keine Perspektive mehr und sind isoliert. In jedem Betrieb sollten die Adressen von Hilfsorganisationen leicht zugänglich sein. Aber auch Aufklärung und Prävention in der Bevölkerung tun Not. Es ist an der Zeit, dass sich der Bund da engagiert – ähnlich wie in der Aids-Prävention.

Nach dem Suizid eines Kollegen fühlen sich viele schuldig. Wieso?

Aeschlimann: Wir erleben eine grosse Verunsicherung, fühlen uns hilflos und haben das Gefühl, versagt zu haben. Unsere Sicht der Welt gerät aus den Fugen. Weitere mögliche Reaktionen sind Reizbarkeit oder körperliche Reaktionen wie Schlafstörungen, Schwitzen oder Herzklopfen.

Und wie finden wir zurück zur Normalität?

Aeschlimann: Wir brauchen in erster Linie viel Zeit. Um darüber immer wieder zu sprechen und zu trauern. Es ist oft hilfreich, den normalen Alltag beizubehalten und in die Natur zu gehen.

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Warnsignale: Darauf sollte man achten

Hinhören

Auch kleine Hinweise und nicht explizit formulierte Androhungen, können auf tief greifende Probleme hinweisen.

Ablöscher

Vorsicht bei Sätzen wie: «Ich kann nicht mehr» oder «Es wäre mir egal, wenn …»

Mail-Flut

Auch das ständige Verschicken von Arbeitsmails oder andere Signale, die auf eine Überlastung hinweisen, sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

Kündigung

Kritische Momente sind Stellenverlust. Auch das familiäre Umfeld kann dabei zusätzlich belastend wirken.

Aufgreifen

Experten raten, Hinweise auf jeden Fall zu thematisieren und den Hintergrund abzuklären.