Ganz klarer Fall, also. Ich muss mir keine Sorgen machen. Ich auf gar keinen Fall. Ich laufe täglich 20 Kilometer. Das mache ich ganz locker. Ich fühle mich nicht kaputt. Ich lasse mich jedes Jahr komplett durchchecken. Das tägliche Laufen ist meine Art der Meditation. Mehr nicht.

Gut, ich laufe fünf bis sechs Mal Marathon im Jahr und noch den ein oder anderen Ultramarathon. Könnte mit Training ein bisschen mehr sein. Ein bisschen. Dazu eventuell noch den ein oder anderen Spasslauf. Ein paar Hindernisläufe, manchmal. Aber laufsüchtig? Ich? Auf gar keinen Fall.

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Lächerlich oder problematisch

Ich laufe einfach. Einfach aus Gesundheitsgründen. Schliesslich will man ja nicht verfetten. Damit kenne ich mich aus. Das möchte ich nun wirklich nicht mehr. Aber süchtig? Nein, echt nicht. Lächerlich. Dann könnte ich mich ja gleich für den Bund der anonymen Laufoholiker anmelden. Freunde, wo kommen wir denn da hin?

Ausserdem mal Klartext. Es gibt doch gar keine Laufsucht. So, wie es Bielefeld gar nicht gibt. Also. An dieser Stelle kann die Kolumne für heute enden. Und wir laufen einfach weiter. Gut? Ah, okay, Sie haben die Headline gelesen. Und Sie sind eventuell betroffen. Und Sie haben sich entschieden, mal ein wenig weiter im Text zu gehen. Vielleicht haben Sie ja ein Problem? Das tut mir leid. Ich habe so was ja nicht. Aber gut, gut. Gehen wir mal wissenschaftlich an die Sache heran.

Eine wissenschaftliche Definition von Sucht

Diplom-Psychologe Laszlo Pota vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hat vor Kurzem öffentlich gesagt: «Wer regelmässig ein Rauschmittel konsumiert, ist laut Definition der WHO süchtig.» Und weiter: «Abhängig ist, wer nicht über längere Zeit, etwa eine Woche, auf etwas verzichten kann.»

Schauen wir uns einmal die vier Kriterien der WHO an, an denen die echte Sucht laut der Gesundheitsorganisation festgemacht werden kann:

1. Ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels

Also, ich stehe jeden Morgen auf. Beschaffe mir meine Laufsachen, nehme einen Kaffee und zwinge mich an die frische Luft. Wie geht es Ihnen so? Ich bezwinge mich quasi selbst. Damit ich überhaupt laufen kann. Auch während des Laufens bezwinge ich mich immer wieder, um das alles durchzuhalten. Von Sucht kann hier nun wirklich nicht die Rede sein.

2. Eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung)

Am Anfang wollte ich immer mehr laufen. Das war am Anfang, als das Laufen noch neu war. Einen Marathon im Frühling, einen im Herbst. Und die Zeiten mussten immer besser werden. Damals wäre ich fast süchtig geworden. Heute sind es am Ende eines Jahres, rechnet man die Trainingskilometer mit, so um die 150 Marathons im Jahr.

Aber ich will ja nicht mehr immer schneller werden. Deshalb: Dosissteigerung? Sucht? Nein. Auf gar keinen Fall. Scheidet bei mir aus. Wie ist das bei Ihnen so? Sind Sie auch so intolerant wie die WHO? Von wegen Toleranzerhöhung. Die WHO sollte viel toleranter mit uns normalen Läufern sein, finde ich.

3. Die psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge

Spätestens hier ist ganz klar: Der Suchtfaktor gilt nicht. Also für mich nicht. Ich merke keine Wirkung. Für mich gehört das Laufen dazu. Wie das Zähneputzen. Was denn für eine Wirkung? Wovon sprechen die bei der WHO? Also, ich merke nichts mehr. Wenn das stimmen würde, was die WHO sagt, würde ich ja auch mal Schmerzen spüren. Die habe ich aber nicht. Ich merke gar nichts mehr. Und Sie so?

4. Die Schädlichkeit für den einzelnen und/oder die Gesellschaft

Die WHO ist doch wirr. Jetzt ist das Laufen auch noch schädlich? Für den einzelnen Läufer? Hallo? Ich habe 45 Kilo abgenommen. Ich habe Blutwerte wie mit 20 nicht. Mein Herz ist tipptopp. Ich habe einen Ruhepuls von 38. Und jetzt kommt mir ne Gesundheitsorganisation und sagt, das sei schädlich für mich? Wir Läufer schaden also uns selbst. Nee, is klar. Und wir schaden der Gesellschaft. Hallo?

Wir sind die, die zwar eine Krankenkasse haben, sind aber gleichzeitig die, die nie krank sind. Im Gegenteil. Weil wir so verdammt gesund sind, zahlen wir den Dauerkranken die Behandlung mit. All denen, die durch das Rauchen und durch falsche Ernährung und Übergewicht Folgeerkrankungen provozieren. Und dann wird uns also Schädlichkeit für die Gesellschaft unterstellt. Nur weil wir vielleicht jeden Tag etwas für die Gesundheit und somit auch etwas für die Gesellschaft tun. Na, vielen Dank auch.

So, Sie wollten es ja unbedingt wissen. Also, ob Sie nun laufsüchtig sind oder nicht. Sind Sie nicht, oder? Wie ich. Ich auch nicht. Aber, ich habe mich jetzt gerade in Rage geschrieben. Ich muss mal Dampf ablassen. Ich gehe mal laufen. Dann verfliegt der Dampf wieder. So läuft es.

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