Den Film muss ich während meiner Mittelschulzeit gesehen haben. Aber ich kann mich bis heute daran erinnern. Der Film zeigte, wie Horden von Lemmingen über Schneefelder rennen und sich dann über eine Klippe in den Tod stürzen. Seither kursiert die Geschichte vom Massenselbstmord der Lemminge: Alle paar Jahre brächten sie sich kollektiv um.

Heute weiss man, dass die Filmpassage, 1958 von den Walt-Disney-Studios produziert, eine Fälschung war. Die Filmer konstruierten eine grosse, rotierende Drehscheibe, um die Massenpanik zu simulieren. Dann schmissen sie die Viecher, die sie vorher gekauft hatten, eigenhändig in die Schlucht.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Massenpanik ist ein physikalisches Problem

Lemminge kennen keine Massenpanik. Bei Pilgern ist das anders. In Mekka gab es in diesem Herbst 1800 Tote, als zwei Pilgerzüge einander den engen Raum streitig machten. Sie trampelten sich tot. Zuvor gab es in Kambodscha auf einer Brücke einen vergleichbaren Vorfall.

Man weiss mittlerweile sehr genau, wie es zu Massenpaniken kommt. Denn Massenpanik ist nicht primär ein psychologisches, sondern ein physikalisches Problem. Personen bewegen sich dann deutlich schneller als sonst. Das führt zu räumlichen Engpässen und tödlichen Staus.

Ameisen zeigen sich geübt im Dichtestress

Menschen sind auf Massenpanik anfälliger als Tiere. Denn Menschen haben wenig Erfahrung im Umgang mit grossen Ansammlungen, nämlich erst 2000 Jahre. Die ersten Massenpaniken der Geschichte beschreibt Sueton: Sie brachen aus, wenn sich Zehntausende Zuschauer gleichzeitig auf das Kolosseum in Rom zubewegten.

Ameisen hingegen haben seit Millionen von Jahren Erfahrung mit überbevölkerten Massensituationen. Sie rennen deshalb bei Dichtestress nicht plötzlich los, sondern verhalten sich stets kontrolliert. Auch in höchster Panik, etwa bei einer Zerstörung ihres Nests, bilden Ameisen disziplinierte Schlangen und halten sich an festgelegte Abmarschwege. Mit dieser Technik wäre jede Massenpanik zu vermeiden, weil sie keine physische Drucksituation erzeugt.

In der Finanz- und Sportwelt gefürchtet

Die bekanntesten Massenpaniken in der Finanzwelt sind die Bank Runs. Bei der Panik von 1907 stürmten die Kunden die US-Regionalbanken, und an der Wall Street kam es zu Menschenaufläufen. Beim Bankenkrach in Berlin von 1931 stauten sich die Kunden vor den Sparkassen. Auch hier intensivierte die physische Nähe das Stressgefühl.

Ähnliches geschah häufig in Fussballstadien. 1985 starben 56 Zuschauer im Stadion von Bradford in Englands Norden. Ein paar Wochen später kam es beim Europapokal-Endspiel zwischen Liverpool und Juventus Turin in Brüssels Heysel-Stadion zur Katastrophe, bei der 39 Besucher zu Tode gequetscht wurden. 1989 gab es im Hillsborough-Stadion in Sheffield sogar 96 Tote.

Im Stade de France passierte zuletzt das Gegenteil. Zwar waren die Explosionen der Terrorangriffe deutlich zu hören. Dennoch bestand nie die Gefahr einer Massenpanik. Die Behörden blieben völlig ruhig. Sie brachen das Spiel nicht ab. Sie informierten nicht über die Anschläge. Zum Glück – oder mit Absicht manipuliert – fiel auch noch das Internet aus. Die Zuschauer gingen zum Schluss gelassen aufs Spielfeld hinunter.

Man könnte sagen: Auch Ameisen hätten das nicht besser gemacht.