Das Licht war schlecht, der Ton kaum verständlich. Und doch schaute Max Meister begeistert hin. Was da vor zwei Jahren über den Bildschirm des Markenberaters flimmerte, imponierte ihm nachhaltig. Es war eine direkte Web-Video-Einspielung von der Stanford-Universität. Der Clou: Ohne dass der Schweizer Betriebsökonom an der renommierten US-Hochschule eingeschrieben war, konnte er sich kostenlos eine stündige Vorlesung des bekannten Unternehmers und Dozenten Steve Blank zum Thema Businessplan anschauen.

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Meister ist ein früher Einsteiger beim Thema Massive Open Online Course, kurz MOOC: Unter diesem Kürzel stellen Universitäten weltweit gratis Lerninhalte ins Netz, auf dass sich der ganze Planet kostenlos bilden möge. «Seither», sagt der Jungunternehmer, «ist die MOOC-Szene regelrecht explodiert. Die Zahl der Universitäten, die Lektionen online stellen, geht in die Tausende.» Auf tieferem Level feiert die Khan Academy des US-Amerikaners Salman Khan unglaubliche Erfolge. Der Online-Schulrektor mit Wurzeln in Bangladesh erreicht mit seinen kostenlosen Lernvideos die hintersten Winkel der Welt. Die von Microsoft-Gründer Bill Gates unterstützte Akademie unterrichtet «im Monat mehr als sechs Millionen Schüler», schreibt der ehemalige Hedge-Fund-Analyst in seinem Buch «Die Khan Academy – die Revolution für die Schule von morgen». Auch in Europa tut sich etwas. Als erste kontinentaleuropäische Hochschule surft die Lausanner EPFL auf dem MOOC-Trend mit, und dieser Tage lancierte auch die Universität Zürich unter medialem Getöse einen ersten kostenlosen Videokurs für die Massen.

Die Vorteile eines solchen Fernstudiums liegen auf der Hand: gebührenfreie Vorlesungen von Top-Uni-Dozenten, die selbst in entlegensten Weltgegenden verfolgt werden können. Doch was bringen «digitale Vorlesungshäppchen» («Die Zeit») konkret? Wirken ein paar MOOC-Einträge als Karriere-Turbo? Kaum.

Der Präsenzeffekt. «MOOC – das ist ein heisses Thema, das in unserer Branche kontrovers diskutiert wird», sagt Marco Tunesi von Consult & Pepper, Zürich. «Die Online-Kurse», glaubt der Managing Partner des Rekrutierungsunternehmens mit den Spezialgebieten Technologie, Engineering, IT, Consulting und Finance, «haben ganz sicher einen Wert. Aber sie helfen hierzulande nicht, neue Jobtüren zu öffnen.» Dies vor allem deshalb, weil hiesige HR-Abteilungen oft überfordert seien mit der Bewertung von Abschlüssen und dabei am liebsten auf Nummer sicher gingen: «Unsere Kunden verlangen dezidiert Universitäts- oder Fachhochschulabschlüsse. Je reputierter die Bildungsstätte, wo ein Kandidat seine Credits herhat, umso besser.»

Bei aller MOOC-Begeisterung ist auch Tim Kaltenborn zurückhaltend beim Thema unmittelbarer praktischer Nutzen. Zu viele Faktoren seien noch fraglich, zählt der University Relations Manager beim Employer-Branding-Spezialisten Universum Communications auf: «Einhaltung akademischer Standards, Validierung, Qualität und Umsetzung.» Zudem weiss man aus dem MOOC-Mutterland USA, dass ein Grossteil der Online-Kursbesucher vorzeitig aussteigt. Bei der ganzen digitalen Begeisterung gehe unter, wie wichtig es für den Team-Building-Gedanken sei, sich an der Uni auszutauschen: «Der Präsenzaspekt fehlt.»

Diesen Gedanken teilt man auch bei Korn/Ferry International: «Gewisse für Führungskräfte relevante Skills, wie etwa Motivationsfähigkeit, können nicht nur theoretisch gelernt, sondern müssen vor allem in realen Situationen entwickelt werden, um all die feinen Nuancen von Gruppendynamiken oder nonverbalen Signalen genügend gut aufzunehmen», sagt Florian Wagner, Senior Consultant Leadership / Talent Consulting. Wagners Konklusion: «Aktuell ist es noch immer so, dass ein Abschluss einer renommierten Hochschule mehr zählt als der schönste Blumenstrauss von MOOCs.»

MOOCs, sagt Tunesi, müsse man richtig einordnen: «Sie helfen einer Fachkraft, besser zu werden im Job, den sie heute schon macht. Wenn sich das in guten Arbeitszeugnissen niederschlägt, wird es einen praktischen Nutzen erbringen.» Womöglich aber ist die Sofa-Universität heute noch ein Thema für digitale Vorreiter. Immerhin wurde das Akronym MOOC erst im Juli 2012 das erste Mal in einer grossen Schweizer Zeitung erwähnt. Tunesi jedenfalls ist bisher noch nie ein Kandidaten-CV mit einer MOOC-Erwähnung unter die Augen gekommen. Und wenn jemand damit auftrumpfen möchte, ist eine Validierung schwierig, sagt Wagner: «Es fehlt noch an Erfahrungswerten, Institutionalisierung und unabhängigen Bewertungsinstitutionen für solche MOOC-Angebote.»

Die bisherigen MOOCs werden eher der Weiterbildung zugeordnet als der Hochschullehre. «MOOCs bieten inhaltliche Einzelangebote, aber kein Curriculum bis zum Erwerb eines akademischen Grades», schreiben die E-Learning-Experten Gabi Reinmann, Martin Ebner und Sandra Schön in ihrem aktuellen Werk «Hochschuldidaktik im Zeichen von Heterogenität und Vielfalt». Ein Blick auf die Teilnehmer von drei deutschsprachigen MOOCs stützt dies: Die meisten waren über 40 Jahre alt und hatten bereits Hochschulabschlüsse. So relativieren sich auch die hohen Abbrecherraten, die häufig als Makel der MOOCs genannt werden. An der EPFL haben von den 50 000 Teilnehmern im ersten MOOC bloss 10 000 eine Prüfung abgelegt. Aber 84 Prozent der Teilnehmenden waren bereits diplomiert und nutzten das Angebot also zur Weiterbildung.

Zurückhaltende Deutschschweiz. Für das eben angelaufene Herbstsemester hat die EPFL das Angebot massiv ausgebaut und stellt 25 Massenvorlesungen ins Netz. Die Universität Genf startet Ende September drei Online-Vorlesungen. Deutlich zurückhaltender geben sich Deutschschweizer Unis: Die Universität Zürich bezeichnet den ersten MOOC mit dem Titel «Informatik für Ökonomen» explizit als «Experiment». An den anderen Hochschulen und Fachhochschulen wird das Thema MOOC zwar an Fachstellen und in Arbeitsgruppen beobachtet und diskutiert, effektiv geplant ist allerdings noch nichts.

Unterstützt vom Bund, setzen die Institute voll auf «Blended Learning», die Kombination von Kontakt- und Onlineunterricht. Dazu wurden in den letzten Jahren virtuelle Lernplattformen aufgebaut, auf denen sich Dozierende und Studierende zusätzlich zum physischen Unterricht bewegen. Die Onlinetools reichen von Dokumentenablagen und Lernjournalen über Diskussionsforen bis zu Tests und Videokursen. Im Gegensatz zu den MOOCs sind die Kurse nicht für ein Massenpublikum konzipiert, sondern richten sich an eingeschriebene Studierende. Die Nutzung hängt stark von den einzelnen Fakultäten und Dozierenden und deren Affinität fürs E-Learning ab.

Was bringt die Zukunft? Die MOOC- und E-Learning-Landschaft wird sich punkto Standards, Qualität und Validierung wohl bald professionalisieren. Auch wenn sich das MOOC-Thema «Kostenlose Klassen für die Massen» kurzfristig punkto CV-Fähigkeit als Hype erweisen sollte, strahlt es auf klassische Bildungsstätten aus: Diese werden das Thema Online-Learning weiter forcieren.

In Bezug auf Geschäftsmodelle arbeiten Organisationen wie Coursera daran, dass zum Abschluss eines MOOC Credits gegen Bezahlung erworben werden können. Tim Kaltenborn sieht zudem Marketing-Möglichkeiten für Firmen: «Indem sie eigene Filme als Case Studies zur Verfügung stellen – und sich so innerhalb eines Online-Lehrgangs selber als attraktive Marken oder Arbeitgeber zeigen können.» Es könnten sich auch Chancen ergeben für Unis, die sich in globalen Rankings messen und versuchen, an die weltweit besten Talente zu kommen: «Im zunehmenden Wettbewerb in der Hochschullandschaft können MOOCs helfen, ausländische Studenten zu akquirieren. Inspirierende Professoren, die etwa in China oder im Mittleren Osten bei Studenten sehr gefragt sind, können eine Schaufensterwirkung entfalten.»

Auch Max Meister, der sich vor zwei Jahren die noch rudimentäre Stanford-Präsentation anschaute, denkt das Thema Online-Learning weiter. Mit seiner neuen Firma Diplomero will er Bildungsinstituten eine eigens programmierte Software und Studios zur Verfügung stellen, damit diese ihre Weiterbildungsbeiträge effizient drehen können. Offenbar ein Markt mit Potenzial, hat er gelernt: «Bereits stehen wir mit mehreren Interessenten in Verhandlung für eine Zusammenarbeit.»

Mitarbeit: Corinne Amacher

Andreas Güntert
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