ihao», nuschelt die kleine Johanna und streckt der Lehrerin artig die Hand entgegen. Es ist zwei Uhr nachmittags, und Johanna – fünf Jahre alt – tritt ihre wöchentliche Chinesischstunde an. Seit es drei Jahre alt ist, lernt das Mädchen Mandarin an der Sprachschule Yang in Zürich. Heute heisst es: Zahlen üben. Eins, zwei, drei – «yi, èr, san», zählt die Kleine. Es folgt ein Memory. Später werden die chinesischen Zahlschriftzeichen mit bunten Glitterstiften nachgemalt, Johanna kennt die chinesischen Namen der Farben. Nach sechzig Minuten ist Schluss. «Die Konzentration aufrechtzuerhalten, ist das Schwierigste bei so kleinen Kindern, vor allem bei den Buben», erklärt Debby Germann-Yang.

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Die Taiwanerin hat ihre Sprachschule vor zwei Jahren eröffnet und ist zufrieden mit der Nachfrage. Von den zwanzig Kindern, die bei ihr Unterricht nehmen, sind sechs unter fünf Jahre alt – das jüngste zweieinhalb. Praktisch alle ihre Schüler haben Schweizer Eltern, auch Johanna. «Sie glauben, dass ihre Kinder diese zukunftsträchtige Sprache am einfachsten lernen, wenn sie klein sind», so Germann-Yang. So sieht es auch Johannas Vater. «Wir verstehen das nicht als Drill. Solange sie Spass hat, soll sie es lernen.»

Kein Schaden, kaum Nutzen

Tatsächlich nehmen Kinder eine Zweitsprache im frühen Alter erstaunlich leicht auf. Doch aus der Wissenschaft kommt die klare Erkenntnis, dass der Effekt solcher Anfangserfolge nicht anhält, wenn die Kinder die Sprache nicht in mindestens 40 Prozent ihrer Zeit sprechen. Im Klartext: Es schadet nichts, bringt aber auch nichts (siehe Interview mit ETH-Professorin Elsbeth Stern). Trotzdem glauben viele Eltern fest an die Theorie vom frühen Fremdsprachenlernen. Während Chinesisch noch als exotisch gilt, steigt die Nachfrage nach Englisch für die Kleinsten seit Jahren. «Wir beobachten ganz klar einen Trend zu zweisprachigen Krippen», sagt Edith Tribelhorn, Geschäftsführerin des Verbands Kindertagesstätten der Schweiz (KiTaS), der rund 60 Prozent der Krippen vertritt. In der Stadt Zürich etwa pflegen heute 22 der 268 Krippen ein Konzept mit Englisch und Deutsch. Sieben davon haben 2011/12 eröffnet. Billig ist das Unterfangen nicht: Ein Babyplatz in der stark expandierenden Globegarden-Krippe kostet in Zürich 1188 Franken pro Monat – für zwei Tage die Woche.

Fördern, pushen, dem Kind genug auf den Weg mitgeben – dieser Leitgedanke setzt sich mehr und mehr durch, vor allem im Mittelstand und in der Oberschicht. Bildung als erfolgsentscheidendes Kapital. «Die Eltern investieren heute schon sehr früh enorme Beträge in die Entwicklung ihrer Kinder», konstatiert Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Die emeritierte Professorin der Uni Freiburg mit Spezialgebiet frühkindliche Bildung und Leiterin des Instituts Swiss Education in Bern hat im Rahmen einer neuen Studie unter anderem erstmals untersucht, wie viel Geld Eltern in zusätzliche Fördermassnahmen – Freizeitkurse, Hobbys etc. – ihrer Kinder investieren. Während der Durchschnitt bei 50 Franken pro Monat liegt, sind es in bildungsnahen, höheren Schichten schon 200 Franken. «Vor allem Mütter sind offenbar motiviert, solche Fördermassnahmen zu verantworten und den damit verbundenen Aufwand zu leisten», schreibt Stamm. Ihr Verdikt: «In gewissen Schichten herrscht eine wahre Bildungspanik.»

Diese Panik nährt eine ganze Industrie: Die Angebote für das Erfolgsprojekt Kind sind grenzenlos, die Nachfrage auch. Auf acht bis zehn Milliarden Franken belaufen sich die jährlichen Ausgaben für Kinder und Jugendliche gemäss Expertenschätzungen. Tendenz steigend. 819 Franken betragen die monatlich anfallenden direkten Kosten für ein Kind. Bis zur Volljährigkeit haben Eltern für ein Kind zwischen 200 000 und 350 000 Franken ausgegeben. In Wirklichkeit investiert eine steigende Zahl von Eltern gar deutlich mehr in den Nachwuchs.

«Ausverkaufte» Privatschulen

Mitte November fand im Zürcher Kongresshaus zum ersten Mal die «Kinder und Lernen Messe» statt. Der Andrang war enorm. 4000 Besucher wälzten sich mit ihren Buggys, Sigg-Flaschen und Reiswaffelpackungen in der Hand durch den Saal und liessen sich von den 120 Ausstellern über die Lernangebote für ihre Sprösslinge informieren. Die reichten von Art Coaching und Kids Yoga über Lernförderinstitute bis zur Potenzialabklärung. Vom Erfolg beflügelt («Unsere kühnsten Erwartungen wurden übertroffen»), wollen die Initiantinnen die Messe 2013 auf zwei Tage ausdehnen und neu Eintrittsgeld verlangen.

Zu den Umsätzen der privaten Bildungsanbieter gibt es keine Zahlen. Doch Bildungsökonom Stefan Wolter von der Uni Bern spricht von einem «enormen Business». Ein florierendes Geschäft sind Privatschulen: Wer es sich leisten kann, will auch bei der Bildung wählen: Schweizweit buhlen rund 600 Privatschulen um die Jeunesse dorée. Schicke und teure Privatschulen bieten neben Tagesstrukturen auch hausinterne Fahrdienste, Zweisprachigkeit und eine Entourage – man ist unter sich: Das Schulgeld von einigen zehntausend Franken wirkt als Filter. Markus Fischer, Generalsekretär des Verbands Schweizerischer Privatschulen, schätzt, dass rund 90 000 Kinder und Jugendliche in Privatschulen unterrichtet werden. Der Andrang ist gross: Institute wie die zweisprachige Lakeside School in Küsnacht führen Wartelisten, 2013 ist gemäss Schulleitung «ausverkauft».

Statt Wartelisten zu führen, baut die Bilingual School in Pfäffikon laufend Kapazitäten aus. Das Schulgeld beträgt 25 000 Franken im Jahr, Fussballtraining nicht inbegriffen. Gemäss Fischer ist das Geschäft wachsend dank den sogenannten International Schools mit angelsächsischen Bildungsgängen im Angebot.

Nachgeholfen

Ein lukrativer Ertragspfeiler für die privaten Anbieter sind auch Nachhilfestunden: Rund jeder dritte Jugendliche hat in den beiden letzten Schuljahren mindestens einmal Nachhilfe bezahlt, 66 Prozent besuchen regelmässig Nachhilfestunden. Dies ergab eine Studie der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

Volkswirtschaftlich gesehen, sind Investitionen in Bildung unbestritten. Wenn es gelänge, die Leistungen der schwächsten Schüler im PISA-Test anzuheben, könnte das Bruttoinlandprodukt in den nächsten Jahren um sagenhafte 800 Milliarden Franken wachsen, schrieb Ökonomie-Professor Ernst Fehr kürzlich im Politblog des «Tages-Anzeigers». Indes: Für die Eltern kann die Rendite ins Negative kippen, wenn sie ihr Kind mit Bildung überfrachten und ihm so den Freiraum für die Eigenentwicklung nehmen.

Schon in der Unterstufe fängt die Zusatzbüffelei an. Die Kalaidos Bildungsgruppe Schweiz (Akad, Minerva, Swiss International School) mischt dabei kräftig mit. In ihrem Lernstudio bietet sie Nachhilfe ab der zweiten Klasse an. Ob Zusatzlektionen in diesem frühen Alter sinnvoll sind, ist umstritten. «Geschäft ist Geschäft», sagt Silvia Grossenbacher von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung und Mitautorin des «Bildungsberichts Schweiz». Die Kosten für die Nachhilfestunden an den einzelnen Instituten variieren zwischen 40 und 100 Franken pro Stunde.

Boom bei Gymi-Vorbereitungskursen

Ein riesiger Boom auch bei den Gymi-Vorbereitungskursen, die mittlerweile auch für gute Schülerinnen und Schüler zur Pflicht gehören, weil die Aufnahmeprüfung ohne sie schlicht nicht zu bestehen ist. Das öffentliche Angebot an Vorbereitung ist sehr unterschiedlich: An der Goldküste und am Zürichberg treten nicht selten ganze Klassen zur Prüfung an, während sich in Gegenden mit mehr bildungsfernen Eltern maximal zwanzig Prozent der Schüler einer Klasse an die Aufnahmeprüfung wagen. Hier wie dort florieren private Stütz- und Vorbereitungstrainings: Am Lernforum in Zürich kostet der «straff geführte Gymi-Vorbereitungskurs» 1690 Franken. Die Gründerin des Instituts, Susanna Roshardt, ist selbst überrascht über den Andrang. «Das mit der Vorbereitung fürs Gymi ist eine richtige Hysterie geworden», sagt sie.

Experten sind besorgt. Das Schweizer Bildungssystem wurde stets gelobt, besonders wegen der Chancengleichheit, die es gewährt. Doch die steigende Zahl von ehrgeizigen Eltern und die Wohlstandsschere drohen das Gefüge ins Wanken zu bringen. «Es ist tatsächlich problematisch, wenn privat finanzierte Prüfungsvorbereitung und Nachilfeunterricht zum kritischen Erfolgsfaktor für das Bestehen im Bildungssystem werden», sagt Christian Jacobs, Stiftungsratsvorsitzender der Jacobs Foundation, die sich für Innovationsförderung in der Kinder- und Jugendentwicklung einsetzt und von Klaus Jacobs gegründet wurde. Die Stiftung kämpft gegen dieses Phänomen – etwa durch das Förderprogramm ChagALL, das begabten Sekundarschülerinnen und -schülern aus benachteiligten Verhältnissen zu höherer Bildung verhelfen will.

«Lerndoping»

Nicht nur «Lerndoping» (Lehrerverbandspräsident Beat Zemp) wird den Kids zugeführt. Förderung ist auch auf anderer Ebene angesagt in einer Gesellschaft, in der die Leistungsanforderungen und der Wettbewerbsdruck steigen und die Zugehörigkeit zu bestimmten Kreisen über die Freizeitaktivitäten definiert wird. Im zur Migros gehörenden Golfpark Otelfingen sind Golfkurse für Kinder äusserst beliebt. Bereits wurde das Eintrittsalter von acht auf fünf Jahre heruntergesetzt, da die Nachfrage immer grösser wurde.

Heute hat man laut Linda Kyburz, Leiterin Organisation der zum Club gehörenden Golfakademie, rund 50 Prozent mehr trainierende Kinder als vor sieben Jahren. 200 Kinder üben wöchentlich Schlägerhaltung, Putten und Golfschwung. «Viele Eltern wollen ihre Kinder einfach mit auf den Golfplatz nehmen können, denn es ist ein idealer Familiensport», so Kyburz. Dasselbe im Bereich Musik. Geigenunterricht mit drei Jahren ist keine Seltenheit. Bei Musik Hug sind die Kindergeigen zum Mieten jedenfalls ständig im Umlauf. Als neuer Trend hat sich das frühe Harfenspielen etabliert. Im Klanghuus des Konservatoriums Winterthur, das Musikunterricht für die Kleinsten anbietet, sind vor allem Frühklavier und Frühschlagzeug gefragt (ab fünf Jahren).

«Intelligenz wächst durch Freiräume»

Was den wenigsten Eltern klar ist: Ein stark getakteter Freizeitplan ist nicht a priori erfolgsfördernd. «Intelligenz wächst durch Freiräume», weiss Wissenschaftlerin Margrit Stamm. Die organisierten Aktivitäten für ein Kind unter fünf Jahren sollten nicht mehr als zwei Stunden pro Woche umfassen. Kleinkinder müssen genug Zeit haben, sich mit sich selbst und anderen Kindern spielend auseinanderzusetzen. Die Realität sieht oft anders aus. «Gerade Eltern, die arbeiten, haben oft das Gefühl, sie müssten ihren Kindern in der Freizeit umso mehr bieten, und schicken sie deshalb in alle möglichen Kurse», so Stamm.

Englisch mit Schnuller? Kein Problem. «Baby’s Best Start» heisst der Kurs Helen Doron Early English für die Allerkleinsten. Babys von drei bis achtzehn Monaten werden mit erstem Englisch konfrontiert – spielerisch natürlich. Kostenpunkt: 440 Franken pro Semester. Rachel Strang hat den Kurs soeben in Adliswil ZH lanciert und ist vom Erfolg überzeugt. Anders sieht man es in wissenschaftlichen Kreisen. «Eine starke Konzentration auf die Vermittlung von Wissen bei Kindern ist im Vorschulalter weder sinnvoll noch nötig», sagt Christian Jacobs von der Jacobs Foundation.

Privatsache

Die Stiftung setzt sich für das frühkindliche Bildungskonzept ein. Da geht es nicht primär um schulische Inhalte, sondern um die Förderung von sozialen, motorischen, emotionalen, sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten. Diese Form der Frühförderung steckt in der wertkonservativen Schweiz noch in den Kinderschuhen. Und das, obwohl sie gerade sozial benachteiligten Kindern zu besseren Leistungen verhelfen würde.

Im neuen OECD-Bildungsbericht «Education at a Glance» kommt unser Land nicht gut weg. Bei der Bildungsbeteiligung im Alter von vier Jahren liegt die Schweiz auf dem drittletzten Platz. Der Eintritt in den Kindergarten erfolgt vergleichsweise sehr spät. Die staatlichen Ausgaben für frühkindliche Bildung in Prozent des BIP liegen unter dem OECD-Schnitt. Im Kanton Zürich wurde soeben die Einführung der zukunftsweisenden Grundstufe – des altersdurchmischten Unterrichts von Kindergarten- und Primarschülern – vom Stimmvolk bachab geschickt. «Die Familie wird in der Schweiz als Privatangelegenheit gesehen», erklärt Stamm den Kontrast zwischen dem staatlichen Bildungswesen und den Privatinitiativen gut situierter Eltern. Der Ratschlag der Bildungsexpertin: «Eltern sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass der Return on Investment von schulorientierten frühen Fördermassnahmen extrem gering ist, und wieder vermehrt auf ihre Intuition vertrauen.»

Iris Kuhn Spogat
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