Manager wollen, dass ihre Firma eine «lernende Organisation» ist, sie wollen lernwillige und lernfähige Mitarbeitende und wir alle zeigen uns im beruflichen Kontext bereit, Dinge zu lernen, neues Wissen aufzunehmen.

Bei diesem ständigen Wettrennen um mehr Wissen und die effizientesten Lernprozesse geht eine Fähigkeit etwas vergessen, die in letzter Zeit von vielen Fachmedien und Unternehmensberatern in den Mittelpunkt gerückt wird: Unlearning – also die Fähigkeit, überkommenes, veraltetes Wissen, das einem vielleicht sogar im Weg steht, beim Erwerb von neuem Wissen zu löschen oder zu modifizieren. Was genau ist damit gemeint? Handelt es sich um einen neuen Trend oder wird einfach altes Wissen neu aufgekocht?

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Drei Schritte des Verlernens

«Das Thema Unlearning ist tatsächlich aktuell und ich gehe davon aus, dass es noch an Bedeutung gewinnen wird», sagt Romy Gerhard, die Firmen bei Change-Prozessen begleitet und vor allem durch ihre Systemaufstellungsmethode bekannt wurde. Sie sieht die Bedeutung von Unlearning als Begleitung bei Innovations-, Digitalisierungs- und Transformationsprozessen: «Die grösste Veränderung findet tatsächlich im Kopf statt.

Erst wenn unser Verstand überholtes Wissen und dysfunktional gewordene Glaubenssätze loslassen kann, ist echte Innovation oder besser Evolution wirklich möglich.» Tatsächlich konfrontiert speziell die Digitalisierung viele Vertreter sogenannter «old industries» damit, dass ihre über Jahrzehnte gesammelten Wissensmengen plötzlich entwertet und kaum mehr gebraucht werden.

Auch Unternehmercoach Cristian Hofmann, der in Schaffhausen stationiert ist und für UBS, Axpo und Alstom gearbeitet hat, ist Unlearning wichtig: «In meiner Arbeit mit Top Executives kommen wir oft gar nicht an diesem Thema vorbei. Im Kern geht es um die Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit. Dies auf den Ebenen des Individuellen, in der Zusammenarbeit im Managementteam und in der Organisation als Kultur.»

Alte Überzeugungen ablegen

Nur wer alte Überzeugungen ablegen könne, sei in der Lage, über Grenzen hinauszudenken. «Dabei müssen nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Barrieren wahrgenommen oder überwunden werden», so Hofmann. Denn das Unlearning, also das Verlernen, Vergessen oder Modifizieren von überholtem Wissen ist alles andere als einfach.
Die erste Herausforderung dabei sei, dass Menschen dazu neigen, Informationen, die ihren bisherigen Annahmen widersprechen, von vornherein abzuwerten oder auszuschliessen, wie der Autor Scott H. Young in einem Artikel zum Thema schreibt.

Uns Menschen steht dabei die sogenannte Confirmation Bias im Weg. Damit ist ein Konzept aus der Kognitionspsychologie gemeint, das beschreibt, wie wir Informationen so auswählen, dass sie unsere Erwartungen bestätigen und erfüllen. Diese Bias erzeugt gleich drei Verhaltensweisen, die Unlearning erschweren: Bisheriges Wissen bestätigende Informationen werden besser in Erinnerung behalten, passende Informationen werden höher bewertet als widersprüchliche. Informationsquellen für unpassende Informationen werden tendenziell vermieden.

«Neben dem traditionellen additiven Lernen in einer klassischen schulischen Ausbildung kann jeder sein bestehendes Wissen über die digitalen Informationskanäle täglich aktualisieren und anreichern. Dabei verlernen wir das, was wir nicht anwenden und vertiefen beziehungsweise erweitern das Wissen, welches wir täglich in der Arbeit und im Privaten umsetzen», erklärt Markus Kaiser, Karriereexperte bei der Schweizer Kader Organisation SKO.

Daria Knoch, Leiterin der Abteilung Soziale Neurowissenschaft der Universität Bern, bestätigt, dass «Unlearning für das Gehirn ein ausgesprochen komplexer Prozess ist, sogar noch komplexer als das Learning». Personen mit Verletzungen in bestimmten Hirnarealen, vor allem im Stirnhirn, könnten Unlearning-Prozesse überhaupt nicht mehr vollziehen, so die Universitätsprofessorin.

Gewohnheiten prüfen

Wie aber verlernt man richtig? In einem ersten Schritt muss man erkennen, dass alte mentale Modelle und Wissenspools nicht mehr aktuell sind. Hier beginnt schon wieder eine Schwierigkeit. Die meisten sind sich über ihre Wissensmodelle gar nicht im Klaren, da wir sie aus Gewohnheit umsetzen und dazu tendieren, bestätigende Informationen hinzuzufügen. Zudem ist die Anerkennung, dass gewisse Wissenspools sozusagen nicht mehr brauchbar sind, kränkend für den, der das akzeptieren muss. Oft ist eine Karriere oder ein Berufsweg darauf aufgebaut.

Neue mentale Modelle lassen sich nur erwerben, wenn man die Quellen, aus denen man Wissen bezieht, bewusst erweitert und bewusst diversifiziert. Dabei hilft es, sich der eigenen Confirmation Bias bewusst zu werden, schreibt der Professor für Psychologie an der Universität Austin, Andrew Butler, zum Thema.

Im dritten Schritt muss man neue mentale Gewohnheiten festigen. «Dieser Teil des Prozesses unterscheidet sich nicht von der Schaffung einer neuen Verhaltensgewohnheit wie zum Beispiel der Änderung Ihrer Ernährung oder der Änderung Ihres Golfschwungs», so Butler. Die Tendenz wird zunächst sein, auf die alte Denkweise und damit auf die alte Handlungsweise zurückzugreifen. «Es ist nützlich, Trigger zu erstellen, die Sie darüber informieren, mit welchem Modell Sie arbeiten.»

Das können zum Beispiel Begriffe sein, die besonders häufig genutzt werden und die man vorher mit einem gewissen Denkmodell identifiziert hat. Ein Beispiel kann etwa sein, wie man seine Kunden oder Produkte bezeichnet und welche Bilder diese Sprachbilder auslösen (etwa wenn Kunden als Konsumenten, Geldbringer, Könige bezeichnet werden).

Wissen veraltet immer schneller

Es gibt aber auch Stimmen, die die Aktualität des Trends bezweifeln. So etwa die Managementberaterin Katja Unkel: Sie hält vor allem die Abwertung des additiven Lernens, also des Sammelns von Wissen, das bestehenden Wissenspools zugefügt wird, für falsch.

«Bekannt ist schon lange, dass Wissen viel schneller veraltet als früher und dass die Menschen ihre heutigen Jobs und Aufgaben in einigen Jahren nicht mehr machen werden. Das war früher anders: Der gelernte Beruf und das Wissen, das damit einherging, reichten oft bis zur Pensionierung. Wobei unbedingt anzumerken ist, dass auch damals schon hinzugelernt wurde und die Jobs sich verändert haben – jedoch nicht so dramatisch wie heutzutage.»

Es sei eine Tatsache, dass jeder lebenslang lernen müsse, und zwar in einer Bandbreite von radikal neu lernen bis zu kleineren Veränderungen. Wichtig zu verstehen sei, «dass jeder Mensch mit Veränderungen anders umgeht, je nachdem, wie gravierend er sie empfindet. Denn in der Regel wollen wir Struktur, Berechenbarkeit und Sicherheit. Und ja, sind es Werte, dann halten wir gerne auch unbewusst daran fest, denn das ist ja ‹richtig›, weil wir es immer schon so gemacht haben und – das ist wichtig – es bislang die ‹winning strategy war.»

Bereitschaft, Gewohntes zu hinterfragen

Unkel empfiehlt eine grundsätzliche Bereitschaft und Offenheit, Gewohntes zu hinterfragen, um es ablegen zu können, wenn es erforderlich ist. Im Konzept des Unlearning sieht sie daher nichts Neues, sondern schlicht die Vereinfachung bereits vorhandener Konzepte.

Die Tendenz, zu fehlerhaften und falschen Schlussfolgerungen zu kommen, sei in der heutigen medialen Welt der Social-Media-Echokammern aber besonders gross, so Unkel. Eine Einschätzung, die auch SKO-Experte Markus Kaiser teilt. «In unserer schnelllebigen digitalen Zeit werden jene Menschen erfolgreich sein, die Informationen noch objektiv bewerten können und diese entsprechend anwenden und auch umsetzen können. Somit wandeln diese Menschen Wissen in Erfahrungen um und lernen aus dem Tun.» Das zeichne wiederum erfolgreiche Führungskräfte und Unternehmer aus.

Romy Gerhard sieht in ihrer Praxisarbeit vor allem bei der Transformation von klassisch-hierarchischen Organisationen zu agil-selbstorganisierten den Bedarf für professionelles und begleitetes Unlearning. Hier müssen Glaubenssätze komplett umgekehrt werden, um auf neue Umgebungen und Entwicklungen reagieren zu können. Und das ist schwierig – weil eben kränkend. Wer sein Wissen auf dem neuesten Stand halten will, muss erst mal lernen, damit umzugehen, dass Teile seines inneren Lexikons längst überholt sind – und dass das gar nicht so schlimm sein muss.

Was dem Verlernen im Weg steht

Bias: Menschen neigen dazu, Informationen, die ihren bisherigen Annahmen widersprechen, von vornherein abzuwerten. Dabei handelt es sich um die Confirmation Bias. 

Erinnerung: An Informationen, die zum aktuellen Wissen passen, erinnert man sich eher als an unpassende. 

Kränkung: Zu akzeptieren, dass der eigene Wissenspool nicht mehr ausreichend ist, kann kränkend sein. 

Bewusstsein: Seit der Schulzeit wird rein additives Lernen gefördert. Unlearning soll nebenbei klappen.

Stefan Mair
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