150 Milliarden Dollar wurden in den ersten sechs Monaten in diesem Jahr in US-Startups investiert. Damit ist 2021 schon bei Jahreshälfte das Jahr mit dem zweitgrössten Investitionsvolumen – nach 2020 mit 164 Milliarden Dollar und vor 2018 mit 143 Milliarden, jeweils über das ganze Jahr hinweg.
Viel deutet darauf hin, dass es in diesem Jahr auch in der zweiten Jahreshälfte so weiter gehen wird. Im Juli zum Beispiel wurde bekannt, dass Tiger Global – lange ausschliesslich ein Hedge Fund – seinen 6,7 Milliarden Dollar schweren Venture Fund in nur drei Monaten investiert hat. Die Kryptobörse FTX hat knapp drei Jahre nach der Gründung eine Finanzierungsrunde zu einer Bewertung von 18 Milliarden Dollar gestemmt, und das Startup Axie Infinity – es bezahlt Menschen in seiner Kryptowährung dafür, ein ähnliches Spiel wie Pokémon zu spielen – verzeichnete im August einen Umsatz von umgerechnet über 800 Millionen Dollar. Im Juni waren es noch 122 Millionen Dollar.

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Bei solchen Zahlen folgt schnell die – seit spätestens 2015 fast omnipräsente – Meinung, dass wir uns in einer Blase befinden müssen. Dies trifft bis zu einem gewissen Grad sicher auch zu – vor allem wenn man sich etwa die Umsatz- und EBITDA-Multiples von Software- und Internetfirmen anschaut. Als Erklärung für diese Blase wird dann zumeist die lockere Geldpolitik genannt und die Tatsache, dass das zurzeit günstige und in Unmengen vorhandene Kapital sich vor allem auf Firmen stürzt, die vom momentanen (auch COVID-bedingten) Technologie-Rückenwind profitieren. Dementsprechend hoch sind die Preise für diese Firmen – was nicht nachhaltig sein kann. Sprich, eine Blase.

Pascal Unger ist Managing Partner bei der Venture-Capital-Gesellschaft Darling Ventures in San Francisco.

Diese Erklärung ist sicher teilweise korrekt. Aus Sicht eines Optimisten, was Innovation durch technologischen Fortschritt angeht, ist sie jedoch nicht ausreichend. Denn sie missachtet, dass wir uns auf einer exponentiellen Kurve befinden, was Technologieinnovation angeht. Und dass sich dies je länger je mehr auch in den Finanzierungen und Bewertungen von Technologiefirmen widerspiegelt.

Technologischer Fortschritt ist exponentiell

Ein viel zitiertes Beispiel, um uns den exponentiellen technologischen Fortschritt vor Augen zu führen, stammt von Tim Urbans bekanntem Artikel über künstliche Intelligenz in seinem Blog «Wait but Why»: Man stelle sich vor, eine Person wurde von 1770 um 250 Jahre in die Zukunft geholt werden. Diese Person wäre im Jahr 2020 wohl nahe am Herzstillstand, wenn sie sehen würde, wie sich die Welt in verhältnismässig kurzer Zeit weiterentwickelt hat (Handys, Flugzeuge, fast selbstfahrende Autos, das Internet, usw.). Würde man dasselbe Experiment im Jahr 1770 durchführen, wäre der Schock hingegen verhältnismässig klein – aus heutiger und wohl auch damaliger Sicht hat sich zwischen 1520 und 1770 relativ wenig verändert.

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Exponentiellen Fortschritt rückwirkend zu verstehen, fällt uns leicht, da wir diesen mit unseren eigenen Erfahrungen verbinden können. Exponentielles Wachstum in die Zukunft zu extrapolieren, fällt uns hingegen äusserst schwer. Wir versuchen zumeist, vergangenes Wachstum linear (nicht exponentiell) auf die Zukunft anzuwenden – kombiniert mit unserem aktuellen Wissen und Erfahrungen. Wer hätte zum Beispiel noch im Jahr 2000 während der Internet Bubble gedacht, dass uns das Internet Uber, Airbnb, Facebook, WhatsApp, Instagram oder auch Bitcoin bringt?
Zusätzlich erschwert wird diese Übung auch dadurch, dass Fortschritt nicht geradlinig ist, sondern in Sprüngen erfolgt. Somit ist es im Moment fast unmöglich, exponentiellen Fortschritt zu erkennen. Nur über einen längeren Beobachtungszeitraum wird dieser für uns sichtbar.
Um zurückzukommen auf das Thema der heutigen Bewertungen von Technologiefirmen und des Geldes, dass in Technologie Startups investiert wird: Diese Bewertungen erscheinen aus heutiger Sicht unter Annahme von linearem Wachstum überrissen. Wenn man jedoch annimmt, dass wir uns auf einer exponentiellen Kurve befinden, was technologischen Fortschritt angeht, dann ist das Gegenteil der Fall.

 

Mit jedem Fortschritt wird das Fundament für die nächste Stufe gebildet

Ein wiederkehrendes Phänomen in der Geschichte der Menschheit ist, dass bahnbrechende Innovationen früher oder später handelsüblich werden und, darauf aufgebaut, neue bahnbrechende Produkte entwickelt werden. Zum Beispiel war das ungefähr 4000 vor Christus erfundene Rad, das 1845 erstmals in Luftreifen-Form patentiert wurde, im Jahr 2008 ein nicht sehr innovativer, aber äusserst wichtiger Inputfaktor für den ersten Tesla Roadster. Die Tesla-Ingenieure mussten für ihr Produkt, das erste elektrische Auto in Massenproduktion, das Rad im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr neu erfinden.

Ein gutes Beispiel aus der Softwarewelt für auf sich selbst aufbauenden Fortschritt sind Computerschnittstellen, sogenannte APIs. Die 95 Milliarden Dollar schwere Firma Stripe zum Beispiel ermöglicht es jedem Internetnutzer, innerhalb von wenigen Minuten Zahlungen via Internet zu akzeptieren. Twilio ermöglicht die einheitliche Kommunikation mit Kunden via SMS, Email, Whatsapp, Telefon etc. und ist zurzeit mit 65 Milliarden Dollar bewertet. Und Plaid, zuletzt mit 15 Milliarden Dollar bewertet, ermöglicht es Softwarefirmen ihren Kunden anzubieten, dass sie das Produkt direkt mit wenigen Klicks mit ihren Bankkonten verbinden können. 
Dank API-Firmen wie diesen dreien, können sich andere Softwarefirmen nun auf ihr Kernprodukt konzentrieren, ohne diese aufwändige Infrastruktur selbst aufbauen zu müssen, was sehr viel Zeit, Geld und Programmieraufwand kostet. Und somit können sie mit einem immer höheren Tempo an der Infrastruktur für die nächste Innovationsebene arbeiten – denn wenn sich Entwickler statt um die Bereitstellung der Infrastruktur um die Entwicklung neuer Produkte kümmern können, schreitet die Innovation viel schneller voran: Nehmen wir an, vor Plaid, Twilio und Stripe benötigten Softwarefirmen 100 Programmierer für drei Jahre, um diese Infrastruktur aufzubauen, um dann darauf basierend neue Produkte an den Markt bringen zu können – also 300 Mannjahre.Nun, dank den verfügbaren APIs, braucht dieselbe Firma nur noch zehn Softwareingenieure und ein Jahr für dieselbe Infrastruktur. Somit können über denselben Zeitraum 290 Mannjahre in neue Produkte investiert werden. Dies führt zu einem riesigen Innovationssprung. Und basierend auf diesen neuen Produkten kann dann die nächste Ebene an Produkten noch einmal schneller entwickelt werden – das bedeutet exponentielles Wachstum. 

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Ein reales Beispiel hierzu wurde von der bekannten Venture Capital Firma Redpoint genannt: Sie führte aus, dass das Kreditkarten-Startup Ramp vor zehn Jahren noch sieben oder acht Jahre gebraucht hätte, um die Firma dahin zu bringen, wo sie heute nach knapp zwei Jahren mit weniger als 100 Angestellten und einer Firmenbewertung von vier Milliarden Dollar ist. Basierend auf dieser Idee rund um exponentiellen Fortschritt und Innovationsebenen argumentieren Optimisten, was den technologischen Fortschritt angeht, dass das heutige Kapital, dass in Technologiefirmen investiert wird, in Zukunft um ein Vielfaches höher sein wird. Gleiches gilt auch für den Anteil von Technologiefirmen an der Gesamtwirtschaft.

Zehnmal grösser in zehn Jahren

Diese Argumentation bezüglich exponentiellem Wachstum soll auf keinen Fall prophezeien, dass Bewertungen von Technologiefirmen und Startups in den nächsten Jahren konstant weiter nur nach oben schiessen werden. Fortschritt erfolgt, wie gesagt, in Sprüngen und kommt nicht ohne Rückschritte. Zudem sind sogenannte Black Swan Events – unvorhersehbare Ereignisse wie etwa die Corona-Pandemie – jederzeit möglich und verändern grössere oder kleinere Teile unserer Welt auf einen Schlag.
Wenn man jedoch einen Schritt zurück tritt, eine Zehn-Jahres-Perspektive einnimmt, und wie die Optimisten im Silicon Valley an exponentielles Wachstum rund um Technologie glaubt, dann befinden wir uns tatsächlich erst am Anfang der Entwicklung. Und in diesem Fall spricht vieles dafür, dass der Markt für Technologiefirmen (Startups und börsenkotierte) in zehn Jahren durchaus zehnmal so gross sein kann wie heute. Selbst wenn die Marktkapitalisierung der «Big Tech» Firmen Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft heute schon grösser ist als das Bruttoinlandsprodukt der weltweit drittgrössten Wirtschaft Japan.