Die jährliche Fasnacht in Zug feiert jeweils Greth Schell. Schell ist eine Volksheldin, die ihren Mann in einem Korb auf dem Rücken nach Hause trug, nachdem dieser in der Beiz einen über den Durst trank. Zug, das heutige Krypto Valley, spielt die Rolle der Greth für ein World Wide Web, das betrunken und hilfsbedürftig scheint – zumindest, wenn man es nach den Intentionen seiner Gründer beurteilt.

Zug ist Pionier im Bereich Web 3.0, einer neuen Internetarchitektur, die auf Krypto-Technologien basiert. Lokale Startups wie Ethereum, Bancor, Xapo, oder Dfinity stellen das Web 2.0 – die Architektur, die wir jetzt haben oder die uns hat – in Frage.

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Unternehmen wie Amazon, Microsoft, IBM, Google und Alibaba dominieren die offenen Anwendungsökosysteme des Web 2.0. Der «Economist» veröffentlichte jüngst Zahlen der Synergy Research Group, die zeigen, dass diese fünf Unternehmen etwa zwei Drittel der weltweiten Cloud-Services kontrollieren.

Die Unternehmen sind in den USA und China angesiedelt, welche gegensätzliche Prinzipien der Internet-Governance kennen. Wie der Sicherheitsexperte Adam Segal in einem Artikel für «Foreign Affairs» erklärt, lautet Chinas Strategie «Cyber-Souveränität», während die USA weitgehend ein «globales und offenes Internet» unterstützen. Die Macht des Web 2.0 liegt also bei einigen wenigen Unternehmen und ihren nationalen Regierungen, zumindest momentan.

Im Juni 2017 argumentierte ich in meinem Artikel «Dawn of the Ultimate Unfair Competitive Advantage (Part 1)», dass Daten und Informationen im nächsten Jahrzehnt die erfolgreichsten Unternehmen bestimmen werden. Daten und Informationen werden im Web 3.0 einen noch wichtigeren – und unfaireren – Wettbewerbsvorteil bilden.

Hier wollen wir der These nachgehen, wie Krypto-Technologien proprietäre, geschlossene Datensätze vorantreibt, um einen unfairen Wettbewerbsvorteil zu erlangen – eben genau dadurch: Indem Krypto offen wird und niemandem gehört.

Bevor ich die These ausführe, lassen Sie uns einige Begriffe definieren. Die Blockchain ist eine Manifestierung der Distributed-Ledger-Technologie, bekannt als DLT. Wir bezeichnen sie gemeinhin als «Krypto», nicht zu verwechseln mit Krypto-Währungen. In diesem Artikel bezieht sich Krypto auf alle Innovationen, die kryptologische Techniken nutzen, um Transaktionen sicher und transparent zu machen und zu dezentralisieren. 

Krypto-Technologien könnten die Fundamente des modernen Webs wieder ausgleichen und dessen politische, finanzielle und kulturelle Institutionen infrage stellen. Web 3.0 ist ein zweiter Appell an die Gründungsideale des Internets: freier und offener Zugang zu Informationen sowie die Erleichterung des Austausches. Auf Greths Schells Rücken – eine Metapher für alle Krypto-Startups – können wir zu einem Internet zurückkehren, das seine Schöpfer stolz machen würde.  

Amaras Gesetz und das Monopoly-Spiel

Krypto-Innovationen spielen eine Rolle, weil sie den Kapitalismus neu erfinden könnten. Normalerweise schiebt die unsichtbare Hand des Marktes Innovationen in dicht gepackte Konglomerate. Das Rockefeller Öl-Imperium, Microsoft und jetzt Amazon (neben vielen anderen Beispielen) zeigen, wie Konglomerate eine Branche dominieren und Wettbewerber benachteiligen. Das System kann nur dann zurückschlagen, wenn der dominante Spieler unfair kämpft und kartellrechtliche Untersuchungen auslöst – so passiert bei Microsofts Trick mit dem Internet Explorer. 

Wie Diagramm A unten zeigt, folgt die Innovation eines dominanten Spielers einem Muster, welches erstmals vom Informatiker Roy Amara beschrieben wurde. Zuerst wird die neue Technologie in einem allgemeinen Hype überbewertet und überschätzt. Darauf folgt in einer zweiten Phase die Ernüchterung, bevor die Technologie in einer dritten Phase so allgegenwärtig und wichtig wird, dass wir uns ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen können.

Diagramm A: Amaras Gesetz über die Wahrnehmung von neuen Technologien.

Amaras Law and the Impact of Technology
Quelle: Roy Charles Amara; Wikipedia

Ein gutes Beispiel dafür ist das selbstfahrende Auto. Der Autor und Zukunftsforscher Matt Ridley beschreibt in seinem Blog den Sachverhalt wie folgt: «Mir wird immer wieder gesagt, dass Lastwagen-Fahrer und Uber-Taxis bald alle überflüssig sein werden. Ich würde fast garantieren, dass es in zehn Jahren einen Haufen Berichte darüber geben wird, wie die Realität nicht mit den Prognosen übereinstimmt. Dass es mehr Arbeitsplätze für Fahrer gibt als je zuvor und dass das selbstfahrende Auto viel weiter entfernt ist, als wir dachten. Ich wage zu behaupten, dass weitere zehn Jahre später ein solcher Pessimismus töricht aussehen wird, wenn plötzlich überall autonome Fahrzeuge auftauchen.»

Google, Tesla und ein paar wenige andere Unternehmen könnten den selbstfahrenden Markt in zehn Jahren kontrollieren. Sie würden im Diagramm B zum Kopf («head») des Marktes werden. Startups und kleine Unternehmen leben im Long Tail, der rechten Seite des Diagramms, wo wir in der Regel mehr Vielfalt und Unterscheidung, aber auch höhere Preise und weniger Skalierbarkeit finden.

Diagramm B: Das Tauziehen zwischen Kopf und 'Long Tail'

The Head and Long-Tail “Tug of War”
Quelle: Philipp Stauffer, FYRFLY Venture Partners

Der Kopf monopolisiert die Profit-Pools und lässt wenig oder gar keinen Platz für Long-Tail-Unternehmen. Um seine Dominanz zu festigen, nutzt der Kopf Lobbyarbeit, politischen Einfluss und andere Formen der Soft Power.

Indem der Kopf Innovationen durch organische und anorganische Initiativen (z.B. Akquisitionen) vorantreibt, kontrolliert er zunehmend die Innovations-Agenda des Marktes. Dies senkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Innovationen aus dem Long Tail etablieren können. Der Long Tail ist eine zu grosse Bedrohung für die eingefahrenen Kräfte, weswegen dieser von ihnen lieber erstickt wird.

Die Pluralität, die Dezentralisierung und der Wettbewerb im Long Tail ist unnütz, solange sich die dominanten Akteure verschanzen können. Die Transaktionskosten für, sagen wir, eine Versicherung, eine Ölgesellschaft oder einen Telekom-Anbieter auf Basis eines Familienbetriebs sind einfach zu hoch – und die Hauptakteure sorgen dafür, dass dies auch so bleibt.

Was, wenn wir die Vorteile der Etablierten mit jenen der Newcomer zusammenbringen könnten?

Was, wenn wir eine nachhaltige Wettbewerbsgleichheit schaffen könnten, welche die Vorteile des Kopfes – Skalen, Ressourcen, Marke, Lobbying, Stabilität – und die Vorteile des Long Tails – Agilität, Unternehmertum, Unabhängigkeit, Risikotoleranz, Dringlichkeitsbewusstsein – zusammenbringt?

Ich glaube, wir würden Innovationen auf eine völlig neue Art und Weise entfesseln, vor allem, wenn es uns gelingt, klare Gesetze und eine demokratische Selbstverwaltung zu schaffen. Auf die Arbeit der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom über die «Tragödie des Allgemeinguts» Bezug nehmend stellt Mike Maples von Floodgate die These auf, dass Krypto «Governance-Märkte» schaffen wird, «die es den Bürgern genauso ermöglichen wird, Wohlstand zu schaffen, so wie die Aktienmärkte es den Unternehmen ermöglicht haben».

Die Analogie ist stimmig und bietet einen neuen Blick auf den Artikel «The Nature of the Firm» von Ronald Coase aus dem Jahr 1937. Die nobelpreisprämierte Abhandlung argumentiert, dass Unternehmen deswegen entstehen, weil sie die Transaktionskosten senken, mit denen ein Unternehmer konfrontiert ist, wenn ern auf dem freien Markt tätig ist.

Vielleicht könnten die Vorteile eines Unternehmens besser durch Technologien erreicht werden, die Kooperationsnetzwerke stärken und steuern. Mit Krypto-Plattformen könnten multilaterale Netze von Smart Contracts zwischen Einzelpersonen die Transaktionskosten effizienter senken als ein Unternehmen – zumindest in der Theorie.

Mit einer Technologie, die so anspruchsvoll ist wie ein selbstfahrendes Auto: Wer kann es sich überhaupt leisten, außerhalb des Kopfes («head») zu konkurrieren? Offenbar George Hotz.

Das Long Tail Dilemma

Wie Bloomberg 2015 berichtete, rüstete Hotz damals in einer One-Man-Show innerhalb eines Monats einen Audi in ein selbstfahrendes System um. Ob er versuchte, Tesla zu schlagen, an Tesla zu verkaufen oder Mobileye zu disruptieren, ist unklar. 

Hotz ist nicht gerade bescheiden. Kein Wunder, hat er doch bereits in der High School das iPhone und die Sony PlayStation 3 gehackt. Er ist das perfekte Beispiel dafür, wie man eine Multimilliarden-Dollar-Technologie in den Long Tail pushen kann, wo er seinen Wettbewerbsvorteil behalten könnte – oder auch nicht. Das hängt davon ab, wer die Kontrolle über die Fahrdaten hat. 

Nachdem sich Hotz Compliance-Probleme mit der National Highway Traffic Safety Administration in den USA einhandelte, entwickelte er mit Comma.ai seine eigene Technologie für selbstfahrende Autos, «ghostriding for the masses». Sein Team entwickelte ein Dashcam-«Devkit», dass jeden dazu befähigt, einen ganzen Satz an Fahrdaten zu sammeln. Die Technologie ist als Open-Source-Betriebssystem gedacht. Was Android für Smartphones ist, will comma.ai für Autos sein. Für den Long-Tail scheinen die Möglichkeiten von Comma.ai allerdings begrenzt, besonders wenn man bedenkt, was Toyota vorhat.

Toyota und die Fahrdaten

Toyota, einer der drei grössten Automobilhersteller der Welt, kündigte seinen Einstieg in die Kryptotechnik an und plant, Fahrdaten von Millionen von Fahrzeugen zu konzentrieren. Chris Ballinger, ehemaliger Direktor für Mobilitätsdienste am Toyota Research Institute, erzählte dem Online-Nachrichtenportal «TechCrunch»: «Hunderte von Milliarden von Meilen menschlicher Fahrdaten könnten erforderlich sein, um sichere und zuverlässige autonome Fahrzeuge zu entwickeln.» Warum sollte Toyota jemanden dafür bezahlen, diese Meilen abzufahren, wenn doch eine Krypto-Plattform oder ein Protokoll Dutzende von Millionen Fahrzeuge zu minimalen Kosten miteinander verbinden könnte? Auf die Neuigkeiten angesprochen, antwortete Comma.ai vage auf Twitter: «Hmm, wir untersuchen die Blockchain-Technologie ebenfalls... #protocoltoken.» Ich hoffe, sie meinen es ernst.

Zunächst spielte Toyota die Long-Tail-Strategie, die Comma.ai versuchen sollte. Doch der japanische Autohersteller kam nicht umhin, sich seinen Konkurrenten an der Spitze des Marktes anzuschließen. Am 27. August kündigte Toyota Pläne an, 500 Millionen Dollar in Uber zu investieren, um autonome Fahrzeuge in Serie herzustellen. Die «BBC» schrieb dazu: «Es wird als eine Möglichkeit für beide Unternehmen gesehen, zu den Konkurrenten auf dem wettbewerbsintensiven Markt für autonomes Fahren aufzuschliessen.»

Wird Toyota seine Blockchain-Initiative dann beenden? Man bedenke, dass, wenn Toyota die Daten in eine öffentliche Blockchain stellt, jeder, einschliesslich Konkurrenten wie Comma.ai und Googles Waymo, die Fahrdaten von Toyota nutzen kann, um ein besseres autonomes System zu schaffen.

Dieses Szenario stellt einen entscheidenden Test für Krypto dar. Wird Toyota seine Daten offenlegen und über Krypto verfügbar machen, um die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern? Oder werden sie die Daten für sich behalten und wie Waymo handeln? So oder so, der Fall zeigt, dass alle, sowohl einzelne Personen wie Hotz als auch Riesen wie Toyota, Krypto verwenden können, um dem Long Tail im Bereich autonomes Fahren Höhenflüge zu bescheren und dadurch Waymo den Vorteilen zu berauben, die es durch die Investition in Millionen von Probefahrten gewonnen hat.

Auf offenen Krypto-Protokollen und Plattformen werden Daten zu einem grossen Gleichmacher. Und Information werden Gegenstand von Schlachten. Wie an der Börse ist der Gewinner aber nicht die Partei mit den meisten Daten, sondern der Investor, der gemeinsame Datensätze analysiert, die Zukunft am besten vorhersagt und entsprechende Massnahmen ergreift.

Kryptographie im historischen Kontext

Wenn Krypto den konventionellen Weg von der Innovation zur Dominanz neu erfindet, werden wir in eine neue Ära des Webs eintreten. Um zu verstehen, warum es anders ist und warum es wichtig ist, müssen wir es mit unseren vergangenen und aktuellen Modellen vergleichen, wie unten in Diagramm C dargestellt.

Diagramm C: Die zweite Technologie-Dezentralisierung

The Second Inning of Tech Decentralization
Quelle: Philipp Stauffer, FYRFLY Venture Partners

Das Web 1.0 begann 1995, als die National Science Foundation (NSF) das NSFNet-Backbone ausser Betrieb nahm, wodurch das kommerzielle Web und die Herrschaft der Internetdienstanbieter entstand. Zu dieser Zeit freuten sich die technischen Koryphäen darüber, wie das Internet das bürgerliche Leben verbessern und den Einzelnen stärken würde. In einer 1996 von Microsoft-Mitbegründer Bill Gates verfassten Stellungnahme mit dem Titel «Internet will improve democracy» schrieb er, dass offene Informationen und eine offene Kommunikation «den Bürger in eine grundlegend mächtigere Position bringen wird als je zuvor».

Diese These wartet noch auf ihre Bestätigung.

So oder so, das Web 1.0 liess zentralisierte Fundamente wachsen, die immer noch dem Gemeinwohl dienten. Unternehmen wie Microsoft, Oracle, Amazon und Google kontrollierten sowohl die Anwendungsschicht als auch die Infrastrukturebene. Dies war unvermeidlich, da die Erstellung und Wartung der frühen Webtechnologie teuer war. Nur Unternehmen mit ausreichender Grösse konnten es sich leisten, Pferde ins Rennen zu schicken und uns Zugang zu dieser neuen Technologie zu verschaffen.

Die App-Revolution

Das Web 1.0 erfüllte Gates' Träume nicht. Dennoch startete es das moderne Internet. Die Einführung des iPhone im Jahr 2007 markierte den Übergang zum Web 2.0.

Dank iPhone und Apples App Store, dessen Idee Google für Android sogleich adaptierte, konnte jeder mit ausreichenden Kenntnissen eine iOS- oder Android-App programmieren, um jedes Problem praktisch kostenlos zu lösen. Die mobile Revolution dezentralisierte die App-Entwicklung und schuf so einen enormen Markt sowie Nachfrage und Adoption. Allerdings hat sich damit auch die Konzentration von Daten – und deren Kontrolle – auf wenige Unternehmen weiter verstärkt.

Das bedeutet nicht, dass diese wenigen Unternehmen einen schlechten Job machen. Im Gegenteil, sie haben den Konsumenten und Tausenden von erfolgreichen Unternehmen, die auf ihren Plattformen gewachsen sind, wertvolle Dienste erwiesen.

Heute kaufen die Verbraucher etwa 1,5 Milliarden Smartphones pro Jahr, um auf mehr als 7,1 Millionen Apps zuzugreifen, die von Apple, Google, Microsoft und Amazon zusammen angeboten werden. Allein Apple hat seit dem Start des App Stores im Jahr 2008 mehr als 100 Milliarden Dollar an seine App-Entwickler ausgezahlt.

Amazon Web Services (AWS), eine weitere Erfolgsgeschichte, brachte Einfachheit und Nutzbarkeit in die Rechenleistung und rief so Innovationen hervor – zu viel niedrigeren Kosten und mit minimalen Eintrittshürden. AWS hat die Grösse seines Kundenstamms seit dem ersten Quartal 2016 (damals 1 Million) nicht bekannt gegeben, aber sein Quartalsumsatz ist von 2,5 Milliarden Dollar auf fast 6,1 Milliarden Dollar im zweiten Quartal 2018 gestiegen.

Wenn Innovatoren diese beliebten Tools, künstliche Intelligenz (KI) und Infrastruktur nutzen, zentralisieren sie die «grossen Datenmengen» in wenigen Rechenzentren, die sich im Besitz dominanter Akteure befinden. Dort werden die Daten die nächste Generation von Algorithmen füttern. Effektiv bezahlen digitale Unternehmen und ihre Kunden für Cloud-Infrastrukturen und unterstützen KI, indem sie die Daten erschaffen, von der sich die KI ernährt. Es ist, als ob wir die Brunnen gebohrt und das Öl für die Technologieunternehmen gepumpt hätten. Die Bedingungen des Deals waren erst im Nachhinein klar.

Chris Dixon von Andreessen Horowitz zeichnet ein noch dunkleres Bild dieses Deals. Dixon sagt: «Wenn [zentralisierte Plattformen] starten, tun sie alles, um Benutzer und Komplementärprodukte von Drittanbietern wie Entwicklern, Unternehmen und Medienunternehmen zu rekrutieren.» Und sobald die Plattformen genügend Dritte angezogen haben, «ändern sich ihre Beziehungen zu den Netzwerkteilnehmern von einer positiven auf eine Nullsumme. Der einfachste Weg, um weiter zu wachsen, besteht darin, Daten von den Nutzern zu gewinnen und mit Drittanbietern um Zielgruppen und Gewinn zu konkurrieren.»

Dieses Lockvogel-Angebot hilft zu erklären, wie Unternehmen wie Facebook Macht angesammelt haben, ähnlich wie die Propagandaminister des 20. Jahrhunderts. Umgekehrt hat der Cambridge-Analytica-Skandal gezeigt, wie leicht ein Dritter die Datenschutzrichtlinien von Facebook (oder deren Fehlen) manipulieren kann, um Daten zu missbrauchen. Wie ich kürzlich in einem Interview über Facebook erörtert habe, hat der Zauberlehrling seinen Besen verloren.

Die führenden Datenanbieter erhielten den Weckruf und werden hoffentlich Massnahmen ergreifen. Mit Web 3.0 werden Anwender und Entwickler wohl nicht zweimal darüber nachdenken, ihr Geschäft von den grossen Technologieunternehmen fernzuhalten, die sich rücksichtslos mit zentralisierten Daten und der Ausbeutung Dritter verhalten haben.

Der Bitcoin als Antwort auf unregulierte Banker

Das Web 3.0 datiert wohl auf das Aufkommen des Bitcoins im Jahr 2008, wurde aber erst 2016 zu einer grossen Macht. Bitcoin scheint ein Produkt, geboren aus der Frustration von einem – oder vielen Menschen – über die Finanzkrise 2008, gewesen zu sein.

Dem allgemeinem Narrativ nach liessen monopolistische, unregulierte Banker und Versicherer die Weltwirtschaft abstürzen, wurden von den nationalen Regierungen gerettet – und erhielten weiterhin ihre Boni, während unzählige Menschen ihre Häuser, Arbeitsplätze, Ersparnisse verloren. Die Verbriefung von allem – der Tokenisierung von allem nicht unähnlich – ging nach hinten los.

Als 2016 das Web 2.0 wegen Macht- und Datenschutzmissbrauchs unter Beschuss geriet, hatte sich Krypto ausreichend entwickelt, um sich als Lösung anzupreisen. Der Theorie von Amaras Gesetz entsprechend, trat Krypto mit dem Bitcoin als Maskottchen in seine Hype-Phase ein.

Spekulative Investitionen in Bitcoin, die Milliarden von Papier- und Krypto-Währungen, die in Initial Coin Offerings (ICOs) ausgetauscht wurden, zweifelhafte Krypto-Werbungen und unrealistische Weissbücher kennzeichneten den Aufstieg von Krypto – und tun es manchmal immer noch. Schauen Sie sich das 4 Milliarden Dollar ICO von EOS an, das bisher grösste seiner Art, und sagen Sie mir, ob Sie erklären können, was das Unternehmen damit soll. Sicher, für die 4 Milliarden Dollar oder Kryptoäquivalenten in den Kassen sollte EOS eine Verwendung finden können, trotzdem erscheint das als keine verantwortungsbewusste und kluge Art des Investierens. Es scheint, als stünden wir kurz vor der Ernüchterungsphase in Amaras Gesetz.

Ein Reifeprozess

Sobald die Begeisterungs- und Ernüchterungsphase vorbei ist, können Krypto und Web 3.0 erwachsen werden. Das könnte die App-Landschaft weiter dezentralisieren und erstmals den Trend zur Zentralisierung von Daten brechen, wie in Diagramm D ersichtlich ist. Es wäre eine riesige Investition und eine unternehmerische Chance.

Im Diagramm werden zwei Szenarien dargestellt. Im Web 2.0 treiben die grossen Technologiekonzerne die Entwicklung einer eigenen, eingezäunten Garten-Cloud sowie Infrastrukturleistungen mit offenen KI-Tools voran. Das Web 3.0-Szenario hingegen ist eine wirklich offene Welt, die neben Open Data auch Vertrauen und eine offene KI bietet. Sie kann Innovationen auf neue Weise vorantreiben.

Diagramm D: Neue Grenzen: Artificial Intelligence, Self-Governance und Trust

Artificial Intelligence, Self-Governance and Trust
Quelle: Philipp Stauffer, FYRFLY Venture Partners

Öffentliche Kassenbücher können die Treuhandfunktionen übernehmen, die heute von Banken, E-Commerce-Plattformen und sozialen Netzwerken wahrgenommen werden. Ebenso kann eine Open-Source basierte KI die von grossen Technologieunternehmen entwickelte KI ersetzen.

Oder vielleicht werden die grossen Technologieunternehmen erkennen, dass es schwierig werden dürfte, mit offenen Netzwerken zu konkurrieren und ihre umzäunten Gärten ebenfalls öffnen. In den letzten drei Jahren haben dominante Technologieunternehmen ihre Beiträge zu Open-Source-Initiativen wie der Linux Foundation erhöht. Vielleicht werden sie sich auch für offene Krypto-Technologien erwärmen.

Bis dahin wird die unsichtbare Hand versuchen, Krypto zu zentralisieren. Wahrscheinlich wird sie daran aber scheitern. Schauen Sie nur, wie schnell ICOs Startup-Investitionen dezentralisiert haben. Im vergangenen Jahr haben sie 5,6 Milliarden Dollar mit durchschnittlich 12,7 Millionen Dollar pro Projekt gesammelt. Zum Vergleich: 2016 betrug die Summe nur 240 Millionen Dollar. Gemäss Zahlen von CrunchBase haben Global Angel und Seed Deals im Jahr 2017 lediglich 8,5 Milliarden Dollar eingebracht. Dennoch müssen die ICOs erst noch beweisen, dass sie langfristig eine erfolgreiche und nachhaltige Art der Kapitalbeschaffung für Unternehmer und Investoren sind.

Der Punkt ist, dass mächtige Institutionen wie die Risikokapitalbranche das Durchhaltevermögen eines Heliumballons haben, wenn Krypto ihr Modell berührt. Wir Risikokapitalgeber sind keine Torwächter mehr, welche die Gewinner auswählen und die Kapitalflüsse von der Seed-Phase bis hin zu Akquisitionen und Börsengängen kontrollieren. Vielmehr spielen wir eine grössere Rolle bei der Betreuung, Vernetzung und dem Wachstum erfolgreicher Ökosysteme von Unternehmern und Portfoliounternehmen.

Wie meine Partnerin Julie Allegro schreibt, ist die Impact-Investition die einzige Art, die noch übrig ist. Der Kryptoinvestor kann unter neuen Modellen operieren, welche die Zentralisierung aus kulturellen, ethischen und geschäftlichen Gründen in Frage stellen. Aber jeder Investor ist immer noch ein Investor und geht ein Risiko für eine angemessene Rendite ein.

Um Web 1.0 bis 3.0 zusammenzufassen: Das Internet wurde aus den Jefferson'schen Werten geboren und entwickelte sich zu einem mehr hamiltonischen Ort der Macht, der Zentralisierung und des Monopols. Bis vor kurzem starteten die meisten Unternehmen noch im Long Tail und kämpften darum, den Kopf zu erreichen, sei es durch Akquisitionen oder langfristiges Wachstum.

Mit dem Web 3.0 ist es besser möglich, als kleine, unabhängige Einheit im Long Tail zu bleiben. Ein Unternehmen kann inmitten eines offenen Netzwerks und einer Community kollaborieren, mit eigenem Anreizmechanismus (Token) und in Selbstverwaltung. Ein solches System könnte zu mehr Produktivität und Leistungsbereitschaft führen und damit in Zukunft zu erfolgreicheren Innovationen und Profit Pools führen. Diejenigen, die in diesem System Wert schaffen, wachsen mit dem Strom; diejenigen, die Wert extrahieren oder erodieren, werden ausgestossen. Die Krypto-Revolution kann dem Narrativ einer Demokratisierung durch das Internet eine zweite Chance geben.

Und jetzt?

Web 3.0 könnte die früheren Bestrebungen des Internets erneuern – Kreation, Informationen, Verbindungen und Innovationen zu demokratisieren. Es bedroht sowohl die Technologieriesen, die Daten horten, als auch die politischen Institutionen, die Monopole fördern.

Wahrscheinlicher ist, das Krypto Kollaborations-Ökosysteme und Gemeinschaften im Long Tail aufbauen wird, anstatt den Kopf zu zerstören und zu ersetzen. Einige Startups werden weiterhin eigene, geschlossene Ökosysteme schaffen. Die grossen Technologieunternehmen werden – in unterschiedlichem Mass – Krypto-Technologien aufnehmen. Genauso wie Cloud-Dienste in private, öffentliche und hybride Optionen unterteilt sind, kann davon ausgegangen werden, dass Krypto einen ähnlichen Weg geht. Die privaten und hybriden Optionen werden die eingezäunten Gärten eingezäunt halten.

Offen oder geschlossen: eine Debatte

Vielleicht geht es in Zukunft weniger um Unternehmen im Wettbewerb als vielmehr um Ökosysteme im Wettbewerb. Innerhalb jedes Ökosystems könnte es verbreitete Anwendungen, KI- und Infrastrukturschichten geben. Einige Ökosysteme könnten ineinandergreifen und Daten bündeln, andere könnten alleinstehen.

Aber, ähnlich wie im Film «Men in Black», der Sci-Fi-Komödie mit Will Smith und Tommy Lee Jones, können die Ökosysteme nur kleine Galaxien in grösseren Galaxien sein – kleine Technologie in großer Technologie. Dezentrale Ökosysteme könnten sich in ein Universum ausdehnen, das immer noch vom zentralisierten Netz kontrolliert wird.

Dennoch: Wenn man mit Innovatoren in Kryptozentren wie in Zug spricht, ist der Optimismus ansteckend. Die kulturellen Voraussetzungen dieser Startups deuten darauf hin, dass sie sich nicht mit einem Web 3.0 zufriedengeben werden, das von grossen Technologieunternehmen unterjocht wird. Sie unterstützen eine Form von «Little Tech», die ihre Werte nicht ausverkaufen oder gefährden.

Derweil können wir dem «Ultimate Unfair Competitive Advantage» einen Nachtrag hinzufügen: Die Daten- und Informationsprotokolle und Plattformen, die durch Krypto Offenheit schaffen, werden Vorteile gegenüber jenen Protokollen und Plattformen erlangen, die den Datenfluss und den Zugriff darauf einschränken. Einfach ausgedrückt: Krypto wird Plattformen die Möglichkeit geben, mehr Daten zu sammeln, Innovationen im unausgeschöpften Long Tail voranzutreiben und letztlich bessere KI-Algorithmen zu schaffen. Die Folge ist, dass ein wachsender «Fat Tail» das in Diagramm E dargestellte Wettkampfspiel neugestalten wird.

Diagramm E: Die Entstehung des Fat Tail

Emergence of the Fat Tail
Quelle: Philipp Stauffer, FYRFLY Venture Partners

Im Fat Tail reproduziert Krypto die Vorteile einer Firma, welche sie dadurch möglicherweise obsolet macht. Individuen (oder kleine Unternehmen) lehnen das «corporate life» zugunsten eines fluiden Marktes ab, der – durch dezentrale Mechanismen definiert –Talente und Ressourcen verteilt, Arbeit belohnt und Leistungen misst. Der Fat Tail vereint das Beste aus beiden Welten: einerseits die dynamische Kraft des Long Tails mit den Grössenvorteilen, Ressourcen und der Stabilität eines Ökosystems.

Die gemeinsame Nutzung von Protokollen, Codes, Daten und anderen Ressourcen fördert das Wachstum, die Produktivität und den Nutzen des Fat Tails. Sowohl die Open-Source-Bewegung als auch die Marktteilnehmer, die versuchen, die Entstehung von Open-Source-Krypto zu verhindern, werden beide profitieren, wenn sich Selbstverwaltung und Vertrauensmechanik als skalierbar erweisen. Insgesamt werden wir an Produktivität gewinnen und Innovationen schneller freisetzen.

Wenn der Fat Tail kommt, kann das Web 3.0 ein verkorkstes Internet-Ökosystem wieder richten, das unwissentlich zu viel Macht und Einfluss an zu wenige Technologieunternehmen abgegeben hat. Web 3.0 wird eine Neuerfindung des Kapitalismus sein.

Das Ergebnis könnte neue Wertschöpfungsketten erfinden und, um das Klischee des Silicon Valley zu übernehmen, unsere Welt zu einem besseren Ort machen. Allerdings: Aus neuen Freiheiten und Alternativen folgt auch mehr Verantwortung. In den nächsten 10 Jahren wird die Technologie tief in unser soziales Gefüge eindringen und zivilisatorische Herausforderungen wecken, die mehr als 100 Jahre lang gelöst schienen. Willkommen in einem neuen und besonneneren Internet.

* Philipp Stauffer ist Co-Gründer der Venture-Kapital-Gesellschaft Fyrfly Venture Partners.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich bei Knowledge at Wharton mit dem Titel «Thin Heads and Fat Tails: Understanding the Crypto Reinvention of Capitalism». Übersetzung für die «Handelszeitung»: Henning Hölder.