Von Politikern ist man gewohnt, dass sie sich in ihren Aussagen oft weit zum Fenster hinauslehnen. Das können sie auch, denn «was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?», wie schon Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, fragte. Nicht viel anders ist es bei vielen Börsengurus. Auch sie können immer wieder mit der Vergesslichkeit des Publikums rechnen. Und wenn ihre Voraussagen dann zufällig doch so herauskommen wie angekündigt, klopfen sie sich auf die Brust und betonen, man habe es ja schon immer gesagt.

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BILANZ hat die vor einem Jahr abgegebenen Börsenprognosen auf ihre Treffsicherheit hin untersucht. Die vage Hoffnung: Es könnte auf einige der hemdsärmeligsten Auguren disziplinierend wirken, wenn sie sich bewusst sind, dass ihre füheren Aussagen nicht einfach der Vergessenheit anheimfallen.

Jeder zweite Anlageguru lag falsch

Grund, sich auf die Brust zu klopfen, haben nämlich nur wenige der meistzitierten Börsenauguren. Einen prognostischen Totalcrash haben dagegen – nicht zum ersten Mal – gerade die ewigen Crashpropheten erlebt. Börsenguru Marc Faber etwa weissagte vor einem Jahr in einem Blog-Eintrag, die Aktienmärkte könnten schon bald unter verstärkten Druck geraten, weil die Weltwirtschaft nur schwach wachsen oder möglicherweise sogar schrumpfen werde. «Nachdem sich die US-Börse seit 2009 verdreifacht hat, wäre ich trotz der Notenbankgeldschwemme sehr vorsichtig», fabulierte Faber Anfang Jahr.

In Wirklichkeit ging es in diesem Jahr an fast allen Börsen noch einmal stark nach oben.

«Jetzt aber Vorsicht!», riet auch Felix Zulauf, Gründer und Präsident von Zulauf Asset Management. Er prognostizierte für das erste Halbjahr 2014 eine deutliche Korrektur an den Aktienmärkten. Dies vor allem aus charttechnischen Gründen: «Die immer neuen Indexhochstände werden von immer weniger neuen Aktien mit einem 52-Wochen-Hoch begleitet. Und immer mehr Aktien rutschen unter ihren charttechnisch relevanten 200-Tage-Durschnitt.» Folglich werde es Korrekturen geben, die auch schon mal grösser als zehn Prozent ausfallen könnten. Dafür sagte Zulauf ab Mitte 2014 ein Goldrally voraus, was sich als völlig falsch erwies.

Besonders krass danebengegriffen hat dieses Jahr Roland Leuschel, der ehemalige Stratege der Banque Bruxelles Lambert und notorische Schwarzmaler. Der von ihm seit drei Jahren vorausgesagte Megacrash hat auch 2014 nicht stattgefunden. Seit dem Jahr 2011 warnt Leuschel vor einem «Fukushima» an den Märkten, einem Börsenkrach, der alle bisherigen Beben wie leichte Vorbeben aussehen lasse. Auch die beiden Ratschläge des Rohstoffgurus Jim Rogers waren schlicht falsch: Weder der Dollar noch die Aktienmärkte sind 2014 eingebrochen, wie er vorausgesagt hatte.

Das Zufallsprinzip gewinnt

Diese vier Beispiele von nicht gerade hellsichtigen Prognosen könnten problemlos durch weitere ergänzt werden, wie eine Studie des US-Beratungsunternehmens CXO Advisory zeigt. Die Beratungsfirma hat sämtliche öffentlichen Ratschläge von 68 Anlagegurus, die zwischen 2005 und 2012 abgegeben wurden, unter die Lupe genommen und ausgewertet. Das ernüchternde Resultat: Die prominenten Grossmeister des Anlegens lagen nicht einmal in der Hälfte der Fälle richtig. Mit andern Worten: Wer nach dem Zufallsprinzip vorging, schnitt besser ab.

Bei einer ganzen Reihe von Markttechnikern sieht die Bilanz nicht viel besser aus. Etwa beim deutschen Börsenchartisten Robert Rethfeld (Wellenreiter Invest), der auf lange Zyklen abstellt. Lediglich in wenigen US-Zwischenwahljahren (1954, 1958, 1986, 2006) konnte nach seinen Beobachtungen eine zweistellige Korrektur an den Börsen vermieden werden: «Die Wahrscheinlichkeit eines Verlustes in zweistelliger Höhe ist heuer mit 80 Prozent also recht hoch», behauptete er Anfang Jahr. Mag sein, traf aber nicht ein.

Der bekannte Markttechniker Roland Vogt zeigte sich ebenfalls skeptisch: «Zunächst einmal werden die Schwankungen an den Börsen weiter zunehmen. Diese Schwankungsphase wird aber nicht ewig dauern. Anfänglich noch höhere Kurse müssten bei weiter gewachsener zyklischer Reife zuletzt zu einem Überlastungsbruch führen.»

Wie die Gurus, so die Wirtschaftsprofessoren. Auch sie haben sich bei ihren heurigen Vorhersagen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Beispielsweise der US-Starökonom Nouriel Roubini: «All die riskanten Dinge aus den Jahren 2006 und 2007 sind wieder zurück. Und zwar auf dem gleichen Niveau, wenn nicht sogar höher», sagte er Anfang Jahr. Die gleichen Sorgen drückten dannzumal auch William White, den früheren Chefökono-men der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ): «Das heutige Umfeld ist vergleichbar mit der Zeit um 2006 und 2007.» Was auf eine gefährliche Kreditblase hindeute.

Für André Kostolany waren vor allem die Fehlgriffe von Wirtschaftsprofessoren keine Überraschung. «Wenn Ökonomen tatsächlich zuverlässig gute Börsenprognosen liefern könnten, wären ja alle sehr reich. Das sind sie aber offensichtlich nicht», erklärte der vor fünfzehn Jahren verstorbene Börsenaltmeister.

Doch es geht auch bedeutend besser. Anders als die meisten Gurus und viele Starökonomen haben die Bankanalysten vor einem Jahr trotz schwieriger Ausgangslage befriedigende bis stimmige Prognosen abgegeben. Vor allem solche, die sich auf gründliche fundamentale Analysen und/oder Erkenntnisse der Behavioral Finance abgestützt haben. Treffsichere Voraussagen sind etwa den Strategen von Julius Bär, Lombard Odier, J. Safra Sarasin, der Zürcher Kantonalbank, der Credit Suisse und der UBS gelungen. Ähnlich gut oder gar noch besser schnitten unabhängige Vermögensverwalter ab.

Handwerk und Erkenntnis

Für Philipp Bärtschi, Anlagestratege der Bank J. Safra Sarasin, ist ein sorgfältig erarbeitetes Basisszenario die Grundlage für eine gute Prognose. Für Andreas Knörzer, Leiter Asset Management der Notenstein Privatbank, ist die Bereitschaft wesentlich, auch unkonventionelle Szenarien zu analysieren. Die UBS ihrerseits setzt nach Chefökonom Daniel Kalt auf einen sehr strukturierten Prognose- und Anlageprozess und ein globales Netzwerk von Ökonomen und Analysten. Und für den erfahrenen unabhängigen Zürcher Vermögensverwalter André Kistler, geschäftsführender Partner der Zürcher Vermögensverwaltungsfirma Albin Kistler, war entscheidend, den «epochalen Zinssenkungsprozess» rechtzeitig erkannt zu haben.

Weil dieser Prozess weiter wirkt, ist das Ende der Fahnenstange an den Aktienmärkten gemäss Kistler noch nicht erreicht. «Wir leben in einer gänzlich neuen Epoche mit grundlegend neuen Rahmenbedingungen: Die fortschreitende Globalisierung, die stetige Ausbreitung des Internets, die demografische Überalterung, die rekordhohe Verschuldung der Staaten und der fehlende Reformwille werden dazu führen, dass die Notenbanken den Fuss bis auf weiteres nicht vom Geldpedal nehmen können», ist der Zürcher Vermögensverwalter überzeugt: «All die genannten Faktoren sind kaum umkehrbar. Sie werden noch auf Jahre hinaus deflationär wirken und die Zinsen nachhaltig drücken.»

Dies sei ein günstiges Umfeld für Unternehmen. Die Aktienkurse könnten deshalb auch 2015 zweistellig steigen. Die Besitzer von Dividendenwerten dürften sich also erneut die Hände reiben. Oder sollten sie doch besser vorsichtig sein?

Positiv gestimmte Analysten

Das ist noch nicht nötig, meint das Gros der Bankstrategen. Auch sie halten die Daumen für die Aktienmärkte nach oben. Notenstein-Mann Andreas Knörzer sieht das grösste Potenzial in Japan und Deutschland. In den USA und in unserem Land seien dagegen nur Kursfortschritte um fünf Prozent zu erwarten. Fast identische Prognosen kommen von Philipp Bärtschi von der Bank J. Safra Sarasin. Anders sieht es indes UBS-Mann Daniel Kalt: «Gerade die USA werden den Aktieninhabern im nächsten Jahr am meisten bieten», lautet seine Überzeugung. Er sieht aber auch für Schweizer Dividendenwerte ein schönes Potenzial.

Eitel Sonnenschein also? Mag sein. Trotzdem ist es ratsam, gegenüber allen Prognosen vorsichtig zu bleiben. Speziell auch gegenüber Börsenprognosen.

Den Voraussagen der Profis haftet nach Ansicht des deutschen Finanzmarktforschers Markus Spiwoks nämlich ein grundsätzlicher Makel an: «98,5 Prozent der Prognosen reflektieren viel mehr die Gegenwart als die Zukunft», hat er bei seinen Untersuchungen herausgefunden. Wann, wo und wer die Tipps abgegeben habe, sei unerheblich. «Analysten geben nur Variationen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit ab und übertragen das dann auf die Zukunft. Sie prognostizieren eigentlich gar nicht», folgert Spiwoks, der früher selbst ein Analystenteam einer Bank leitete.

Die Wissenschaft selber hat für die oft grosse Mühe der Experten bei deren Voraussagen zwei Haupterklärungen. Eine ist die Selbstüberschätzung (Overconfidence). Weil die Fachleute in ihren Bereichen über ein sehr grosses Wissen verfügen, schätzen sie ihre Prognosefähigkeit regelmässig als zu hoch ein. Die andere: Sie stützen sich immer auf Modelle ab. So ausgetüftelt und komplex diese auch sind: Sie gehen stets von bestimmten Voraussetzungen aus (zum Beispiel, dass keine Naturkatastrophe oder kein Krieg eintritt).

Tipps für Anleger

Was also sollen die Anlegerin und der Anleger tun, wenn selbst die Besten des Fachs bei Börsenprognosen häufig scheitern, ja scheitern müssen?

Erster Tipp: Die Anlagen immer auf verschiedene Anlageklassen aufteilen. Dies auf Basis einer langfristigen Strategie. So kann ein Portfolio am besten gegen die offensichtlich unvermeidlichen Prognosefehler abgesichert werden. Speziell auch gegenüber den eigenen.

Zweiter Tipp: Gestaffelt und regelmässig anlegen. So lassen sich die Prognoserisiken zusätzlich eindämmen. Man entgeht so der Gefahr, gerade im dümmsten Moment Aktien zu kaufen oder zu verkaufen. Je stärker die Märkte schwanken, desto erfolgreicher ist diese Methode.

Dritter Tipp: Sich auf den eigenen Bauch verlassen. Das Bauchgefühl, speziell auch bei Frauen, liefert bei gesellschaftlichen Fragestellungen sehr oft bessere Resultate als mechanistische Modelle. Gerade Anlegerinnen, aber auch Anleger sollten deshalb den Mut haben, selber Entscheidungen zu treffen. Anders als in den Naturwissenschaften sind Laienprognosen im sozialwissenschaftlichen Bereich regelmässig besser als noch so sorgfältig erarbeitete Expertenprognosen.

Nicht von ungefähr schnitten Fussballexperten wie Gilbert Gress, Raphael Wicky und Alain Sutter bei ihren Matchprognosen im Schweizer Fernsehen meist klar schlechter ab als das Publikum. Ähnlich sieht es bei politischen oder wirtschaftlichen Prognosen aus, ob nun Abstimmungsergebnisse, Zinsen, Währungen, Rohstoffpreise oder Börsenkurse vorhergesagt werden sollen. Selbst ist die Frau oder der Mann.