Gescheiter an der Börse investieren

Weltweit forschen Tausende Wissenschafter im Bereich Finanzen und Börsen an den insgesamt 30'000 Universitäten auf der Erde. Selbst wenn man sich auf die 100 Top-Lehranstalten konzentriert, werden in den Büros der rund 1000 dort tätigen Professoren noch immer mehrere tausend Studien pro Jahr verfasst. Leider sind die meisten davon nicht nur kompliziert geschrieben, sondern bieten auch null Nutzwert, schon gar nicht für Privatanleger. Darin brauchbar Relevantes für Privatanleger zu finden, gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Dieser Suche hat sich Elisabetta Basilico erfolgreich verschrieben. Die Italienerin hat in den USA studiert und an der Universität St. Gallen promoviert. Die Co-Autorin des Buches «Smart(er) Investing: How Academic Insights Propel the Savvy Investor» lebt heute ausserhalb von Mailand, schreibt für Fachmagazine und für den Blog Academicinsightsoninvesting.com und berät Vermögensverwalter und Family Offices. Sie liest sehr viele Studien. «Dabei finde ich immer wieder eine. Etwa jene, die zeigt, dass sich die Kursrichtung einer Aktie am Ende eines Börsentages meist akzentuiert», sagt sie. Vereinfacht gesagt: Wenn die Nestlé-Aktie am Morgen steigt, hüpft sie am Ende des Tages noch etwas weiter nach oben. In der letzten halben Stunde verkaufen Man weiss, warum es diesen Effekt gibt. Das ist zwar etwas komplizierter, aber hier für interessierte Leserinnen vereinfacht erklärt: Es gibt Finanzkontrakte, die werden Call-Optionen genannt. Die geben dem Käufer das Recht, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft und zu einem bestimmten Preis eine bestimmte Anzahl einer bestimmten Aktie zu kaufen. Je höher nun der Kurs dieser Aktie steigt, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Käufer dieser Call-Optionen ihr Recht auf den Kauf wirklich nutzen. Deswegen müssen sich die Verkäufer (Emittenten) der Call-Option absichern. Je höher die Aktie steigt, desto mehr dieser Aktie kaufen sie schon mal vorsorglich. Das verstärkt den Aktienkursanstieg während des Tages.Die sechs grössten Risiken für den Bullenmarkt Anlegerinnen und Anleger schauen positiv in die Zukunft, die Aktienmärkte laufen heiss. Wie lange noch? Die grössten sechs Gefahren im Überblick. Im umgekehrten Fall wird ein Aktienkursrutsch am Ende des Tages auch verstärkt. «In der entsprechenden Studie wird es etwas exakter präsentiert und in eine wissenschaftlich überprüfbare Form gebracht. Beispielsweise wird ‹am Ende des Tages› als die letzte halbe Stunde vor Börsenschluss definiert.» An der Schweizer Börse wäre das zwischen 17 und 17.30 Uhr. In der Studie wird so eine Intraday-Trading-Strategie beschrieben: Man kauft am Morgen eine Aktie, die schon etwas gestiegen ist, und verkauft sie in der letzten halben Stunde wieder – meist mit Gewinn, wie die Studie als Ergebnis festhält. In der Fachsprache wird diese Handelsstrategie als Intraday-Momentum bezeichnet. Momentum bedeutet, dass man auf Gewinner setzt, die wahrscheinlich wieder gewinnen. Warum das funktioniert, lässt sich an einem Vergleich mit Sportwetten illustrieren, etwa beim Tennis: Mit einer Wette auf einen Sieg von Roger Federer oder Novak Djokovic in Wimbledon hat man meist bessere Gewinnchancen, als wenn man auf jemanden setzt, der im letzten Jahr in der ersten Runde des Turniers scheiterte. Die Momentum-Strategien haben sich an der Börse bewährt. «Allerdings würde ich Intraday den Privatanlegern nicht empfehlen, weil die Handelskosten für sie zu hoch sind», sagt Basilico. Aber wenn ein Privatanleger seine Nestlé-Aktien heute sowieso verkaufen will, könnte er sich danach richten: Wenn die Aktie am Morgen fällt, verkauft er sie sofort. Wenn sie steigt, wartet er bis zur letzten halben Stunde des Handelstages, weil sie dann noch etwas mehr Gewinn bringen dürfte. «Ja, aber Privatanleger sollten sich dann am Ende des Tages nicht dazu verleiten lassen, jetzt doch nicht zu verkaufen und zu schauen, was der Titel am folgenden Tag noch machen könnte.» Die Verführung durch die Börse passiere öfter, als Privatanleger im Allgemeinen glaubten. Verführung ist ein wichtiges Thema bei Börsenanlagen. Die Psyche spielt Anlegern oft einen Streich. Rein theoretisch sollten Privatanleger all ihr Geld in Aktien investieren – wenn sie länger als 15 Jahre investiert bleiben und breit diversifizieren, in viele verschiedene Aktien. Weniger Aktien, als der Berater empfiehlt Aber leider tun das die wenigsten wirklich. Ehrlicherweise muss gesagt werden, dass Privatanleger viel Blödsinn mit ihrem Geld an der Börse machen, weil sie emotional gesteuert sind: Sie kaufen zu Höchstkursen, weil sie Angst haben, Börsengewinne zu verpassen. Sie verkaufen zu Tiefstkursen, weil sie fürchten, dass nicht nur die Börse, sondern das ganze Wirtschaftssystem kollabieren könnte. Das oben mag sich übertrieben anhören, aber Anleger müssen grosse Kursschwankungen an der Börse aushalten können. Deswegen kann nicht jeder mit 100 Prozent Aktien umgehen. Darum ist es so wichtig, dass jeder Investor einen Aktienanteil hat, der zu seinem Risikoprofil passt. «Das ist einer der wichtigsten Punkte, die ich in der Beratung von Family Offices angehe», sagt Basilico. Gemäss ihren Berechnungen wird die Risikofreude von Anlegern meistens überschätzt. «Normalerweise zeigen die Vermögensverwalter ihren Kunden das Risiko eines Portfolios genau an einem Tag, etwa am 31. Dezember.» Das wird dem Kunden dann als Verlustrisiko präsentiert. Es reflektiert aber nicht das wahre Risiko während des ganzen Jahres. Wer 60 Prozent Aktien und 40 Prozent Obligationen hat, dem werde per Stichtag 31. Dezember gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, 3 Prozent Verlust zu erleiden, nur 9 Prozent betrage. Also würde man nur in einem von zehn Jahren am Ende des Jahres einen Verlust von 3 oder mehr Prozent verkraften müssen. «Aber wenn die Tage während des Jahres in die Analyse miteinbezogen werden, steigt die Wahrscheinlichkeit auf 49 Prozent.» Also müssen die Anleger fast in jedem zweiten Kalenderjahr irgendwann während des Jahres mindestens mit einem Verlust von 3 Prozent umgehen können. «Das hört sich nach wenig an, aber bei vermögenden Kunden können 3 Prozent schnell 300'000 Franken sein.» Zudem erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Verluste in turbulenten Zeiten. Wer 60 Prozent Aktienanteil hat, muss damit rechnen, dass er mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit 7 Prozent verlieren wird. «Mein Rat für Anleger ist es, dass sie ihre Vermögensverwalter fragen, ob das Risiko während des Jahres eingerechnet ist.» Falls nicht, sollten sie weniger Aktien nehmen, als der Vermögensverwalter vorschlägt. Erfahrene Private Banker investieren sowieso immer konservativer, als ihre Kunden wollen. Weil sie wissen, dass die vermögenden Kunden auch zufrieden sind, wenn es etwas weniger Gewinn gibt. Im Vergleich dazu können sie bei höheren Verlusten sehr ungehalten werden. «Noch besser wäre es, wenn die Vermögensverwalter die Risiken korrekt messen würden», sagt Basilico dazu. Am besten wäre es, wenn Privatanleger die Kursschwankungen ihrer Anlagen 15 Jahre gar nicht beobachten würden, sich davon nicht verrückt machen lassen würden. Allerdings ist mit den neuen Möglichkeiten im Mobile-Banking eher das umgekehrte der Fall. Die Leute schauen mehrmals pro Tag auf ihr Depot, kaufen und verkaufen viel zu oft. So häufen sie unnötige Handelskosten an. Die Handelskosten sprechen auch gegen die Intraday-Momentum-Strategie. Aber es gibt andere Momentum-Strategien, die für Privatanleger funktionieren können. Eine der besten ist es, auf die Gewinner der vergangen zwölf Monate zu setzen, ohne den letzten Monat miteinzubeziehen», sagt Basilico. Man würde also im März 2021 den Monat Februar 2021 nicht miteinbeziehen. Sondern schauen, welche Aktien zum Beispiel im Schweizer Aktienindex SMI von Ende Januar 2020 bis Ende Januar 2021 am meisten Kursgewinne an der Börse gebracht haben, und diese kaufen. Es gibt zwar auch Fonds, die Momentum-Strategien anwenden. Aber: «In einem Fonds ist oft nicht das drin, was draufsteht», so Basilico, die das an sogenannten Value-Fonds festmacht. Value bedeutet sehr vereinfacht, dass der Fondsmanager Aktien mit günstiger Bewertung kaufen sollte. «Die kaufen oft so viele Aktien, dass der Fonds am Schluss nicht mehr als irgendein Indexfonds ist», sagt Basilico. Dabei wäre so ein Indexfonds viel günstiger zu kaufen. In die gleiche Richtung geht es bei sogenannten Smart-Beta-Fonds. Damit habe man oft eben gar nicht das, was man habe kaufen wollen. «Anleger sollten keine teuren Fonds kaufen, die in 300 verschiedene Aktien investieren, sondern eher solche, die nur in 30 Aktien investieren. Letztere müssen wirklich von den 30 Aktien überzeugt sein», sagt Basilico. Besser Fonds als Einzelaktien Basilico gehört einer Minderheit in der Anlageindustrie an. Frauen sind hier völlig unterrepräsentiert. Weniger als 1 Prozent des weltweiten Anlagevermögens wird von Frauen verwaltet. «Dabei verwalten sie Vermögen nicht schlechter als Männer», so Basilico. Die Vermögen würden Frauen weniger zu Verwaltung anvertraut. Deswegen stellten Vermögensverwalter sie wiederum weniger für diese Jobs an. Ein Teufelskreis, aus dem nur ganz wenige herausragende Fondsmanagerinnen international erfolgreich herausgetreten sind, wie etwa Cathie Wood, die Chefin des Vermögensverwalters ARK Invest. Wenn man die Abschlüsse nach Ausbildungsfachrichtungen anschaut, sind Frauen im Thema Vermögensverwaltung noch deutlich seltener als in anderen Fachrichtungen. Das lässt sich anhand der Abschlüsse als Chartered Financial Analyst zeigen. Diese international anerkannte Ausbildung hat Basilico auch abgeschlossen. Bis dahin ist es ein harter dreijähriger Weg: Nur ein Fünftel aller, die diese Ausbildung beginnen, schliessen sie auch ab. Basilico gehört zu den wenigen Frauen darunter. Nur 18 Prozent derjenigen, die einen CFA-Titel haben, sind Frauen. Dagegen sind es bei den Anwältinnen immerhin 33 Prozent, bei den Ärztinnen 37 Prozent und beim CPA, dem Äquivalent zum CFA für Buchhaltungsexperten, sind es sogar 63 Prozent Frauen. Ausgerechnet Buchhaltung hat also einen so hohen Frauenanteil. Das erstaunt und kann gleichzeitig zuversichtlich stimmen wegen einer anderen Studie zu den Frauen als Finanzchefinnen, also CFO. «Eine Studie hat folgendes ergeben: Wo eine Frau CFO ist, gibt es weniger Schummeleien in der Buchhaltung», so Basilico. Anleger, die in Aktien von Firmen mit weiblicher CFOinvestieren, können sich also etwas sicherer fühlen. Basilico selber investiert kaum in Aktien von einzelnen Firmen. Sie rät Privatanlegern, das auch so zu halten. Wenn doch in Einzeltitel investieren, dann würde sie empfehlen, den Betrag auf höchstens 5 Prozent des Vermögens zu begrenzen. Besser sei es, in Fonds mit tiefen Kosten zu investieren, die wirkliche Momentum- oder Value-Strategien verfolgen. So investiert Basilico.