Herr Guzzella, trifft die Digitalisierung die Schweiz als Wissensnation stärker oder schwächer als andere Länder?
Lino Guzzella*: Die Digitalisierung trifft jedes Land. Aber die Schweiz stützt sich auf intellektuelle Produkte. Die Schweiz trifft es daher stärker als ein Land, das sich auf Rohstoffe, Massenproduktion, Agrarwirtschaft stützt. Unsere Finanzwirtschaft, unser Gesundheitswesen, unsere Hightech-Industrie, auch unser Tourismus profitieren noch stärker von der Digitalisierung.

Sie sagen «profitieren». Das impliziert: Für Sie ist Digitalisierung automatisch etwas Positives.
Das ist die Gretchenfrage: Sieht man die Entwicklung als Gefahr oder als Chance? Und wie immer im Leben ist es ein Sowohl-als-auch. Für mich liegt das Schwergewicht aber klar auf der Chance. Wir sind bestens vorbereitet: Wir haben die DNA, die Strukturen, wir können und müssen diese Chance packen, um den Wohlstand in diesem Land zu mehren.

Viele Menschen haben Angst vor der Digitalisierung.
Diese Angst gibt es, und ich verstehe alle, die Angst haben. Jede Veränderung verursacht Ängste. Gleichzeitig dürfen uns diese nicht lähmen. Man muss sich auf die Chancen fokussieren, denn sie sind enorm. Das Internet macht gerade eine interessante Transformation durch, es transportiert nicht mehr nur Information, sondern vermehrt auch Substanz. Man könnte dem «Internet 2.0» sagen.

Sie meinen das Internet der Dinge?
Auch. Wenn man das Internet mit der realen Welt verknüpft, kann man Energiesysteme, Nahrungsketten, Verkehrsflüsse und vieles mehr optimieren. Das Netz wird für die Menschheit noch wichtiger. Auch ökonomisch gesehen: Immer mehr werden so auch finanzielle Werte transportiert und verwaltet. Verträge werden heute im Internet günstiger und schneller abgewickelt. Denken Sie an die Blockchain, die ganz neue Geschäftsmodelle in Bereichen wie Vermögensverwaltung, Grundbuch, Versicherungen oder Gesundheitswesen erlaubt. Da gibt es enorme Chancen, besonders für ein Land wie die Schweiz, das ja auf Verträgen basiert, auf Rechtssicherheit. Da müssen wir mitmachen.

Und wer wird bei der Digitalisierung auf der Strecke bleiben?
Der Mensch hat die wunderbare Eigenschaft zu lernen. Bei allen grossen Umwälzungen - als der Mensch vom Dasein als Jäger und Sammler zu einer Agrarwirtschaft überging, als später die Industriewirtschaft entstand, als man die Elektrizität einführte - hatten die Leute Angst. Denken Sie nur an den Maschinensturm in Uster, als die Arbeiter im Jahr 1832 die Webstühle anzündeten. Das hat die Entwicklung allerdings nicht aufhalten können. Auch dieses Mal wird es so sein. Aber ja: Es wird nicht nur neue Berufe geben, bestehende werden sich verändern oder gar verschwinden. Wichtig ist, dass wir als Gesellschaft die Härtefälle des Wandels mit geeigneten Massnahmen abfedern.

Wer also bleibt auf der Strecke?
Was kann eine Maschine gut? Es sind Fragen, deren Beantwortung klar beurteilt werden kann: gut oder schlecht, richtig oder falsch. Bei Einschätzungen mit Grautönen wird es schon schwierig. Jobs, die schnell zu einfachen Resultaten kommen, sind also gefährdet. Denken Sie an den Beruf des Primarlehrers: Wann können Sie einschätzen, ob sein Ergebnis gut oder schlecht ist? Sie sehen es nicht nach der Lektion, auch nicht nach der Prüfung. Vielleicht sehen Sie es erst am Schluss des Lebens jenes Menschen, den Sie da ausgebildet haben. Solche Berufe sind kaum gefährdet. Tätigkeiten, die stark mit Intuition, Emotion, Empathie, Kreativität zu tun haben, gewinnen an Bedeutung. Und sie werden durch die Digitalisierung unterstützt.

Die ETH gilt als beste technische Hochschule Kontinentaleuropas. Aber anders als in Stanford, Berkeley oder Boston gibt es keine Start-ups, die von hier aus die Welt verändern. Warum?
Das ist eine Frage, die ich mir manchmal stelle, wenn ich nachts um drei aufwache.

Wie oft passiert das?
(Lacht) Leider zu häufig. Ich habe keine Antwort, aber ein paar Vermutungen. Ein erster Grund ist die Grösse des Heimmarktes. Wer im Silicon Valley ein Start-up gründet, hat sofort Zugang zu 320 Millionen Kunden mit einem relativ grossen Wirtschaftspotenzial.

Mit dieser Begründung dürfte es keine Nestlé geben, keine Roche, keine Novartis, keine ABB.
Aber die sind ja nicht von heute auf morgen so gross geworden. Wir wissen noch nicht, ob nicht eines unserer Start-ups irgendwann die Grösse jener Firmen erreichen wird, die Sie gerade genannt haben.

Aber die amerikanischen Firmen, die Googles und Facebooks, schaffen es in kurzer Zeit.
Eben, vielleicht weil sie schnell und ohne Hürden grosse Märkte angehen können. Dann ist in der Schweiz eine gewisse calvinistisch-zwinglianische Grundhaltung vorhanden: Man ist bescheiden. Man muss erst sicher sein, dass das Produkt funktioniert. Man bringt nichts Halbfertiges auf den Markt. Der Schweizer ist tendenziell risikoscheu. Uns fehlt das Frechheits-Gen, dieses Selbstvertrauen: The sky is the limit. Das liegt daran, dass uns die Flower-Power-Bewegung fehlte.

Nanu, was hat die damit zu tun?
Flower Power hat in Kalifornien in den späten sechziger Jahren die Geistesöffnung gebracht: die kulturelle Offenheit, dass nichts unmöglich ist. Und es gibt noch einen weiteren Grund: Das US-Militär hat Milliarden ins Silicon Valley investiert, als man nach dem Zweiten Weltkrieg das Potenzial der Halbleitertechnologie erkannte. Daraus sind Firmen wie Intel, Fairchild, Motorola, Texas Instruments etc. entstanden. Und ohne die gäbe es heute keine Google oder Apple.

Auch der israelische Start-up-Cluster ist stark militärgetrieben.
Genau!

Das heisst, eigentlich haben wir eine zu schwache Armee, um in der Schweiz einen IT-Cluster zu bilden.
Wir haben nicht eine zu schwache Armee. Aber es würde helfen, wenn sich die Armee mehr mit Bildung und Forschung vernetzte. Und ich kann, ohne hier aus dem Nähkästchen zu plaudern, sagen: Entsprechende Gespräche laufen.

In welchen Bereichen sehen Sie Chancen, dass in der Schweiz ein Cluster entsteht?
Wir haben bereits einen Cluster im Bereich Machine Learning mit diversen Firmen, angefangen bei Google und ihrem Forschungszentrum in Zürich. Auch in Computer Vision sind wir sehr stark. Oder im Bereich Hard- und Softwareintegration - etwa bei den Betriebssystemen für Drohnen. Zum Thema Cybersecurity haben wir eine starke Forschung an der ETH. Und in Sachen Robotik sind wir eines der Weltzentren. Aber grundsätzlich gilt: Wir müssen nicht nur die Grundlagen in der Infrastruktur und der Ausbildung legen, sondern das auch in Geschäftsmodelle umsetzen. Da ist das Potenzial noch nicht ausgeschöpft.

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Die Stanford University erhält jedes Jahr rund 100 Millionen Dollar aus eigenen Patenten. Wie viel erhält die ETH?
Deutlich weniger. Es ist nicht der Ansatz der ETH, Patente und Lizenzen als Geldmaschinen zu benutzen. Unser Ansatz ist es, möglichst viele Jobs zu kreieren, indem wir Firmen gründen oder Wissen in bestehende Firmen transferieren. Deshalb wollen wir die Firmen nicht mit hohen Lizenzabgaben knebeln. Unsere Abteilung für Technologietransfer - das sind etwa 20 Leute - soll sich selbst tragen, inklusive der Patentkosten. Mehr wollen wir nicht. Stanford ist eine private Uni, die ein anderes Geschäftsmodell hat.

In diesem Fall haben Sie spätestens dann ein Problem, wenn eine Firma wie Google, Apple oder Facebook ein ETH-Spin-off übernimmt. Das Know-how, das Sie verschenkt haben, wandert dann in die USA.
Es wandert nicht in die USA, denn die meisten unserer Spin-off-Firmen bleiben in Zürich. Das ist eine grosse Befriedigung für uns.

Aber das Patent wird ja genauso am Hauptsitz dieser Firmen eingesetzt. Der Schweizer Standortvorteil ist dann weg.
Grundsätzlich bleibt die ETH Eigentümerin der Patente. Wir verkaufen sie nicht, wir lizenzieren sie. Wenn solche Deals stattfinden, muss man also noch einmal verhandeln. Manchmal beteiligen wir uns an unseren Spin-offs - allerdings in kleinem Umfang.

Derzeit nur an 25. Die US-Universitäten sind an Hunderten Firmen beteiligt.
Noch mal: Das sind private Universitäten. Die dürfen das. Wir können keine Steuermittel einsetzen für Risikokapital. Das würde nicht goutiert, und das würde ich auch nicht befürworten. Wenn wir Geld einsetzen, muss es über externe Donationen kommen, über Patenteinnahmen oder Ähnliches. Aber um die Verhältnisse aufzuzeigen: Stanford hat eine Stiftung im Umfang von 20 Milliarden, Harvard von 30. Der Polyfonds der ETH umfasst keine 50 Millionen. Deshalb machen wir bei späteren Finanzierungsrunden der Start-ups auch nicht mit. Entsprechend werden unsere Beteiligungen regelmässig verwässert, und damit sinkt auch unser Anteil am Erlös, falls die Firma verkauft wird.

Wie gehen Sie damit um, dass Firmen wie Google, Apple, Facebook oder Go-Pro Ihnen die besten Wissenschaftler abwerben?
Ich ärgere mich, dann gehe ich Sport machen, und wenn ich zurückkomme, berufe ich neue, junge Wissenschaftler, die noch besser sind als jene, die gegangen sind. Es hat so viele Talente auf der Welt. Wenn die Schweiz dafür offen ist und ihre Talente sich hier auch entfalten lässt, dann werden wir weiterhin das erleben, was wir die letzten 200 bis 300 Jahre erlebt haben: dass Leute, die nicht in der Schweiz geboren wurden, das Land wirtschaftlich weiterbringen. Wie die Hugenotten, welche die Uhrenindustrie ins Land gebracht haben, wie Henri Nestlé, wie Walter Boveri. Dann werden wir auch noch in den nächsten 100 Jahren eines der reichsten Länder der Welt sein.

Daraus hören wir ein Plädoyer für die Erhöhung der Drittstaatenkontingente, richtig?
Es ist natürlich wichtig, dass sich die Talente, die wir ausbilden, auch hier entfalten können. Wie man das konkret umsetzt, ist eine schwierige Frage, welche die Politik beantworten muss.

Gibt es bei Wissenschaftlern einen Trump-Effekt?
Auch das ist eine schwierige Frage. Es gibt sicher Forschende, die mit seiner Politik nicht einverstanden sind und daher eher eine Stelle im Ausland suchen. Ich habe aber keine Statistik, die das erhärten würde. Und wir nehmen niemanden, nur weil er wegen Herrn Trump keine Lust mehr hat, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Wir suchen nicht irgendein Mittelmass. Wir suchen die absolute Spitze. Und wir gehen nicht jemanden aktiv an deshalb.

Emmanuel Macron macht das.
Ich weiss nicht, was der Herr Macron macht. Der Herr Guzzella macht es nicht.

*Lino Guzzella, 59, ist seit Januar 2015 Präsident der ETH Zürich, der zweitgrössten Schweizer Hochschule und der laut Umfragen besten technischen Universität Kontinentaleuropas. Der Italo-Schweizer studierte selber Maschinenbau an der ETH, arbeitete bei Sulzer und Hilti und kehrte 1993 als Assistenzprofessor an die Hochschule zurück. 2012 bis 2014 amtete er dort als Rektor. In seinem Fachgebiet Thermotronik befasst er sich unter anderem mit der Optimierung von Verbrennungsmotoren.

 

 

Dieses Interview erschien im September in der Sonderausgabe «100 Digital Shapers 2017» der BILANZ.