BILANZ: In der Schweiz lesen wir viel über die Überhitzung der chinesischen Wirtschaft, den enormen Rohstoffverbrauch und den unterbewerteten Yuan, doch kaum etwas über die Menschen. Sie waren drei Monate in China, Hongkong und Taiwan. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?

Lan Wang Simond: Überall herrscht grosse Geschäftigkeit. Es bieten sich viele Möglichkeiten, von der wachsenden Wirtschaft zu profitieren, und die Menschen wollen diese Chance ergreifen. Sie halten Ausschau nach jeder Jobmöglichkeit, Geschäftsidee oder sonst irgendeiner Art, Geld zu verdienen. Die Chinesen sind von der für sie neuen Idee des Geldmachens völlig eingenommen. Denn sie ahnen, dass es nicht auf ewig so weitergehen wird. Da es in China kein soziales Sicherheitsnetz gibt, steht die Bevölkerung unter grossem Druck. Wer Geld verdienen kann, spart fürs Alter und für die Ausbildung der Kinder.

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Das Gefälle zwischen armen und reichen Bürgern wird in China immer grösser. Wie problematisch ist dies?

Das ist in den grossen Städten wie Peking und Shanghai, die ich besucht habe, nicht sichtbar. Dort sieht man Gewalt und Armut nicht offen. Die Armut ist eher auf dem Land verbreitet, vor allem in den zentralen und westlichen Provinzen. Dort beträgt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen 500 Dollar im Jahr, während es in Shanghai bei 5000 liegt. Diese Diskrepanz von eins zu zehn ist erheblich. In der Europäischen Union etwa liegt das Verhältnis bei eins zu vier. Aber die chinesische Administration hat das Problem erkannt und investiert viel Geld in die armen Regionen.

Dennoch bergen derart grosse Einkommensunterschiede Potenzial für soziale Unruhen.

Das ist der Regierung auch klar, und sie unternimmt einiges dagegen, etwa über einen Finanzausgleich. Zudem wird versucht, die wirtschaftliche Entwicklung in den ärmeren Regionen des Westens zu forcieren. Denn während die Küstengebiete ein überdurchschnittliches wirtschaftliches Wachstum aufweisen, haben sich andere Regionen unterdurchschnittlich entwickelt. Und nach 20 Jahren kommt es dann zu den bekannten erheblichen Unterschieden.

Machen sich die Menschen denn keine Sorgen wegen des extrem hohen Wirtschaftswachstums?

Überhaupt nicht. Um China begreifen zu können, muss man verstehen, weshalb die kommunistische Partei an der Macht zu bleiben vermag. Jahr für Jahr spüren die Menschen, dass sich ihr Lebensstandard verbessert. Und das ist der einzige Weg, wie man dieses Land politisch stabil halten kann. So hat jede Entscheidung der Regierung primär zum Ziel, weitere Arbeitsplätze zu schaffen. Alljährlich muss China 13 Millionen neue Jobs herbeizaubern. Da ist ein Wachstum von neun Prozent gerade ausreichend, um die Nachfrage nach neuen Arbeitsplätzen zu befriedigen.

Viele ausländische Unternehmen investieren im grossen Stil in China. Schaffen sie denn nicht genügend neue Jobs?

Jedes Jahr fliessen 55 Milliarden Dollar an Direktinvestitionen ins Land. Daher funktioniert die Exportindustrie auch so gut, denn in diesem Bereich werden viele neue Jobs geschaffen. Zwar handelt es sich dabei um wenig anspruchsvolle Arbeit, aber immerhin sind die Leute beschäftigt.

Sie erwarten also ein so genanntes «soft landing» der chinesischen Wirtschaft?

Ja. Wenn Sie alle Makroindikatoren zusammentragen, sieht die wirtschaftliche Situation sehr gut aus. Ich denke da unter anderem an die hohen Kapitalreserven und die enormen Zuflüsse an ausländischen Geldern. An Kapital herrscht also kein Mangel. Nimmt China die Lösung der strukturellen Probleme in die Hand, wird die konjunkturelle Situation entschärft. Keine Regierung ist so dumm, eine harte Landung zu riskieren.

Sicher, niemand will eine harte Landung. Und dennoch passiert es manchmal.

Eine harte Landung der Konjunktur passiert nur, wenn die Kontrollen versagen. Beispielsweise wenn Gelder an schlechte Schuldner ausgeliehen werden, was einst bekanntlich die Asien-Krise auslöste. Doch das ist in China nicht der Fall. Und gleichwohl wird 2005 zu einem schwierigen Jahr. Viele Unternehmen werden unter rückläufigen Gewinnmargen zu leiden haben. Das lässt sich zwar nicht an den Makrozahlen ablesen, aber bei den einzelnen Firmen oder ganzen Branchen werden abnehmende Gewinne zu beobachten sein. Es kommt also zu einer Art «hard landing» von einzelnen Unternehmen, aber nicht der gesamten Volkswirtschaft.

Ein Resultat der heiss laufenden Konjunktur ist, dass die Preise für Rohwaren steigen. Fürchtet man in China keine Inflation?

O doch. Ich habe in China mit vielen Politikern und Entscheidungsträgern gesprochen. Am Ende des Gesprächs habe ich jeweils gefragt, welches denn die Hauptbedenken seien. Die Antwort war immer dieselbe: die Inflation. Kopfzerbrechen bereitet dabei weniger der Index der Konsumentenpreise, der beträgt nicht einmal drei Prozent. Das Problem ist vielmehr der Produzentenpreisindex, der bei acht Prozent liegt. Dieser umfasst alle Rohwaren sowie Energie und Elektrizität. Für diese Produkte steigen die Preise.

Ist Ihr Ausblick nun positiv oder negativ?

Für die Wirtschaft bin ich langfristig sehr positiv eingestellt. China ist wie ein Teenager: Wenn er gut isst und lange schläft, dann wächst er auch. Es ist ein junges, dynamisches Land, und in vielen Bereichen profitieren wir von Wettbewerbsvorteilen. Dagegen bin ich vorsichtig, was die Aktienmärkte angeht – da werden die schon angesprochenen rückläufigen Unternehmensgewinne die Börse belasten.

Welche Börsensektoren geraten besonders unter Druck?

Der produzierende Sektor wird 2005 einen harten Schlag einstecken müssen. Die Elektrizitätsbranche wiederum wird unter einem Überangebot leiden. Zwar herrscht in China derzeit ein Mangel an Elektrizität, im letzten Sommer drohte gar der Blackout. Nur werden wegen dieser Engpässe jetzt überall neue Generatoren gebaut. Es wird deshalb zu einem Überangebot an Elektrizität kommen. Es lassen sich aber auch Sektoren finden, die keine Rückgänge der Gewinnspannen hinnehmen müssen, wie etwa die Telekommunikation. In China gibt es die meisten Nutzer weltweit, und die Zahl wächst weiter. Zudem ist dieser Sektor nicht von den erwähnten hohen Inputkosten betroffen. Die Telekom-Aktien waren lange Zeit sehr teuer, dann verloren sie erheblich an Wert. Nun erreicht dieser Sektor wieder durchschnittliche Marktkurse.

Ein hoher Anteil des von Ihnen gemanagten Fonds ist auch in Taiwan investiert.

Taiwan hat sich in den ersten neun Monaten 2004 enttäuschend entwickelt, erst im letzten Quartal wurden positive Erträge generiert. Diese Börse hat starke Kurseinbussen erlebt. Taiwan war einer der teuersten Aktienmärkte Asiens, heute ist er einer der billigsten. Das schafft neue Chancen.

Was würden Sie einem Schweizer Anleger empfehlen, der in China oder Taiwan investieren möchte?

Diese Märkte entwickeln sich noch und sind ziemlich volatil. Das Risiko, dass ein Unternehmen dekotiert wird oder Pleite geht, ist viel grösser als etwa in der Schweiz. Daher glaube ich, dass es für einen Privatinvestor am besten ist, in einen Fonds zu investieren. Für Schwellenländer braucht man professionelle Berater, die warnen, wenn der Markt vielleicht zu riskant ist. Aber ich empfehle ohnehin nicht, aggressiv in einen China-Anlagefonds zu investieren. Wir haben unseren Fonds im Mai 2003 aufgelegt; in Dollars gemessen, hat der Kurs bereits um 80 Prozent zugelegt. Deshalb diversifizieren wir, verkaufen die Aktien klein kapitalisierter Unternehmen und behalten nur die grösseren Titel wie Petrol China oder China Telecom.

Erwarten Sie viele Börsengänge?

Ja. Viele Firmen brauchen für ihr weiteres Wachstum Neugeld. Sie sind relativ klein, der Markt dafür riesig. Andererseits fehlt es börsenkotierten Unternehmen nicht an Liquidität, sondern an Humankapital. Auf meine Frage an Firmengründer, welches ihre grösste Herausforderung sei, war die Antwort stets: gute Führungskräfte. Chinas Markt ist jung, ergo gibt es wenig qualifizierte Manager. So bekam der Volkswirt der Bank Pictet, der mit mir durch China gereist ist, ständig Jobs angeboten.