BILANZ: Herr Schwab, die meisten Menschen werden mit zunehmendem Alter milder. Sie werden allem Anschein nach immer radikaler.

Klaus Schwab: Der Eindruck täuscht.

Sie werfen den Wirtschaftsführern vor, keine Lehren aus der Finanzkrise gezogen zu haben, und fordern, dass kein Manager mehr als das Zwanzigfache des am schlechtesten bezahlten Mitarbeiters verdienen soll. Derartige Töne waren von Ihnen früher nicht zu hören.

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Vielleicht habe ich mich früher nicht so pointiert geäussert, aber diese Gedanken gehen zurück auf mein Buch «Moderne Unternehmensführung im Maschinenbau». Und das stammt aus dem Jahr 1971.

Was ist schiefgelaufen bei der Unternehmensführung?

Für mich sind drei Prämissen elementar. Erstens: Die Unternehmensleitung sollte nicht mit dem Kapitaleigner identisch sein. Manager ist ein Beruf, der angemessen, aber nicht überzogen bezahlt wird, der Anteilseigner erhält den Profit und trägt das Risiko. Zweitens: Der Manager soll nicht nur dem Aktionär dienen, sondern all denen, die vom Schicksal des Unternehmens abhängen. Drittens: Die Wünsche der Stakeholder sind oft widersprüchlich, aber langfristig identisch – die Prosperität des Unternehmens zu fördern. Von diesen Prämissen haben wir uns zu weit entfernt.

Warum?

Durch Boni wurden die Interessen des Managers mit jenen des Aktionärs verknüpft. Der Manager nimmt am Erfolg teil, ohne das Risiko zu tragen. Das finde ich eine Perversion des Systems. Zudem: Durch die Zunahme im Aktionariat von Hedge Funds und Private-Equity-Firmen ist es zu einer Verlagerung vom langfristigen zum kurzfristigen Denken gekommen. Das Management wurde damit an die Interessen eines zunehmend kurzfristig denkenden Aktionärs geknüpft.

Warum ist diese Kurzfristigkeit gefährlich?

Der Manager wurde entprofessionalisiert. Er sollte diesen Beruf ausüben, weil er sich dazu berufen fühlt. Stattdessen wird er Manager, um möglichst viel Geld zu verdienen. Schon Plato und Sokrates haben sich mit der Entlöhnungsfrage befasst im Zusammenhang mit der Bezahlung von Lehrern. Sie kamen zum Schluss: Der beste Lehrer sollte nicht mehr als fünfmal mehr verdienen als der schlechteste. Mit meinen zwanzigmal bin ich also grosszügig.

Die SP hat Ihnen bereits die Mitgliedschaft angetragen. Man drängt Sie in eine linke Ecke.

Es ist schade, dass die Debatte ideologisiert wird.

Ihre Mitglieder sind die grössten Firmen der Welt. Die wenigsten befolgen Ihre Eins-zu-zwanzig-Forderung. Welche Reaktionen gab es auf Ihre scharfen Aussagen?

Das World Economic Forum ist eine offene Plattform, wir wollen Bewegungen aller Art einbeziehen und den Dialog fördern. Im Rahmen des Forums ist es deshalb für mich schwierig, eine eigene Meinung zu vertreten, denn ich sollte neutral und unpolitisch sein. Andererseits bin ich Professor Klaus Schwab, der vor allem an Wirtschaftsfragen interessiert ist. Daher ist es meine Politik, meine Meinung auch ins Spiel zu bringen, wenn ich fühle, dass im Interesse der globalen Entwicklung ein Aufruf zur Korrektur notwendig ist. Natürlich führt das manchmal zu Reaktionen. Deshalb benutze ich das Mittel der eigenen Meinungsäusserung nur sehr begrenzt. Ich halte nie einen Vortrag, schreibe nur einen Meinungsartikel pro Jahr. Ich würde meine eigene Meinung gern stärker zum Ausdruck bringen, aber da gibt es die institutionellen Grenzen. Das Forum ist keine ideologische Institution, und wir wollen auch nicht politisiert werden.

Welche konkreten Reaktionen gab es?

Die Unternehmenschefs sagten mir: Aufgrund der Realität des Wettbewerbs für Toptalente können wir nicht anders. Solange Boni abgesegnet sind durch Governance-Mechanismen und im Gesamtvolumen nicht einen disproportionalen Anteil am Unternehmensgewinn ausmachen, sollte man sich toleranter äussern, als ich es getan habe.

Haben die Firmen in dieser Frage genug aus der Krise von 2008 gelernt?

Die Empfindsamkeit der Öffentlichkeit für diese Fragen ist stark gestiegen. Durch die Krise hat eine grosse Anzahl der Bevölkerung gelitten. In Spanien etwa sind 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in den USA liegt die Quote der Arbeitslosigkeit nahe bei 10 Prozent. Fast jeder hat einen Verwandten oder Bekannten, der arbeitslos ist. Die Sensibilität für empfundene Ungerechtigkeiten ist gewachsen. Und das bedeutet für mich: Auch die Sensibilität von Bankern und Unternehmensführern, sich mit dieser Frage zu beschäftigen und eine gewisse Zurückhaltung zu üben, sollte gestiegen sein.

Ist sie denn genug gestiegen?

Nein. Aber dafür gibt es eine Erklärung. Bis zum Sommer 2011 herrschte die Meinung vor, dass wir die Krise ausgestanden hätten, dass die guten Zeiten zurückkehren und wir über das Wachstum die Schulden bezahlen würden. Dementsprechend lautete die Argumentation der Manager: Es geht uns ja wieder ordentlich, wir haben ein Anrecht auf diese finanziellen Anreize. Oder sogar: Wir sind der Schlüssel zur Erholung der Wirtschaft, dementsprechend wollen wir entlöhnt werden.

Dann kam die Krise zurück.

Ja, und jetzt droht sogar eine grosse Depression. Wir sollten eine neue Bescheidenheit suchen. Denn wenn wir wirklich in eine sehr schwierige Phase hineingehen, was leider zurzeit wahrscheinlich ist, wird die Frage der sozialen Integration von zentraler Bedeutung sein.

Was bedeutet diese Einschätzung für das WEF 2012?

In den letzten zehn Jahren war die Nachfrage grösser als die Anzahl der Plätze. Je schlechter es der Wirtschaft geht, desto grösser ist das Bedürfnis nach einer Möglichkeit des Hinterfragens.

Wie stark ist das Wachstum in diesem Jahr?

Wir haben 18 Prozent mehr Nachfrage nach unseren Aktivitäten als zum vergleichbaren Zeitpunkt des letzten Jahres.

Da sind Sie ja ein Krisenprofiteur.

Das wäre nicht die richtige Definition. Die erhöhte Nach-frage zeigt, dass wir in einer Krise als besonders notwendig erachtet werden.

Was heisst das für die Programmplanung? Es gibt Themen wie: «Der Wiederaufbau des Kapitalismus» oder «Banken: Fluch oder Segen für die globale Wirtschaft?»

Wir fragen uns: Was sind die grossen Herausforderungen im Jahr 2012? Was ändert sich fundamental? Da müssen wir auch unseren Kapitalismus überdenken.

Wie haben Sie das Programm im Sommer nach dem Kriseneinbruch verändert?

Davos ist ein Knotenpunkt in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen und Prozessen, die sich über das ganze Jahr erstrecken. Wir haben zum Beispiel eine Arbeitsgruppe, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Sie heisst Global Issues Group. Sie besteht aus den Präsidenten der elf wichtigsten internationalen Organisationen – wie IWF, Weltbank oder WTO – und erarbeitet für uns permanent Strategiepapiere. Mein Berater dort ist Gordon Brown. Wenn ich Staatsoberhäupter treffe, dann meistens, um die Arbeit aus diesen Gremien in die offiziellen Prozesse zu übertragen.

Wie sehr ist der Davos-Man, wie der Harvard-Professor Samuel Huntington den klassischen Besucher des WEF als Symbolfigur der Globalisierung genannt hat, durch die aktuelle Krise gefährdet?

Regierungen handeln heute deutlich nationaler als früher, weil die nationale Wählerschaft sie nicht dafür belohnt, globale Probleme zu lösen. Sie werden nur wiedergewählt, wenn sie nationale Interessen vertreten. Als einer der Top-Beobachter auf der internationalen Bühne habe ich die fortschreitende und erschreckende Überhandnahme von nationalen Interessen in der Lösung von globalen oder europäischen Problemen sehr genau beobachten können.

Haben wir wegen der Globalisierung ein Verfassungsproblem in den westlichen Staaten?

Wir haben unsere Systeme noch nicht darauf ausgerichtet, dass es Probleme gibt, die nur noch global gelöst werden können, wie etwa Umweltverschmutzung, Verwendung von Energie, Nahrung, Wasser oder Terrorismus. Hier müsste die Menschheit zusammenarbeiten, sie tut es aber nicht.

Derzeit macht es den Anschein, als täte sie das sogar noch weniger als früher.

Im Moment sind wir an einem besonderen Tiefpunkt, der auch damit zusammenhängt, dass in diesem Jahr in den wichtigsten G-20-Ländern Wahlen anstehen oder ein Generationenwechsel in der Führung erfolgt: in Frankreich, den USA, Russland und China. Diese Konstellation macht es den Regierungen sehr schwer, Opfer zu erbringen, die nationale Interessen berühren. Doch jeder verantwortliche Politiker weiss eigentlich, was er tun müsste. In Davos kann er sich damit auseinandersetzen, ohne stur nationale Interessen zu verfolgen.

Sind autoritäre Systeme unter den globalen Rahmenbedingungen den demokratischen überlegen?

Für demokratische wie autoritäre Systeme gilt heute: Die Richtung heisst «collaborative power» – eine gemeinschaftlich festgelegte Machtteilung. Die junge Generation kann über soziale Netzwerke ihre Meinung äussern. Die Staaten kommen deshalb nicht darum herum, ein kollaboratives demokratisches Grundsystem zu haben, das hat auch die Entwicklung in der arabischen Welt gezeigt. Andererseits braucht es einen Mechanismus, um diese Energie der Basis positiv in die richtige Richtung zu lenken. Das heisst: Es braucht eine Führungsspitze, die Visionen darzulegen vermag, die begeistern oder zumindest überzeugen kann.

Davon ist wenig zu sehen.

Wenn ich etwas an der Politik von heute kritisieren würde, dann Folgendes: Auch unter dem Druck des täglichen Bemühens, die Krise einzudämmen, sind Visionen zur Mangelware geworden. Ich werde oft gefragt: Wer kommt als Top-Gast nach Davos? Dann stelle ich die Gegenfrage: Wer sind die visionären Politiker, die Sie in Davos hören wollen? Dann kommt meist ein Schweigen.

Liegt es an der heutigen Generation?

Es ist heute sehr schwierig, eine Vision zu haben. Die Welt und alle Bürger haben zunehmend Schwierigkeiten, die Informationsflut zu absorbieren und einzuordnen. Das führt zu einem Burn-out-Syndrom. Davos ist ein Sanatorium, in dem man abschalten und herausfinden kann: Was bedeuten die aktuellen Ereignisse langfristig?

Ingenieur und Vordenker
Zum 42. Mal bittet Klaus Schwab vom 25. Januar an zum World Economic Forum nach Davos. Der Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums war 22 Jahre Professor für Betriebswirtschaft an der Universität Genf. Er promovierte an der ETH Zürich in Maschinenbau und in Freiburg in Wirtschaftswissenschaften. Schwab und seine Frau Hilde sind seit 1971 verheiratet und haben zwei Kinder. Der 73-Jährige lebt am WEF-Sitz in Cologny bei Genf.

Dirk Schütz
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