BILANZ: Herr Wolf, letzten Juli nahmen Sie sich sechs
Wochen Auszeit. «Ich brauche eine Pause von der Untergangsstimmung», schrieben Sie in Ihrer Kolumne. Sind Sie heute wieder urlaubsreif?

Martin Wolf: Als ich das schrieb, hatte ich keine Ahnung, wie schlimm es noch würde. Die Lage hat sich dramatischer entwickelt, als es die grössten Schwarzmaler vorhergesehen hatten. Ich bin noch immer schockiert, dass eine pessimistische Person wie ich zu optimistisch war.

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Jetzt brauchen Sie wohl sechs Jahre Pause.

Dann bricht vielleicht die Welt zusammen. Vielleicht sollte ich weiterschreiben, damit das nicht passiert (lacht).

«2009 wird das Jahr, in dem sich das Schicksal der Weltwirtschaft
vielleicht für Generationen entscheidet», schrieben Sie unlängst. Wie war der Start ins Schicksalsjahr?

Die Wahl von Barack Obama ist ein sehr gutes Signal. Die alte US-Regierung ist gescheitert. Sie hat die Krise entstehen lassen und sie nicht in den Griff bekommen. Jetzt haben wir eine neue Mannschaft, die systematisch an die Probleme herangeht, die im Kongress eine Mehrheit hat und im In- und Ausland sehr populär ist. Die Bedeutung davon kann nicht überschätzt werden, aus zwei Gründen: Das Epizentrum der Krise liegt in den USA, und ohne amerikanische Unterstützung lässt sich diese Krise nicht lösen.

Und der Rest der Welt?

Leider haben viele Länder zu lange die Schwere der Krise nicht erkannt, Deutschland beispielsweise. Das hat sich geändert, die Einsicht ist jetzt da, sei es bei der Europäischen Zentralbank, in Japan oder China. Auch wissen alle, dass sie keinen Handelskrieg wollen.

Also doch Hoffnung?

Wenn die Massnahmen greifen, dann sehe ich zwar noch immer ein schreckliches Jahr 2009 – es gibt nichts, was das verhindern könnte –, doch werden die Bürger dann vielleicht erkennen, dass ein Kollaps des Bankensystems abgewendet worden ist und die Politiker die Krise in den Griff bekommen. Das ist das bestmögliche Szenario. Die ersten Wochen des Jahres waren nicht schlimmer, als ich befürchtet hatte, und das ist heutzutage schon eine gute Nachricht.

Was erwarten Sie vom Finanzsystem in diesem Jahr?

Es ist noch immer stark unterkapitalisiert. In nächster Zeit wird es noch sehr hohe Abschreibungen geben.

Wie hoch?

Es gibt Schätzungen, die den Abschreibungsbedarf auf 3000 Milliarden Dollar schätzen, abgeschrieben wurden bisher aber nur 500 Millionen.

Das klingt aber wieder sehr pessimistisch.

Da gibt es drei Klassen. Erstens die endgültigen Abschreibungen auf die Papiere, deren Wert schon korrigiert wurde. Die genauen Verluste werden wir noch sehr lange nicht kennen, denn das Immobiliengeschäft hängt vom Wirtschaftsverlauf ab. Dazu kommen zweitens die Abschreibungen bei den Konsumenten, die als Folge der Wertverluste auf den Immobilien entstehen: Autokredite, Studentenkredite, Kreditkarten. Und drittens stehen wir vor einer grossen Rezession. Da gehen Unternehmen pleite, das liegt in der Natur der Sache. Die Abschreibungen werden also weitergehen, und deshalb wird auch die Börse schwach bleiben, denn die Banken sind ein grosser Teil davon.

Das bedeutet: Die Banken brauchen noch mehr Kapital. Wer liefert es?

Da kommen nur die Regierungen in Frage. Staatsfonds und private Investoren, die in den ersten sechs Monaten der Krise Kapital investierten, verloren alles. Da kommt nichts mehr.

Wenn die Banken zu Staatsbanken werden, müssen sie auch dem heimischen Steuerzahler dienen.

Es wird zu politisch motivierten – und damit schlechten – Krediten kommen, obwohl die Regierungen dies gar nicht wollen. In England etwa wird man wohl den Banken die Wahl lassen, in welche Firma sie investieren, aber die Branchen werden festgelegt. Selbst sozialistische Regierungen wie die britische wollen die Banken gar nicht übernehmen, denn sie wissen, dass sie keine Bank führen können. Das Beste wäre, den maroden Banken einfach Checks auszustellen, doch das ist politisch nicht durchsetzbar. Man kann nicht den Steuerzahler bitten, die Boni der Banken zu finanzieren. Wenn Merrill Lynch vier Milliarden Dollar an Boni auszahlt …

… auch die staatlich subventionierte UBS zahlt mehr als zwei Milliarden Franken an variablen Vergütungen …

… dann explodieren die Politiker zu Recht. Eine taumelnde Institution, die vom Staat gerettet wird, darf keine Boni zahlen.

Sie haben schon vor einem Jahr eine Regulierung der Banklöhne gefordert.

Heute ist unbestritten, dass die Anreizstrukturen in den Banken hochgradig pervers waren: Die Belohnung war im Vergleich zu den Risiken viel zu hoch. Und das galt für das gesamte System. Jeder in der Bank profitierte vom Aufschwung, aber als es bergab ging, trug der Staat die Kosten. Das ist inakzeptabel.

Die Banker behaupten, sie verdienten die exorbitanten Saläre, denn sie hätten ja satte Gewinne erwirtschaftet.

Ihre Profite waren vollkommen illusorisch. Wenn man angemessene Rückstellungen gemäss den Risiken vorgenommen hätte, wäre klar geworden, dass sie keine Gewinne erzielten. Die Verluste kamen viele Jahre später. Der soziale Wert ihres Schaffens ist viel geringer als die Bezahlung der Banker. Ein Grossteil ihrer Tätigkeit ist ohne Zusatzwert. Sie können sich nur so viel bezahlen, weil sie Zugang zu den Geldflüssen haben. Sie schaffen sie ja selbst.

Wie lassen sich diese Exzesse stoppen?

Die Regierungen müssen sagen: Wir haben ein öffentliches Interesse an der Bezahlstruktur, denn wir tragen das Risiko. Wir müssen also dafür sorgen, dass die Anreizstruktur der Topbanker an das langfristige Interesse der Bank gekoppelt wird, das auch unser öffentliches Wohl beeinflusst. Bezahlung sollte über einen sehr langen Zeitraum an die Performance gebunden werden, und zwar so lange, bis die Ergebnisse aller Entscheidungen klar überschaubar sind.

Die UBS hat in einem Alleingang ihr Bonusmodell in diese Richtung verändert. Doch Sie sind skeptisch.

Wenn Sie als einzige Bank einem Mitarbeiter sagen: «Wir bezahlen dich nur nach deiner wirklichen Leistung nach sechs oder sieben Jahren», dann besteht die Gefahr, dass Sie die schlechtesten Banker bekommen.

Die angeblich besten Banker haben in der Krise aber auch nicht brilliert.

Ein berechtigter Einwand. Wenn ein schlechter Banker jemand ist, der sehr vorsichtig ist und keinen grossen Aktivismus zeigt, mag das sogar eine gute Sache sein. Walter Bagehot, der grosse britische Bankenexperte aus dem 19.  Jahrhundert, hat gesagt: «Das Gefährlichste ist ein energiegeladener, talentierter Banker – am besten ist ein fauler Banker.» Faul und vertrauenswürdig, so sollte ein Banker sein. Wir brauchen keinen talentierten Banker, und deshalb ist es nicht wichtig, ob er relativ billig ist. Die Idee des talentierten Bankers führte uns in die Krise. Aber es ist trotzdem wahr: Es ist schwer, die Bezahlung im Alleingang zu verändern, und wenn der Aufschwung kommt, ist es praktisch unmöglich.

Das wird aber wohl noch lange dauern.

Ja, wohl noch viele Jahre. Aber er wird kommen.

Wie sollen die Regierungen wieder aus ihren Bankbeteiligungen herauskommen?

Die richtige Lösung ist: die kranken Banken übernehmen, säubern, mit einer guten Bank zusammenlegen, die schlechten Assets abstossen und dann die Staatsanteile wieder verkaufen. Doch solange die Krise anhält, ist das sehr schwierig. In einer normalen Situation sind die Bankbilanzen klein genug und die Volkswirtschaften wohlhabend genug, um wieder eine normale Kreditvergabe zu ermöglichen. Davon sind wir jedoch in vielen Ländern noch sehr weit entfernt. Wir dürften also noch viel länger mit diesen verstaatlichten Banken umzugehen haben, als uns lieb ist.

Drohen der Weltwirtschaft japanische Verhältnisse – zehn Jahre Stagnation?

Die Gefahr ist gross. Entscheidend ist die Situation in den USA. Der Wohlstand der Hauhalte ist massiv gesunken, die Amerikaner haben mit Aktien grosse Summen verloren, und ihre Häuser haben stark an Wert eingebüsst. Die Jobaussichten haben sich massiv verschlechtert, deshalb sind die amerikanischen Konsumenten viel risikoaverser. Sie wollen ihre Schulden loswerden und nicht mehr auf Kredit leben, denn das dürfen sie nicht mehr. Vor zwei Jahren hatten wir ein Defizit im US-Haushaltsbereich von fünf Prozent des Bruttoindlandprodukts, heute gehen wir von einem Plus von sechs Prozent aus. Das nimmt elf Prozentpunkte aus der weltweiten Nachfrage heraus. Darunter leiden alle Exportländer: Der Konsum der amerikanischen Haushalte machte 30 Prozent der weltweiten Nachfrage aus. Gigantisch.

Was bedeutet das für die Exportnation Schweiz?

Sie verfügt über eine kleine offene Volkswirtschaft mit starker Abhängigkeit vom Handel und vom Finanzsektor und wird deshalb ziemlich hart getroffen. Es würde mich sehr erstaunen, wenn die Schweiz nicht in eine recht lange und unangenehme Rezession geraten würde.

Und Ihre eigene Branche, der Journalismus?

Die Auflage der «Financial Times» («FT») ist so hoch wie nie zuvor, auch unsere Website meldet Rekordzuspruch. Wir haben die Einnahmen aus dem Verkauf der Zeitung sogar gesteigert. In England haben wir den Preis um 50 Prozent erhöht – und dadurch nicht weniger verkauft. Ich habe das immer unterstützt: Wir liefern den Bürgern Informationen, die sie von keiner anderen Quelle bekommen können. Sie würden unvorstellbare Summen für diese Informationen bezahlen, wenn sie diese von einem Consultant und nicht von einer Zeitung bezögen. Ohne diese Informationen könnten sie nicht leben, und sie sind alle wohlhabend. Wir liefern ein Premium-Produkt für eine Premium-Leserschaft.

Aber die Werbeeinnahmen schrumpfen.

Ja, aus strukturellen und konjunkturellen Gründen. 2008 haben wir Geld verdient, aber jetzt ist es hart. Unsere Situation ist jedoch besser als die der grossen Tageszeitungen in England und den USA, weil wir über eine spezielle Leserschaft verfügen, die diese Informationen wirklich haben will.

Die Nachrichten über das Ableben der Zeitungen sind
also übertrieben?

Ich bin 62 Jahre alt, und die «FT» wird sicher älter werden als ich. Ich glaube leidenschaftlich an den politischen, sozialen und kulturellen Wert einer grossartigen Zeitung, ob im Online- oder im Printbereich. Sie ist Teil der Zivilisation, ohne sie lässt sich eine hoch entwickelte moderne Gesellschaft nicht vorstellen. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der es keine privatwirtschaftlichen Organsationen mehr gibt, die objektive, vertrauenswürdige Informationen liefern, mit ehrlichen und professionellen Methoden. Das gelingt der «FT» meiner Meinung nach, und darauf bin ich stolz.

Letzten Juli, nach einem Jahr Finanzkrise, schrieben Sie, dass wir noch nicht einmal das Ende vom Anfang der Krise gesehen hätten. Wo stehen wir heute?

Wir haben das Ende des Anfangs erreicht. Wir verstehen, dass das Finanzsystem zerstört ist, wir wissen, dass wir es retten müssen, und wir haben eine schwache Ahnung vom Ausmass der Verluste. Die Realwirtschaft geriet jedoch erst vor vier Monaten in eine kritische Phase. Grosse Konjunkturabschwünge dauern nie vier Monate, sondern mehrere Jahre. Wir gehen jetzt in die mittlere Phase, die sehr lang und unangenehm werden kann.

Als Chief Economics Commentator schreibt der Brite Martin Wolf seit zwölf Jahren eine wöchentliche Kolumne in der «Financial Times». Er gilt seit dem Ausbruch der Krise als eine Art Gewissen der Finanzwelt. Der 62-Jährige studierte und lehrte Ökonomie in Oxford und Nottingham und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Er pendelt zwischen London und New York.

Dirk Schütz
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