Kürzlich versah der «Spiegel» eine Geschichte über Schwellenländer mit dem Titel «Die grosse Flucht». Auch die «NZZ» erspähte zuletzt, mit Hang zur Dramatik, «dunkle Schatten» über den Emerging Markets. Während die «SonntagsZeitung» von «Spielverderbern» sprach, konstatierte die «Handelszeitung» schlicht: «Glanz verloren». Was war geschehen? Wieso entzogen die Kommentatoren den viel gerühmten Wirtschaftswunderländern die Gunst?

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Blenden wir kurz zurück: In den nuller Jahren bis zur Finanzkrise liefen die Volkswirtschaften Brasiliens, Russlands, Indiens und Chinas wie hochgezüchtete Versionen der Ökonomien unserer Industrienationen. Stimuliert wurde das Wachstum durch Auslandsinvestitionen, einen schwächer werdenden Dollar und steigende Rohstoffnotierungen. Der MSCI Emerging Markets Index verdreifachte sich in wenigen Jahren von rund 400 auf mehr als 1200 Punkte.

Im laufenden Jahr haben die Vorzeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung von plus auf minus gewechselt. Die Rohstoffpreise gaben auf breiter Front nach, der Dollar neigte zur Stärke, und aus den Schwellenländern floss viel Geld in die USA und nach Europa. Das setzte dem MSCI Emerging Markets Index zu – seit Jahresbeginn gab er um zehn Prozent nach. Die Abwärtsspirale noch schneller drehen liess das zaghafte Erwähnen eines möglichen Endes der ultraexpansiven Geldpolitik der amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed). Länder wie Brasilien, Indien oder die Türkei sind derart abhängig von ausländischem Geld – um ihr Wachstum zu finanzieren und um das Leistungsbilanzdefizit auszugleichen –, dass ihre Währungen absackten und die Aktien- sowie die Anleihenkurse mit dazu.

Börsenbeben. Der brasilianische Bovespa Index fiel in Schweizer Franken seit Jahresbeginn um 18 Prozent – um so viel, wie sich der SMI aufwärts bewegte. Die indischen Börsenbarometer CNX Nifty und Sensex verloren in Franken 12 respektive 10 Prozent. Der türkische Standardwerteindex ISE 100 wiederum tauchte um 15 Prozent.

Unter anderem aufgeschreckt durch die Kapitalflussumkehr von Ost nach West, ruderte Fed-Chef Ben Bernanke zurück und beschwichtigte die Märkte damit, die Geldschleusen vorerst geöffnet zu lassen. Der Ausstieg aus dem Quantitative Easing wird so oder so schwerfallen, darin sind sich alle Marktbeobachter einig. Daher werden die unkonventionellen Massnahmen wohl noch längere Zeit fortgeführt.

Helle Wolken am Horizont. Richard Koo, der Chefökonom von Nomura, erklärt den Teufelskreis in einem Schreiben: Die Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen stiegen in den Wochen vor der Ankündigung der Fed, die Anleihenkäufe zu drosseln, von zwei auf drei Prozent. Doch als sich die Fed dagegen entschied, fielen die Renditen nicht auf zwei Prozent oder weniger zurück, sondern pendelten sich bei rund 2,5 Prozent ein. Daher ist zu erwarten, dass bei einem kommenden Drosselungsversuch die Renditen auf mehr als drei Prozent steigen. Das ist insofern problematisch, als dies die Erholung der besonders zinssensitiven Sektoren wie des amerikanischen Häusermarkts und der Automobilbranche gefährdet. So gesehen dürften die Notenbanker auch in Zukunft zögern, den Geldhahn abrupt zuzudrehen.

Das sind gute Nachrichten, zumindest für äusserst liquiditätsabhängige Länder wie beispielsweise Brasilien oder die Türkei. Im Staat am Bosporus finanziert sogenanntes «Hot Money» 80 Prozent des Leistungsbilanzdefizits. Die «dunklen Schatten» am Himmel lösen sich also zum Teil bereits auf.

Und so stimmt die Grosswetterlage für Schwellenländer wieder zuversichtlicher. Auf der Bewertungsseite hellt sich das Bild ebenfalls auf. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des MSCI Emerging Markets Index wird für 2014 auf 10 geschätzt, 2009 betrug es noch beinahe 18. Für antizyklische Investoren ist das ein Kaufsignal, mitunter weil sich die Dividendenrendite des Standardwertebarometers im selben Zeitraum von zwei auf drei Prozent verbessert hat.

Zerrbild von China. «Emerging Markets sind im Vergleich zu den historischen Werten sehr günstig bewertet», sagt etwa Ewen Cameron Watt, der Chief Investment Strategist von BlackRock. Der Lack ist wohl doch noch nicht ab.

Kritiker werden spätestens jetzt einwenden, dass die Bewertung der Schwellenländer aus den richtigen Gründen so tief sei und keineswegs auf eine Unterbewertung hinweise. China werde in jedem Fall hart landen, wie es im Jargon heisst. Das Riesenreich bleibe im Morast fauler Kredite stecken, und das Wachstum werde sich als Folge drastisch verschlechtern.

Carlos von Hardenberg, die rechte Hand von Mark Mobius bei Franklin Templeton, der vor kurzem von einer zweiwöchigen Reise durch China zurückgekehrt ist und mit den Verantwortlichen Dutzender von Unternehmen gesprochen hat, tritt dem entschieden entgegen. Er erklärt: «Viele Ängste hängen damit zusammen, dass die Kreditvergabe in China oftmals durch Schattenbanken geschieht, also Trusts und dergleichen, die nicht reguliert sind. Allerdings ist der Anteil der Schattenbanken am gesamten Finanzsystem in China verschwindend gering, und auch wenn diese Kredite samt und sonders ausfallen würden, käme die Wirtschaft in China dadurch nicht zum Erliegen», so von Hardenberg.

Von Erliegen kann in der Tat keine Rede sein: Das Reich der Mitte wird seine Wirtschaftsleistung voraussichtlich Jahr für Jahr immer noch um sechs Prozent ausweiten können. Das sind für chinesische Verhältnisse zwar nicht mehr ganz so stolze Zuwachsraten wie in der Vergangenheit, doch das geschieht auch von einem anderen Niveau aus wie ehedem.

Von Hardenberg weist zudem darauf hin, dass die Chinesen sehr geschickt darin seien, Risiken korrekt einzuschätzen und zu verwalten. In diesem Befund bestärkte ihn ein Treffen mit dem China-Chef des Buchprüfers KPMG, der Hunderttausende von Bankkrediten vor Ort unter die Lupe nahm. Es sei zwar nicht alles rosa, aber so schlimm, wie die Situation in den westlichen Medien dargestellt werde, sei es bei weitem nicht. Zudem habe die chinesische Regierung ein vitales Interesse daran, die Situation nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.

Einen Katalysator für den Aufschwung von Chinas Aktienmärkten sieht der BlackRock-Mann Ewen Cameron Watt im bald erwarteten Börsengang der chinesischen Online-Plattform Alibaba. Dieser dürfte die Aufmerksamkeit auf chinesische Aktien insgesamt lenken, sagt er. Alibaba wird jedoch keine Kotierung in Hongkong anstreben. Die Börse der Sonderverwaltungszone sieht keine privilegierten Stimmrechte vor, wie sie der Milliardär und Grossaktionär von Alibaba, Jack Ma, fordert.

Um weiterhin Einfluss auf die Zusammensetzung des Verwaltungsrats zu nehmen, wird der Börsengang voraussichtlich in New York durchgeführt. Jack Ma und seine Mitstreiter können dort ihre A-Aktien kotieren lassen und gleichzeitig ihre B-Aktien behalten, die ihnen überdurchschnittlich viele Stimmrechte sichern. Nach der Kotierung soll Alibaba eine Kapitalisierung von 120 Milliarden Dollar aufweisen.

Über Alibaba werden wir im Westen noch viele Schlagzeilen lesen – von einer «grossen Flucht» an die New Yorker Börse wird aber kaum die Rede sein. Eine Vielzahl von chinesischen Megakonzernen sind hierzulande allerdings unbekannt, was dem Zerrbild einer schwächelnden Wirtschaft Vorschub leistet. Oder kennen Sie die Sinopec Group, die rund eine Million Mitarbeiter beschäftigt und einen Umsatz von rund 290 Milliarden Franken erzielt? Oder State Grid, die mehr als 850 000 Mitarbeiter auf der Lohnliste hat und 190 Milliarden Franken Umsatz erzielt? Für das Petrochemie-Konglomerat CNPC arbeiten sogar 1,6 Millionen Menschen – zum Vergleich: Bei Nestlé sind es 330 000.

Einstiegschancen. Dass China inzwischen für einige westliche Firmen als Produktionsstandort zu teuer geworden ist, hilft Billiglohnländern, die geografisch näher bei den Industrienationen liegen. Von diesem «Nearshoring» profitiert inbesondere Mexiko. Das Land exportiert relativ zur Wirtschaftsleistung bereits gleich viel in die USA wie China, und als positiver Nebeneffekt des Exportwachstums steigt die einheimische Nachfrage. In Kombination mit der tiefen Inflation sind Millionen von Mexikanern der Armut entronnen und zählen heute zur Mittelschicht.

Der Mittelstand wächst auch in den anderen Schwellenländern und fördert den volkswirtschaftlichen Umbau von exportorientierten zu stärker Binnenkonjunktur-orientierten Wachstumsmodellen. Eine Neuauflage einer «Asienkrise», wie sie im ersten Halbjahr befürchtet wurde, ist wenig wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass sich im Rückblick die Kurstaucher an vielen Börsen, so etwa in Indien, Indonesien, China, der Türkei, in Mexiko oder Brasilien, als gute Einstiegsgelegenheiten erwiesen haben.

Dank der Unterstützung der amerikanischen Notenbank, die Anleger in risikoreichere Anlagen drängen will, dürften sich die Börsen der Schwellenländer in den kommenden Monaten weiter erholen. Ben Bernanke gibt sein Amt Ende Jahr ab, doch seine Geldpolitik wird auch von seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger weitergeführt werden.