BILANZ: Frau Riess-Passer, Sie waren österreichische Vizekanzlerin, sassen für die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) im Europaparlament. Ihr Land hat vor einem Jahr zehn Jahre EU-Mitgliedschaft gefeiert. Wie präsentiert sich aus Ihrer Sicht die Bilanz für Österreich?

Susanne Riess-Passer: Es ist eine überwiegend positive Bilanz. Österreich hat stark profitiert vom Beitritt zur EU. Vor allem auch, indem wir gezwungen waren, gewisse binnenwirtschaftliche Strukturen zu verändern, die ohne Beitritt nicht so schnell aufgebrochen worden wären.

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Negativpunkte gibt es keine?

Doch. Beispielsweise im Transitverkehr: Wir haben mit dem Transitvertrag keine dauerhafte Lösung gefunden. Das rächt sich. Wir können die Verkehrslawine nur schwer eindämmen, weil die vertraglichen Absicherungen nicht ausreichen.

Sie persönlich waren gegen den Beitritt?

Ich war der Meinung, dass der Beitritt nicht gut genug vorbereitet war und dass Österreich im Vorfeld seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Das war weniger ein Problem der EU. Das war das eine …

… Ihre Partei, die FPÖ, war jedenfalls nie Freund der EU.

Das Zweite ist, dass ich nie eine Anhängerin einer politischen Union war, sondern lediglich einer wirtschaftlichen Union, die sich auf die Bereiche konzentriert, in denen wirtschaftliche Zusammenarbeit wirklich Sinn ergibt. Eine politische Union im Sinne einer gemeinsamen europäischen Regierung habe ich nie als eine Wunschvorstellung für Europa empfunden, weil dies zu weit geht.

Zu weit oder einfach zu früh?

Es gibt Bereiche wie die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, in denen eine Kooperation innerhalb der EU sinnvoll ist. Ich glaube aber nicht, dass wir jemals die Utopie einer EU-Gesamtregierung erreichen werden, und halte dies auch für ein falsches Ziel. Gerade in Österreich haben wir während der EU-Sanktionen gesehen, dass die nationalstaatliche Demokratie die Basis des europäischen Miteinanders bleiben muss. Es wird von den Bürgern nicht geschätzt, wenn von aussen in nationalstaatliche Belange eingegriffen wird.

Sie sagen, Österreich habe seine Hausaufgaben nicht gemacht. Welche?

Bei den Privatisierungen staatlicher Unternehmen – da waren wir sehr spät dran. Ebenso bei der überfälligen Budgetkonsolidierung. Wir haben jahrelang mit dem Credo gelebt, dass Schulden Wachstum erzeugen können. Das stimmt in einer kurzfristigen Optik. Es ist wie beim Dopen: Kurzfristig erreicht man eine Leistungssteigerung, langfristig setzt der Zersetzungsprozess ein.

Hat die FPÖ – ähnlich wie die SVP in der Schweiz – demnach die EU zu Unrecht stets verteufelt und zur grossen Bedrohung der Heimat hochstilisiert?

Das kann man, zumindest was die FPÖ betrifft, so nicht sagen. Die FPÖ war in
ihrer Geschichte eine Befürworterin der EG-Mitgliedschaft Österreichs, als noch alle anderen Parteien dagegen waren. Bereits in den fünfziger Jahren gab es den ersten parlamentarischen Antrag der FPÖ auf Mitgliedschaft in der EWG.

Erstaunlich. Die Haider-Partei wird völlig anders wahrgenommen.

Der Wendepunkt kam mit den Verträgen von Maastricht und den ersten Schritten hin zu einer politischen Union. Damit hat sich die Situation für die FPÖ gewandelt. Die Partei war gegenüber der EU nicht feindlich, aber durchaus kritisch eingestellt. Es gab ja eine Zeit, als EU-Befürworter ein fast religiöses Sendungsbewusstsein hatten. EU-Gegner zu sein, war etwas Unanständiges.

Heute ist es wieder umgekehrt.

Die EU leidet zunehmend an einem Defizit an demokratischer Legitimation. Abgelehnte Referenden in mehreren Ländern haben gezeigt, dass viele EU-Bürger diesen Weg nicht mehr mitgehen wollen. Insofern wird der Integrationsprozess von den EU-Bürgern kritischer verfolgt.

Ihre Partei war gegen den Euro. Warum?

Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich eine gemeinsame Währung bekämpft hätten. Wir waren aber der Auffassung, dass der Stabilitätspakt nicht zu halten sein würde. Österreich war wie Deutschland ein Hartwährungsland, und mit dieser Politik sind wir sehr gut gefahren. Ich habe damals die Kampagne gegen die Einführung des Euro wesentlich mitgestaltet.

Wieso?

Weil der Stabilitätspakt das Papier nicht wert war, auf dem er geschrieben stand. Ich habe damals Beispiele angeführt, Italien und Spanien etwa – nie jedoch hätte ich gedacht, dass Deutschland einmal den Stabilitätspakt nicht erfüllen würde.

Was geschieht nun mit Deutschland?

Konsequenterweise müsste zumindest einmal der Sanktionsmechanismus in Kraft treten. Die Kuriosität in diesem Fall wäre freilich, dass ein Land Bussen auferlegt bekäme, das ohnehin schon hohe finanzielle EU-Lasten trägt. Deshalb ist dies mehr eine Frage des gemeinsamen politischen Willens, und der ist gebrochen, sobald es für ein Land bei der Einhaltung der Stabilitätskriterien Ausnahmen gibt.

Während Österreich in den letzten Jahren ein erfreuliches Wirtschaftswachstum hinlegte, hat die Schweiz stagniert. Worauf führen Sie das zurück?

Zum einen haben wir unsere Standortfaktoren verbessert. Und konnten im Unterschied zur Schweiz von der Öffnung der Märkte im Osten profitieren. Viele österreichische Banken und andere Branchen haben sich das zu Nutze gemacht.

Ein historisch bedingter Standortvorteil?

Österreich hat in der Tat die historischen Beziehungen zu den Ostländern auch während des Kalten Krieges nie wirklich abgebrochen. In den fünfziger und sechziger Jahren waren wir Asylland für viele Menschen. Denken Sie an die Ungarnkrise oder den Prager Frühling. Auch auf kultureller Ebene wurden die Kontakte stets gepflegt. Daran haben wir nach dem Auseinanderbrechen des Ostblocks anknüpfen können.

Dennoch wird die Osterweiterung der EU von den Österreichern eher skeptisch beurteilt: Den Direktinvestitionen der Wirtschaft im Osten steht die Angst vor Lohndumping im Land gegenüber.

Unsere Lohndifferenz gegenüber diesen Ländern ist ein grosses Problem. Wir haben deshalb eine siebenjährige Übergangsfrist für die Öffnung der Arbeitsmärkte im Osten gesetzt. Diese sollte man auch voll ausschöpfen, weil sich das Lohngefälle für den österreichischen Arbeitsmarkt nicht positiv auswirkt.

Dieses Gefälle wird nach Ablauf dieser Frist aufgelöst sein?

Es kommt darauf an, welche Länder man anschaut. Tschechien etwa wird sich auf Grund der dortigen Wachstumsdynamik immer mehr angleichen. Wenn man sich aber Teile von Ungarn ansieht, ist das Gefälle noch immer riesig. Deshalb muss der österreichische Arbeitsmarkt bis zu einem bestimmten Grad geschützt werden, was bisher auch gelungen ist. Man muss aber schon unterscheiden zwischen dem, wie die Leute die Situation empfinden, und der Realität. Das grössere Problem sehe ich weniger im Lohngefälle als in der illegalen Zuwanderung. Diese betrifft nicht unbedingt die neuen EU-Mitglieder, sondern Länder weiter östlich: die Ukraine, Weissrussland, Georgien.

Wie lässt sie sich eindämmen?

Durch die Sicherung der Aussengrenzen der EU und durch die Verschärfung des Asylrechts sind Massnahmen bereits ergriffen worden.

Verkraftet die EU die Osterweiterung?

Das Problem ist, dass auch die EU vor der Osterweiterung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. In der Agrarpolitik zum Beispiel: Wenn die derzeit gültige Politik auf die neuen Mitgliedstaaten umgelegt wird, wäre Polen fast flächendeckend bedürftigstes Förderungsgebiet. Früher löste die EU derartige Probleme dadurch, dass die Deutschen einfach mehr bezahlten. Das ist heute nicht mehr machbar. Man kann den Polen jetzt aber schwerlich sagen: Ihr seid zwar EU-Mitglieder, aber solche zweiter Klasse. Der Haushalt der EU und die notwendige Umverteilung der Gelder werden also zu zentralen Themen für die EU – dies wird schmerzhafte Veränderungen nach sich ziehen.

Das entspricht einer Forderung des britischen Premiers Tony Blair. Rechnen Sie damit, dass durch den Regierungswechsel in Deutschland die Widerstände gegen eine Neuorientierung in der EU-Haushaltspolitik geringer werden?

Ich hoffe es. Es wird auch notwendig sein, denn anders wird es nicht gehen. Ich beneide den österreichischen Finanzminister nicht um diese Aufgabe, die er vor sich hat, sobald Österreich den EU-Vorsitz übernehmen wird.

In der EU läuft jedoch auch künftig kaum etwas gegen den Willen Deutschlands, oder?

Was Gerhard Schröder geleistet hat, war ein grosser Schritt für die SPD, aber zu wenig für Deutschland. Wenn man sich vorstellt, dass jeder Arbeitsplatz im deutschen Kohlebergbau mit 70 000 Euro gefördert wird und es noch immer 130 000 Bergleute gibt, wird klar, dass dies ist ein teures Museum ist. Und ein heikles politisches Thema dazu.

Trauen Sie einer grossen Koalition zu, hier Lösungen zu finden?

Ich bin eine Gegnerin von grossen Koalitionen. Vielleicht ist aber diese Konstellation in dieser Situation in Deutschland eine Chance. Ich weiss es nicht. Es ist politisch wohl die einzige Möglichkeit, Mehrheiten zu bekommen.

Kennen Sie Angela Merkel?

Ich kenne sie flüchtig. Zu wenig, um sie persönlich zu beurteilen. In ihrer Laufbahn hat sie immerhin ein unglaubliches Durchhaltevermögen an den Tag gelegt. Das wünsche ich ihr auch in der Regierung. Sie ist oft unterschätzt worden.

Sie haben lange Jahre in der FPÖ politisiert. Warum in dieser Partei?

Zu der Zeit, als ich mich politisch zu interessieren begonnen habe, gab es eine schon sehr lang andauernde Alleinregierung der SPÖ, und im Land herrschte politischer Stillstand. Damals war Jörg Haider gerade auf seinem Aufstieg in der FPÖ. Das war neu und spannend.

Hatten Sie keine Bedenken, in einer marginalisierten Partei aktiv zu werden?

Ich habe damals keine politische Karriere angestrebt. Da war es unwesentlich, ob die Partei mächtig war oder nicht. Ich war nicht wie Gerhard Schröder, der an den Toren des Kanzleramtes gerüttelt hatte mit 18 Jahren.

An welchen Toren haben Sie gerüttelt?

Ich wollte Anwältin werden. Ich stamme aus einem musischen Elternhaus – ich selber bin aber grauenvoll unbegabt für alles Musische. Eine Tragödie in unserer Familie! Aber so war das halt. Mein Vater meinte erst, er wolle keine «Rechtsverdreher» in seiner Familie. Im Nachhinein dann konnte er aber gut damit leben.

Zumal Sie ja in der Politik eine steile Karriere gemacht haben. Dennoch hat die FPÖ den Schritt von einer Protest- zur Regierungspartei nie geschafft.

Leider, und das ist das, was mir am meisten Leid tut, weil ich einfach auch den Kritikern der FPÖ gerne bewiesen hätte, dass wir regierungsfähig sind. Und wir waren es de facto ja auch. Wir waren auf gutem Weg und in den Umfragen nie unter 20 Prozent in den drei Jahren, in denen ich die FPÖ und auch die Regierungsmannschaft geführt habe. Davon kann man heute nicht einmal mehr träumen.

Warum hat es nicht geklappt?

Die Partei hat den Sprung in die Regierung nicht verkraftet, weil sie inhaltlich nicht darauf vorbereitet war. Opposition zu machen, ist ja etwas Feines. Man muss nur sagen: Die Regierung ist mies, wir würden alles besser machen usw. Man muss nicht erklären, wie man die Probleme konkret angeht, und auch nicht, wie man alles zu finanzieren gedenkt. Das ist der Unterschied zwischen Regierungs- und Oppositionspartei. Das hat auch deswegen nicht funktioniert, weil die Leitfigur der Partei, Jörg Haider, den Regierungskurs nicht wirklich mittragen wollte.

Haider wollte – im Gegensatz zu Blocher, der einen Platz in der Regierung anstrebte – einfach Opposition machen?

Das Ziel einer Partei muss immer sein zu regieren. Politik machen heisst gestalten. Wer das nicht will – oder sich das nicht zutraut –, der hat in der Politik nichts verloren.

Warum hat Haider persönlich den Schritt zur Regierungsbeteiligung nie gemacht?

Das ist eine persönliche Entscheidung, weniger rational als emotional erklärbar.

Hätte Haider Kanzler werden können?

Ja, durchaus. Aber dann hätte er eine konstruktivere Rolle spielen müssen.

Sie hatten im Windschatten von Haider eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Dann kam es zum Bruch. Warum?

Wir waren immer sehr unterschiedlich, und deshalb haben wir uns gut ergänzt. Unser Erfolgsrezept war, dass wir sehr unterschiedliche Zugänge zu den Dingen hatten, und solange die Vertrauensbasis da war und ein gemeinsames Ziel, lief es optimal. Das Problem war – und dies kann in beruflichen und menschlichen Beziehungen passieren –, dass die Vertrauensbasis zunehmend erodierte. Haider ist von seiner Persönlichkeit her mehr ein Revolutionär als ein Entwickler, und ich wollte aus der FPÖ eine kompetente Regierungspartei machen. Irgendwann ging das nicht mehr zusammen.

War der Abschied aus der Politik schwer?

Es war meine Entscheidung zu gehen, aber ich war unter den Umständen auch gezwungen. Und es ist mir schwer gefallen, weil ich 17 Jahre lang mit Leidenschaft Politik gemacht hatte. Und alles, was man vorzeitig beendet, ist irgendwie unbefriedigend. Aber die Politik ist kein Geschäft auf ewig, das weiss man bereits, bevor man damit beginnt. Ich habe einen konsequenten Schnitt gemacht und auch mein Parteibuch zurückgegeben.

Haider hat erfolglos eine neue Partei gegründet. Ist sein Zenit überschritten?

Das ist einigermassen offensichtlich, wenn man die Wahlergebnisse betrachtet. Was Österreich brauchen würde, wäre einfach eine zweite bürgerliche Kraft. Ich beobachte dies ohne Schadenfreude.

Wieso sind Sie heute bei einer Bank?

Das Angebot von Wüstenrot war für mich eine Chance, weil ich hier sehr viel mit Menschen zu tun habe. Ich bin ja kein Banker, der hinter dem Computer sitzt und Fonds managt. Wir sind eine Organisation mit 1000 hauptberuflichen und 5000 freiberuflichen Mitarbeitern und über einer Million Kunden in Österreich.

Im europäischen Bankensektor gab es kürzlich die erste transnationale Übernahme. Ist das erst der Anfang?

Die Konzentration im Bankensektor in den letzten Jahren ist ganz deutlich und nicht aufzuhalten. Dass nun eine italienische Bank eine deutsche übernommen hat, ist trotzdem bemerkenswert: Es sagt auch etwas über die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland aus.

Sie sitzen im VR der Privatbank Ihag, dem Family-Office der Bührles. Wieso?

Ich wurde angefragt, als ich bereits bei Wüstenrot tätig war. Ich bringe mein Fachwissen und mein Know-how aber auch in andere Aufsichtsräte ein.