BILANZ: Herr Aussenminister, wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur Schweiz?

Guido Westerwelle: Ein sehr herzliches. Ich bin seit meiner frühesten Jugend oft in der Schweiz gewesen, habe Schweizer Freunde und erlebe die Schweiz als ein ebenso erfolgreiches wie gastfreundliches Land.

Manche Ihrer Landsleute sehen das leider anders. Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz war noch selten so schlecht, und die jüngsten Ankäufe von CDs mit Bankdatenkunden durch das Bundesland Nordrhein-Westfalen machen es nicht besser.

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Die Deutschen mögen die Schweizer und das Land. Dass es auf beiden Seiten der Grenze Politiker gibt, die sich mit Ressentiments zuhause profilieren wollen, ist nicht neu, aber bleibt ärgerlich.

Wie stehen Sie zum jüngsten CD-Kauf von Finanzminister Norbert Walter-Borjans?

Das Ankaufen von Diebesgut bleibt unappetitlich und fragwürdig. Diese Geschäftspraktiken müssen beendet werden.

War der Kauf mit der Bundesregierung abgesprochen?

Ich bedaure, dass das deutsch-schweizerische Steuerabkommen noch nicht in Kraft ist. Mein Appell an die Bundesländer ist, diesen Handel mit Diebesgut überflüssig zu machen, indem sie das Steuerabkommen schnellstmöglich ratifizieren. Wir haben in den Verhandlungen Wert darauf gelegt, dass die berechtigten Interessen beider Länder gewahrt werden. Die Schweiz hat in der Vergangenheit eine Bankenpolitik gehabt, die geändert werden musste. Dabei geht sie seit einigen Jahren voran. Ich weiss von meinen vielen Gesprächen in der Schweiz, dass sowohl die offiziellen Vertreter wie die Bevölkerung Verständnis dafür haben, dass wir Deutsche den Steuerhinterziehern auf die Spur kommen wollen. Denn Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

Das Verhalten von Nordrhein-Westfalen belastet die deutsch-schweizerischen Beziehungen. Warum sprechen Sie als Aussenminister kein Machtwort?

Das Vorgehen ist auch aus Sicht des nordrheinwestfälischen Bürgers Westerwelle schwer verständlich. Denn mit dem Abkommen würden ja erhebliche Milliardenbeträge sicher und auf rechtsstaatlich sauberer Grundlage in die Bundesländer fliessen. Gerade Nordrhein-Westfalen würde als bevölkerungsreichstes Bundesland stark davon profitieren.

Noch einmal: Warum sprechen Sie als Aussenminister kein Machtwort?

Bitte beachten Sie die Kompetenzaufteilung in einem Bundesstaat, die in der Schweiz mit selbstbewussten Kantonen übrigens nicht anders als in Deutschland mit selbstbewussten Bundesländern ist.

Sie sind Anwalt. Wie passt es zu einem Rechtsstaat, wenn er Diebesgut aufkauft?

Ich habe dazu in der gebotenen Klarheit gesagt, was ich zu sagen habe.

Wie kommentieren Sie die Schweizer Haftbefehle gegen drei deutsche Steuerfahnder?

Mir gefällt es nicht, wenn deutsche Beamte, die im Auftrag der Regierungen ihre Arbeit machen, zu Leidtragenden werden. Wir haben das gemeinsame Ziel, dass die Deutsch-Schweizer Freundschaft blüht und gedeiht.

Das ist derzeit nicht wirklich der Fall.

Als ich Aussenminister geworden bin, habe ich viel Wert darauf gelegt, der Schweiz als einem der ersten Länder einen Antrittsbesuch abzustatten. Ich habe grossen Wert darauf gelegt, dass die Altlasten angepackt werden. Dazu zählt ein Steuerabkommen, dazu zählt ein Luftverkehrsabkommen. Ich habe die Schweiz zu Beginn meiner Amtszeit auch intensiv unterstützt, ihre politischen Geiseln in Libyen wieder frei zu bekommen. All das mag Ihnen zeigen, dass das Bekenntnis zur Freundschaft unserer Länder kein Lippenbekenntnis ist.                                            

Ist das Steuerabkommen nach den jüngsten Ereignissen noch zu retten?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bundesländer auf Dauer lieber Dieben ihr Diebesgut vergolden möchten, als durch das Abkommen auf rechtsstaatlich sauberen und völkerrechtlich vernünftigem Wege die hinterzogenen Steuermilliarden regulär in die Staatskassen zurückzuholen.

Wenn es nicht zustande kommt, werden Deutschland geschätzte zehn Milliarden Euro entgehen. Geht es dem Land so gut, dass man mitten in der Krise da so eben mal drauf verzichten kann?

Als Sachwalter der ehrlichen Steuerzahler darf man so nicht argumentieren. Man kann nicht Milliardenbeträge zu Lasten der Staatskassen abschreiben, nur weil einige damit innerdeutschen Wahlkampf machen wollen.

Liegt das Problem darin, dass die Schweizer Milliarden bieten, die Deutschen aber Gerechtigkeit wollen?

Das Abkommen ist ein Beitrag zur Steuergerechtigkeit. Damit wird ja der Steuerhinterziehung ein Riegel vorgeschoben. Die Kritik einiger deutscher Bundesländer richtet sich auch weniger gegen das Abkommen an sich, vielmehr gibt es einige, die das Thema noch eine Weile köcheln lassen wollen, um damit zuhause zu punkten. Es gibt übrigens auch einige Wortmeldungen Schweizer Politiker gegen Deutschland mit zum Teil absurden Blüten. Ich weiss, dass auch Sie das geniert.

An wen denken Sie konkret?

Sie wissen, wen ich meine. Da schenken sich unsere gegenseitigen Diskussionen leider nichts. Aber die Vernunft muss sich in beiden Ländern durchsetzen.

Wie wird sich die deutsche Regierung gegenüber der Schweiz verhalten, wenn das Steuerabkommen nicht zustande kommt? Wird sie auf dem automatischen Informationsaustausch bestehen?

Darüber werde ich nicht spekulieren.

Beide Länder haben offensichtlich unterschiedliche Auslegungen des Vertrages, was den zukünftigen Kauf von Daten-CDs angeht. Im Vertragstext heisst es, die deutschen Behörden würden sich nicht mehr aktiv um solche Daten bemühen. Teilen Sie die Meinung von Walter-Borjans, dass die Behörden trotzdem zugreifen dürfen, wenn ihnen Daten angeboten werden?

Deutsche Gerichte haben entschieden, dass die Daten aus den CD-Käufen im Strafprozess verwandt werden dürfen. Das heisst aber nicht, dass die Ankäufe solcher CDs angemessen sind. Wir müssen Steuerhinterziehung mit Nachdruck bekämpfen, aber wir sollten uns dabei der Mittel bedienen, die vernünftig und angemessen sind. Da ist das Steuerabkommen der beste Weg.

Das Gerichtsabkommen, das Sie zitieren, bezieht sich aber auf den Status Quo vor dem Steuerabkommen.

Noch einmal: Wir wollen das Steuerabkommen in Kraft setzen, damit ein Handel wie in den letzten Tagen mit Daten, die in fragwürdiger Weise beschafft wurden, überflüssig wird.

Gegenüber der Schweiz lässt Deutschland die Muskeln spielen, gegenüber den EU-Partnern Österreich und Luxemburg, wo ebenfalls Schwarzgeld liegt, bleibt man ruhig: Zahlt die Schweiz nun den Preis für Ihre Nicht-Mitgliedschaft in der EU?

Ich habe nicht den Eindruck, dass Deutschland mit unterschiedlichen Massstäben misst. Das Thema steht auf der Tagesordnung mit vielen anderen Ländern. In Deutschland hält sich hartnäckig das falsche Vorurteil, die Schweiz hätte kein Interesse, Steuergerechtigkeit herzustellen. Leider wurde es auch von dem einem oder anderen bedient, der schon die Kavallerie schicken wollte...

…Sie meinen den früheren Finanzminister Peer Steinbrück.

Der Abschluss der Verhandlungen zeigt das Gegenteil, nämlich dass die Schweiz Steuerhinterziehung nicht mehr dulden will.

Auch beim Fluglärmstreit hat man den Eindruck, die Deutschen spielten mit harten Bandagen: In München lehnt die Bevölkerung per Bürgerentscheid den Ausbau des Flughafens ab, die deutsche Regierung zwingt die Schweiz zum Ausbau des Zürcher Flughafens. Ist es das, was Sie unter gut nachbarschaftlicher Freundschaft verstehen?

Dass jetzt nach über zehnjährigen Diskussionen darüber ein Abkommen in dieser Frage erreicht wurde, ist das Ergebnis der Bemühungen von vielen. Es ist zweifelsohne ein Kompromiss, der nun aber umgesetzt werden sollte.

Die Schweiz hat kürzlich einen Vorentscheid über die Beschaffung von Kampfflugzeugen getroffen. Dabei kam die Offerte der deutsch-französischen EADS nicht zum Zug. Sehen Sie das als politische Retourkutsche?

Ich glaube, es liegt in unserem gemeinsamen Sicherheitsinteresse, wenn wir das modernste und beste Flugzeug der Welt in Europa gemeinsam fliegen. Ich höre, dass die Diskussion in der Schweiz darüber noch nicht abgeschlossen ist, und würde mich freuen, wenn sich das Land doch noch für den Eurofighter entscheidet.

Haben Sie nach den jüngsten Spannungen noch Hoffnung?

Es ist ratsam und klug, verschiedene Themen nicht miteinander zu verknüpfen.

Kommen wir vom Eurofighter zur Eurokrise…

…Ich unterbreche sie nur ungern, aber eine Eurokrise kenne ich nicht. Ich kenne eine Schuldenkrise in Europa. Der Euro ist stabil und im Verhältnis zu anderen Währungen stärker als bei seiner Einführung. Die Inflation des Euros liegt in Deutschland bei zwei Prozent; nach der Deutschen Einheit lag die Inflation der D-Mark bei über fünf Prozent.

Die Schuldenkrise beschäftigt uns seit Jahren. Nach jedem Hilfspaket kommt eine kurze Atempause, dann steigen die Zinsen und der Krisenzyklus beginnt von neuem. Warum findet Europa keinen Ausweg aus dem Teufelskreis?

Europa kommt aus dieser Krise heraus, wenn wir mit langem Atem die richtige Politik fortsetzen. Dann wird Europa danach stärker sein als zuvor. Es geht hier aber nicht nur um eine Schuldenkrise in Europa, die wir mit Haushaltsdisziplin, Solidarität und neuem Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit meistern werden. Es geht auch um den kulturellen Selbstbehauptungswillen Europas in Zeiten, da neue Kraftzentren in der ganzen Welt entstehen. 

Der Druck, die Schulden der Südstaaten zu vergemeinschaften steigt. Deutschland hat mit Frankreich nach den Präsidentschaftswahlen den wichtigsten Verbündeten gegen dieses Ansinnen verloren. Wie lange können Sie dem Druck noch standhalten?

Die Deutsche Politik beruht auf drei Säulen: Erstens Solidität, weil man eine Schuldenkrise nicht dadurch bekämpfen kann, dass man das Schuldenmachen erleichtert. Deswegen wende ich mich gegen die Idee der deutschen Opposition und mancher Sozialisten in Europa, eine gemeinsame unbegrenzte Haftung für alle Schulden Europas einzuführen. Zweitens Solidarität – unser Engagement geht inzwischen in die Grösse eines jährlichen Bundeshaushaltes. Und drittens Wachstum. Aber Wachstum kommt nicht von Schulden, das hat auch die Vergangenheit gezeigt, sondern von Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb ist es auch dringend erforderlich, dass wir die Ausgabenpolitik in Europa verändern, weg von Subventionen, hin zu Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Infrastruktur in einem gemeinsamen Binnenmarkt.

Was antworten Sie denjenigen Kritikern in den Südländern, die sagen, Deutschland habe vom Euro am meisten profitiert, also müsse es jetzt am meisten an den Folgen zahlen?

Das tut Deutschland ja vorbildlich und mit grosser Geschlossenheit. Denn etwa 80 Prozent des deutschen Bundestages haben diese enormen Hilfspakete beschlossen. Aber eine Überforderung Deutschlands würde Europa nicht stärken, sondern schwächen, weil sie einhergeht mit einer Unterforderung der anderen Länder Europas.

In den angelsächsischen und südländischen Medien wird das Bild des bösen Deutschen wieder gezeichnet. In wie weit beeinflusst die historische Rolle Deutschlands im letzten Jahrhundert das Handeln in diesem Jahrhundert?

Alle Generationen seit dem zweiten Weltkrieg wissen, dass Frieden, Wohlstand und Freiheit keine Selbstverständlichkeit sind, sondern das Ergebnis des europäischen Kooperationsmodells, das die Jahrhunderte der Konfrontation beendet hat. Mancher redet leichtfertigt über die anstrengenden und mühseligen Verhandlungen in Brüssel. Man sollte nie vergessen, dass es erheblich schwieriger ist, die Folgen von Konfrontation zu beseitigen. Und deswegen freue ich mich, dass die grosse Mehrheit der Bürger aller Generationen erkennt: Europa hat einen Preis, aber einen noch viel grösseren Wert.

Wie viel von diesem Preis, wie viele Milliardenhilfen können Sie den deutschen Wählern noch schmackhaft machen?

Von schmackhaft kann keine Rede sein, denn kein Abgeordneter beschliesst solche Hilfspakete gerne, und kein Bürger geht gerne solche Risiken für die eigenen Steuergelder ein. Und es darf nicht der Eindruck erweckt werden, der Weg sei risikolos. Er ist nur in Anbetracht der Lage derjenige, der am meisten Erfolg verspricht, und den wir auch verantworten können.

Aus der Schuldenkrise ist eine Vertrauenskrise geworden. Wie wollen Sie das Vertrauen zurückgewinnen?

Nur die Reformbereitschaft der Staaten bringt das Vertrauen der asiatischen Investoren, der arabischen Anleger und der grossen internationalen Pensionsfonds zurück. Die Ursache der Krise muss angepackt werden, also weniger Schulden durch neue Haushaltsdisziplin.

Bundeswirtschaftsminister und FDP-Chef Philipp Rösler hat unlängst öffentlich gesagt, der Euro-Austritt Griechenlands habe seinen Schrecken verloren. Teilen Sie seine Meinung?

Philipp Rösler verfolgt wie die gesamte Bundesregierung das Ziel, dass die Eurozone zusammenbleibt und die Schuldenkrise erfolgreich gemeistert wird. Aber es ist offensichtlich, dass die Zukunft Griechenlands in Athen entschieden wird. Deshalb bitte ich auch die Regierung in Athen, diese Diskussion ernst zu nehmen. Denn bei aller Solidarität: Was vereinbart worden ist an Leistungen und Gegenleistungen, muss weiter gelten. Substantielle Abstriche bei den Reformvereinbarungen kann es nicht geben.

FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle hat eine Volksabstimmung über den Euro ins Spiel gebracht. Was halten Sie von der Idee?

Ich bin der Überzeugung, dass wir in Europa langfristig eine europäische Verfassung brauchen, mit einer wirklichen Gewaltenteilung, Transparenz und demokratischer Kontrolle, über die es dann auch eine Volksabstimmung geben müsste. Es ist schade, dass nur der Lissabonner Vertrag möglich wurde und nicht eine Lissabonner Verfassung. Wir sehen doch, dass manche Entscheidungsprozesse zu kompliziert, zu langwierig und auch nicht effektiv genug gewesen sind.

Wie soll das konkret aussehen?

Mein Ziel ist ein Europa der Heimatländer mit einem europäischen Parlament, mit dem jetzigen Rat als einer zweiten Kammer, und mit einer Kommission, die wirklich exekutive Befugnisse ausübt. Es wäre gut, wenn einer solchen Exekutive ein Präsident vorstehen würde, der vom Volk direkt gewählt würde. Das brächte Europa auch zusammen, weil dann nicht nationale Wahlkämpfe die europäische Politik bestimmen, sondern weil sich dann die Politiker in ganz Europa mit ihren Ideen und Persönlichkeiten empfehlen müssten.

Also erwarten Sie von den Völkern noch mehr Europa in einer Zeit, da die Stimmung stark gegen eine weitere Integration ist.

Die nationalen Ressentiments in Europa sind eine Gefahr. Es gibt sie bedauerlicherweise überall, auch bei uns, auch in der Schweiz und in anderen Ländern. Aber in Zeiten der Globalisierung auf eine Renationalisierung zu setzen ist grundfalsch. Dann scheitert Europa als Schicksals- und Kulturgemeinschaft. Den Wettbewerb mit den neuen Kraftzentren China, Indien, Brasilien und mit einem Dutzend höchst erfolgreicher Staaten in der zweiten Reihe werden wir nur gemeinsam bestehen. Deswegen ist diese Schuldenkrise auch eine Bewährungsprobe, nämlich ob wir Europäer uns als Schicksalsgemeinschaft erkennen und als Kulturgemeinschaft mit den Werten von Freiheit, Demokratie und Persönlichkeitsrechten behaupten wollen.

Konkret?

Reich kann man auch in China werden oder in Brasilien. Aber kann man sich dort so frei entfalten wie bei uns? Lebt man dort so sicher wie bei uns? In einer Gesellschaft zu leben, die nicht nur aus Arm und Reich besteht, sondern die durch die soziale Klammer der Mittelschicht zusammengehalten wird, das ist Europa. Ich hoffe, dass wir jenseits des Krisenmanagements die Zukunftsgestaltung nicht aus den Augen verlieren. Ein Scheitern in der Schuldenkrise, ein Auseinanderbrechen Europas käme einer globalen Kontinentalverschiebung gleich, wo sich Europa plötzlich am Rande wiederfindet.

In welcher zeitlichen Dimension denken Sie bei diesem stärker integrierten Europa?

Lieber schneller als später, aber natürlich braucht eine solche Entwicklung Zeit. Aber auch Zukunftsmusik beginnt mit dem ersten Ton. Und die Chancen dafür sind als Lehre aus der Krise gestiegen.

Sehen Sie bei den europäischen Regierungskollegen die Bereitschaft, Souveränität nach Brüssel abzugeben?

Das ist natürlich unterschiedlich ausgeprägt, aber das ist nichts Neues. Dass die Briten eine andere Identifikation mit der EU haben als wir Deutsche, war schon bei Magaret Thatcher und Helmut Kohl so.

Eurobonds im Tausch gegen eine zentrale Finanzpolitik ist verkürzt gesagt der Vorschlag von Luxemburgs Ministerpräsident Juncker. Denkbar für Sie?

Ich halte Eurobonds für einen Konstruktionsfehler, der Europa gefährden würde. Denn die unbegrenzte gesamtschuldnerische Haftung einzelner Länder für ganze Europa wird doch nur dazu führen, dass die Reformbereitschaft nachlässt und noch mehr Schulden aufgenommen werden. Deswegen sehe ich darin kein Ziel, auch kein Fernziel. Haben Sie eine gesamtschuldnerische Haftung zwischen den Kantonen?

Nein, nur einen Finanzausgleich.

Den haben wir auch, aber das ist etwas anderes. Obwohl die Schweiz ein Bundesstaat ist, hat sie keine gesamtschuldnerische Haftung zwischen den Kantonen. Und obwohl Deutschland ein grosser Bundesstaat ist mit 80 Millionen Menschen, haben wir keine gesamtschuldnerische Haftung zwischen den Bundesländern.

Deutschland hat die Schweiz immer dazu, man kann es nennen ermutigt, man kann es nennen gedrängt, der EU beizutreten. Können Sie nachvollziehen, dass die EU in der Schweiz derzeit nicht als Erfolgsmodell gesehen wird?

Ich habe viele Reden in der Schweiz gehalten und noch nie jemanden gedrängt. Ich glaube aber, dass auf die Dauer in Europa jeder für sich zu klein ist.

Wie sehen Sie die zukünftige Rolle der Schweiz in Europa?

Das muss die Schweiz selbst entscheiden. Wir sind da keine Lehrmeister.

Welche Zukunft hat der Weg der Bilateralen Verträge?

Ich würde es durch die Blume formulieren: Umfassende, passgenaue Antworten sind besser als Scheibchen und Rosinen.

Haben Sie Verständnis, dass die Schweiz im Hinblick auf ihre staatliche Souveränität keiner automatischen Übernahme neuer EU-Verträge zustimmen kann?

Ich bitte BILANZ um Nachsicht: Aber jetzt ziehen Sie mich zu sehr in Ihre Schweizer Diskussion. Ich bin ein Freund der Schweiz, aber deutscher Aussenminister.

Die Deutschen bilden mit 270 000 Personen hierzulande inzwischen die grösste Ausländergruppe. Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass Hoch- und Höchstqualifizierte in Scharen Ihr Land verlassen, um sich in der Schweiz niederzulassen? 

Die Schweiz ist ein schönes und attraktives Land, in dem ein Wind der Freiheit weht. Aber auch in Deutschland haben sich in den letzten beiden Jahren die Rahmenbedingungen verbessert, so dass viele Deutsche die interessanten Arbeitsplatzangebote daheim wahrnehmen. Und es gibt auch Schweizer, die nach Deutschland kommen.

Allerdings deutlich weniger.

Was möglicherweise auch daran liegt, dass wir deutlich mehr sind.

Die Infrastrukturen der Schweiz ächzen unter dem Zuzug, die Mieten explodieren. Es gibt politische Überlegungen in der Schweiz, die Personenfreizügigkeit deshalb einzuschränken. Haben Sie dafür Verständnis?

Ich hoffe nicht, dass die Verantwortlichen diesseits oder jenseits der Grenze die Freizügigkeit ernsthaft in Frage stellen wollen. Die ist eine grossartige Errungenschaft zum gegenseitigen Nutzen.

Rot-Grün will eine neue Vermögenssteuer ab 2 Millionen Euro einführen. Haben Sie keine Bedenken, dass dann noch mehr reiche Deutsche in die Schweiz kommen?

Die Vermögenssteuer ist vom Bundesverfassungsgericht zurecht aufgehoben worden. Ich kann keinen Sinn darin erkennen, die Substanz von mittelständischen Unternehmen zu besteuern statt den wirtschaftlichen Erfolg.

In Frankreich wurden die Spitzensteuersätze deutlich angehoben, mit dem Ergebnis, dass reiche Franzosen vermehrt in die Schweiz abwandern. Wird Deutschland folgen?

Ich weiss, dass einige in der Opposition sich einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent wie in Frankreich wünschen. Ich glaube nicht, dass die Deutschen bei der Bundestagswahl nächstes Jahr für eine solche Politik eine Mehrheit geben werden. Denn wenn der Spitzensteuersatz auf 75 Prozent angehoben wird, kann man sich unschwer vorstellen, wie hoch dann die Steuerbelastung für die Mittelschicht aussehen wird.

In Deutschland steckt die FDP ebenso wie in der Schweiz seit Jahren im Tief. Zeitliche Koinzidenz, oder haben sich die klassischen liberalen Ideen wie schlanker Staat, Eigenverantwortung, Steuersenkungen überlebt?

Es gibt keinen besseren Beweis als die Schuldenkrise für die Richtigkeit der liberalen Idee, nämlich dass man eine vernünftige Arbeitsteilung zwischen Gesellschaft und Staat braucht, dass man die Eigenverantwortung nicht unterfordern und den Staat mit Ansprüchen nicht überfordern darf. Man kann nur verteilen, was vorher erwirtschaftet worden ist. In Europa ist die Jugendarbeitslosigkeit am geringsten überall dort, wo liberale Politiker auf eine starke Mittelschicht gesetzt haben. Ich bin nach der letzten Bundestagswahl stark kritisiert worden für mein Bekenntnis zu einer mittelstandsorientierten Politik…

…man hat Ihnen Klientelpolitik vorgeworfen.

Heute erkennen auch die Kritiker, sofern sie keine ideologischen Scheuklappen haben, wie richtig dieser Politikwechsel 2009 gewesen ist. Deutschland geht es so gut wie seit der Deutschen Einheit nicht mehr. Trotz der Krise in Europa haben wir steigende Löhne, steigende Renten, sinkende Arbeitslosigkeit und eine Wirtschaft, um deren Wettbewerbsfähigkeit uns viele beneiden.

Dann liegt das schlechte Abschneiden der liberalen Parteien in beiden Ländern nur an den von Ihnen genannten politischen Scheuklappen?

Ich rate meinen liberalen Freunden, egal wo, in die Offensive zu gehen, und diesem Zeitgeist der Umverteilung und staatlichen Bevormundung die Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und Eigenverantwortung entgegenzustellen.  Wenn die Liberalen selbstbewusst zu den Wurzeln ihrer Freiheitsideen stehen, sie kraftvoll vertreten auch bei stürmischem Gegenwind, dann sind diese Ideen unschlagbar. Moderner als heute war die liberale Idee noch nie. 

Wie intensiv tauschen Sie sich aus mit Ihren Schweizer Kollegen bei der FDP?

Wir haben einen regelmässigen Austausch. Mein Eindruck ist, dass sich der Liberalismus durch den Zeitgeist der Staatsgläubigkeit ein wenig in die Defensive hat drängen lassen. Deshalb mein Aufruf an alle Liberalen: Steht auf, schüttelt diese Motten aus den Kleidern, und blast zum Angriff!

Ist es nicht absurd, dass der Etatismus so stark ist in einer Zeit, in der die Staaten reihenweise versagen?

Heute sieht man, dass nicht der fette Staat der starke Staat ist, sondern der schlanke, effiziente und damit liberale Staat. Denn wer einen Staat auf Schulden baut, wie die Umverteiler in ganz Europa, der baut den Staat auf Sand.

 

Der Liberale
Guido Westerwelle (50) ist seit knapp drei Jahren Aussenminister der Bundesrepublik Deutschland. Von 1994 bis 2001 war er Generalsekretär, von 2001 bis 2011 Bundesvorsitzender der FDP. An der Bundestagswahl 2009 erzielte die Partei unter seiner Führung mit 14,6 Prozent ihr bestes Wahlergebnis und bildet seither mit der CDU unter Angela Merkel eine Koalition. Seither kam die Partei bei Landtagswahlen jedoch stark unter Druck. Westerwelle ist promovierter Rechtsanwalt. Er wohnt mit seinem Lebenspartner in Berlin und Bonn.