Das Jahr 2021 war ein Jahr der Grossschäden: Ist das Leben auch für Aktuare unberechenbarer geworden?

Das Leben ist tatsächlich nicht berechenbar. Als Aktuare versuchen wir, die Risiken und die Bandbreite von Versicherungsschäden so gut wie möglich abzuschätzen. Auch schlimme Gross- und Naturkatastrophenschäden wie 2021 sind in diesen Risikomodellen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eingerechnet. 

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Jetzt mehren sich die Stimmen, die aufgrund der Klimaveränderungen häufigere Schadenjahre wie das jüngste erwarten. Das muss beobachtet werden und die Modelle müssen entsprechend angepasst werden. 

Wie sollen Versicherer mit der zunehmenden Komplexität von Risiken umgehen?

100-prozentige Sicherheit gibt es nicht. Das Verhindern und Abfedern von Auswirkungen der Risiken ist genau das Geschäft von Versicherern. Mir hat immer gut gefallen an dieser Branche, dass sie auch etwas wirklich Sinnvolles zu unserem Leben beiträgt. Versicherer können die Welt quasi sicherer machen, indem sie die Risiken von Einzelpersonen bündeln und auf ein grösseres Kollektiv verteilen. Das ist genau die Geschäftsidee der Versicherung.

Mittlerweile tauchen immer wieder neue Risiken auf, die zum Teil komplexer und weniger berechenbar sind als bisherige Risiken. Damit müssen sich die Versicherer auseinandersetzen und entscheiden, ob und wie diese versicherbar sind. Es ist nicht alles versicherbar.

Was gilt als nicht oder nur eingeschränkt versicherbar? 

Zum Beispiel Cyber- oder Pandemierisiken. Hier stellt sich die Frage, ob Versicherer die Risiken alleine tragen können. Ich meine: Das können sie nicht. Also gilt es zu prüfen, ob nicht weitere Beteiligte in einem System, etwa der Staat oder die Gesellschaft, einen Teil der Risiken übernehmen müssen.

Investoren setzen zunehmend auf ESG-Kriterien und mehr Sustainability. Lassen sich die Risiken und Unwägbarkeiten in diesem Bereich überhaupt verlässlich berechnen?

Fakt ist: Das Thema nachhaltige Entwicklung ist auf der Agenda des Versicherungssektors angekommen. Die Kunden und die Gesellschaft fordern Nachhaltigkeit. So steigt auch der Druck, die ESG-Kriterien Umwelt, Soziales und Unternehmensführung in den Unternehmensstrategien und -prozessen zu integrieren.

Vieles ist in diesem Bereich schon bekannt, etwa die physikalischen Effekte der Klimaerwärmung. Doch es gibt noch viele Herausforderungen: zum Beispiel, dass Klimaveränderungen über sehr lange Zeiträume stattfinden und die wirtschaftlichen Folgen sehr schwer einzuschätzen sind. Generell ist das Thema ESG wichtig und muss unbedingt berücksichtigt werden, auch wenn sich einzelne Aspekte im Detail oft noch nicht quantifizieren lassen. 


Unternehmen arbeiten immer nach Kennzahlen. Wie hilft die Mathematik, Faktoren wie Nachhaltigkeit oder Klimaneutralität zu berechnen?

Der CO2-Fussabdruck ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Kennzahl – nicht nur für die eigenen Geschäftstätigkeiten, sondern auch in der ganzen Lieferkette und bei versicherten Objekten. Allerdings sind vorliegende Daten oft eher mangelhaft oder schwer vergleichbar. Daher ist hier aktuell nicht unbedingt die Mathematik relevant, sondern eher eine qualitative und standardisierte Offenlegung von Daten ist wichtig. In diesem Punkt hinkt die Schweiz anderen Ländern noch etwas hinterher.

Generell sind Versicherer aufgefordert, sich mit komplexen Fragen im Bereich ESG auseinanderzusetzen und integrierte Ansätze für Nachhaltigkeit zu entwickeln. Die Verantwortung der Aktuare ist es, ihren Beitrag zu leisten, dass Nachhaltigkeitsszenarien berechnet und validiert/beurteilt werden können. An dem Punkt, hier ganz neue verlässliche Modelle zu entwickeln, sind wir noch nicht.

Stichwort Datenqualität: Inwiefern gewinnt Data Science mit neuen Methoden an Bedeutung für Aktuare? 

Das Thema Data Science ist sehr wichtig geworden für Versicherungen. Denn wir haben heute viel mehr Daten als früher zur Verfügung und sollten versuchen, diese auch auszuwerten. Allerdings sind diese Daten oft unstrukturiert. Daher reichen klassische quantitative Auswertungen, wie in der Versicherungsmathematik traditionell üblich, oft nicht mehr aus. Hier kommen Data Scientists mit neuen Methoden ins Spiel.

Zum Beispiel?

Heute lässt sich beispielsweise mit einem Echtzeit-Screening von Internetbewegungen herausfinden, was Kunden wirklich interessiert. Mit neuen Methoden und IT-Programmen können Data Scientists hier spannende Erkenntnisse liefern. Aktuare programmieren auch, müssen allerdings bei den einen oder anderen modernen Methoden zur Datenauswertung passen, weil es bisher nicht unbedingt Bestandteil ihrer Aktuarsausbildung war. 

Es gibt also Bedarf an Data Scientists in Versicherungen?

Auf jeden Fall. Und ihre Arbeit muss künftig auch mehr eingebettet werden in die Operationalisierung. Allerdings haben Datenwissenschafter meist nicht das tiefe Versicherungsverständnis wie Aktuare. Daher streben wir als Aktuarvereinigung eine engere Zusammenarbeit der beiden Berufe an. Neben dem Methodenwissen geht es auch darum, qualitativ hochwertige Ergebnisse zu generieren, die im Versicherungsgeschäft umgesetzt werden können. Aktuare können zum Beispiel helfen, Fehlinterpretationen bei Datenauswertungen zu vermeiden.

Wie fördert die Fachgruppe Data Science der Schweizerischen Aktuarvereinigung die Zusammenarbeit? 

Die Fachgruppe Data Science wurde vor einigen Jahren gegründet, damit wir als Aktuare nah dran sind am Puls der neuen Entwicklungen. Die vielen Angebote der Arbeitsgruppe werden von unseren Mitgliedern sehr aktiv wahrgenommen. Im Augenblick geht es darum, zu verstehen, was aktuelle Kernthemen in der Versicherungsmathematik sind, bei denen die neuen Data-Science-Methoden am besten helfen können.

Wie greifen Sie vom Präsidium der Aktuarvereinigung das Thema Data Science auf?

Mit der Übernahme der Präsidentschaft im vergangenen Herbst habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, immer wieder Impulse zu setzen, damit wir uns im Vorstand des Berufsverbands vertiefter mit Data Science und ihren Fragestellungen auseinandersetzen – zum Beispiel, wie sich Prozesse effizienter gestalten lassen oder die Automatisierung vorangetrieben werden kann, um die von Unternehmen geforderte schnellere Auswertung komplexerer Datenmengen mit höherer Aussagekraft als früher zu erreichen.

Es geht auch darum, uns als Aktuare weiterzuentwickeln und Data-Science-Kompetenzen künftig in die aktuarielle Ausbildung aufzunehmen. Ziel ist es, das Wissen und die Kompetenz zusammenzubringen und für die Versicherungspraxis zu schauen, wie das verwendet werden kann.

Wie wird die Digitalisierung die Versicherungsmathematik verändern?

Aktuare mit ihren Kernkompetenzen bleiben wichtig und ich bin sicher, die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Doch auch in unserem Bereich wächst mit der Digitalisierung der Anspruch, die Vielzahl an Daten automatisierter und durch das Anwenden modernerer Methoden effizient auszuwerten und neue Einsichten zu generieren. Ich sehe unsere künftige Rolle als Aktuare in der Versicherungswelt eher als Business-Partner denn als ausführende Bearbeitende von Berechnungen.