Kurzer Rückblick: Beim Gipfeltreffen der Mitglieder des Europäischen Rates im Juni 2018 standen die Verdienste der potenziellen Nachfolger von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Diskussion. Mit illustren Namen wie François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank und Erkki Liikanen, ehemaliger Chef der finnischen Notenbank, waren verdiente Kandidaten im Gespräch für das Amt, dessen Rolle Mario Draghi neu definiert hat.

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Doch diese Woche überraschten die Staats- und Regierungschefs der EU mit einer neuen Spitzenkandidatin: Christine Lagarde, ehemalige Chefin des internationalen Währungsfonds.

Was auch kommen mag: In die Fussstapfen des Mannes zu treten, der den globalen Finanzmärkten versicherte, er würde «alles tun», um die Gemeinschaftswährung und den Fortbestand der Eurozone zu sichern, wird keine leichte Aufgabe.

Draghi meisterte die Herausforderungen der Europäischen Staatsschuldenkrise mithilfe mutiger und kreativer geldpolitischer Massnahmen, die viele anfangs für wenig plausibel oder gar unmöglich hielten. Dazu zählten die Einführung von Negativzinsen für Bankeinlagen bei der EZB und natürlich das gross angelegte quantitative Lockerungsprogramm.

Herausfordernde Kombination aus gedämpfter Inflationserwartung und langsamem Wachstum

Sollte Lagarde das Rennen gewinnen, wird sie sich bereits ab dem ersten Tag einer Reihe von Herausforderungen gegenübersehen. Dazu zählen allen voran die schwächelnde Konjunktur und eine Inflation, die sich hartnäckig unter dem Zielniveau hält.

Angesichts der Tatsache, dass sich die Leitzinsen bereits im negativen Bereich befinden, stellt das Zusammenspiel der gedämpften Inflationserwartungen und des schleppenden Wachstums eine enorme Herausforderung für eine Normalisierung der Geldpolitik dar.

Fünf Jahre nach dem Beginn der quantitativen Lockerung liegen die markt- und umfragebasierten Werte für die Inflationserwartungen unter denen des Jahres 2014. Gleichzeitig lag die Kerninflation der vergangenen zehn Jahre im Schnitt bei nur 1 Prozent gegenüber dem Vorjahr und blieb konsistent hinter den Erwartungen zurück. Infolgedessen war die EZB wiederholt gezwungen, ihre Prognosen herabzusetzen. Die Aussicht, dass die EZB ihren Zielwert von 2 Prozent erreicht, scheint in immer weiterer Ferne. Eine sich verlangsamende Produktionstätigkeit, schwächere Automobilproduktion und die zurückgehende Exportnachfrage aus China und Grossbritannien kombiniert mit einem geringeren Beschäftigungswachstum deuten auf eine deutlich breitere Konjunkturabschwächung in ganz Europa hin.

Langfristig könnten die fiskalpolitischen Entwicklungen in Italien und ein schwacher europäischer Bankensektor – zusammen mit den strukturellen Problemen der Bevölkerungsalterung – zu einer weiteren Fragmentierung der europäischen Politik führen. Eine koordinierte Reaktion auf einen möglicherweise stärkeren Einbruch an den Finanzmärkten wäre somit gefährdet. Aufgrund des konsensorientierten Ansatzes der EZB bei ihrer Entscheidungsfindung rechnen wir kurzfristig nicht damit, dass die neue EZB-Führung wesentlich von der derzeitigen geldpolitischen Ausrichtung abweichen wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn unser Basisszenario weiterhin eintritt: ein dem Trend entsprechendes Wachstum und ein gedämpfter Inflationsdruck.

EZB: Hohe Messlatte für weitere Zinssenkungen

Wir sind zudem überzeugt, dass die EZB zögern wird, die Zinsen weiter in negatives Terrain zu senken. Die Sorge hinsichtlich der Rentabilität des europäischen Bankensektors hält weiter an. Die Notenbank wird zudem in Zeiten starker internationaler Handelsspannungen vermeiden wollen, als Manipulator der Gemeinschaftswährung angesehen zu werden.

Dennoch deutete Draghi bei seinem letzten Auftritt als EZB-Präsident während der Notenbankkonferenz in Sintra einen weiteren geldpolitischen Stimulus an. Er riet den Entscheidungsträgern, gegebenenfalls alle ihnen zur Verfügung stehenden geldpolitischen Instrumente zu nutzen, falls sich die Situation aus schwachem Wachstum und politischen Unsicherheiten nicht verbessern sollte. Folglich fielen die 10-jährigen Bundesanleihen auf ein Allzeittief von minus 30 Basispunkten.

Tritt dieses Negativszenario ein, gehen wir von einer geldpolitischen Lockerung auf drei verschiedenen Ebenen aus: Forward Guidance (Absichtserklärungen), Zinssenkungen und quantitative Lockerungsmassnahmen. Zusätzliche Käufe von Staatsanleihen im Rahmen einer quantitativen Lockerung könnten angesichts der selbst auferlegten strengen Einschränkungen bei Emissions- und Emittentenlimits nach europäischem Kapitalschlüssel schwierig werden.

Daher wird die Zentralbank voraussichtlich erneut kreative Lösungen entwickeln müssen. Käufe von Unternehmensanleihen und anderen Risikoanlagen bei der quantitativen Lockerung könnten stärker ins Gewicht fallen. Unter Umständen muss die Fiskalpolitik im Kampf gegen den nächsten Abschwung eine grössere Rolle spielen – eine Tatsache, die Mario Draghi bei der EZB-Sitzung im Juni anerkannte und erneut bekräftigte.

Die Forward Guidance wurde unter der Leitung von Mario Draghi im Juli 2013 in das Instrumentarium der Zentralbanken aufgenommen und hat seither eine neue Bedeutung erlangt. Diese Kommunikationsform der Zentralbanken hat sich zu einem wichtigen Konjunkturhebel entwickelt, da sich die Leitzinsen an oder nahe ihrer effektiven Untergrenze bewegen. Die Forward Guidance wurde überdies auf Länderebene auch von der Bank of England übernommen. Die US-Notenbank stützt sich zur Normalisierung ihrer Geldpolitik seither ebenfalls stark darauf.

Klare Kommunikation als wesentlicher Bestandteil effektiver Geldpolitik

Die Anleger achten hinsichtlich der politischen Ausrichtung genau auf sprachliche Hinweise. Denn die Interpretation kann plötzliche Marktbewegungen nach sich ziehen. Im heutigen Zentralbankwesen wiegen Worte schwerer als Taten. Dies belegten die Marktschwankungen Ende des letzten Jahres als Reaktion auf uneinheitliche Aussagen des Fed-Vorsitzenden Jerome Powell hinsichtlich einer neutralen Haltung der US-Notenbank.

Draghis Amt wird zu einem Zeitpunkt übernommen, an dem erhebliche markt- und konjunkturbezogene Herausforderungen bestehen. Die Wahl der richtigen Nuancen für Inhalt und Ton von Aussagen ist eine Fähigkeit, die wohl ein wenig Übung erfordert. Daher ist es gut möglich, dass wir uns auf eine gewisse Marktvolatilität einstellen müssen, wenn die Märkte die ersten Ankündigungen des neuen Präsidenten verarbeiten.

Nun, da sich der Vorhang nach den letzten Amtsmonaten von Draghi senkt, wird unweigerlich auf dem Prüfstand stehen, wie bereit die neue Spitze sein wird, kreative Massnahmen einzusetzen. Die Präsidentschaft Draghis hat uns wichtige Erkenntnisse geliefert: wie bedeutend verbale Intervention ist, um Marktreaktionen zu steuern – und wie notwendig innovative Lösungen, wenn das bestehende Instrumentarium ausgeschöpft ist.

Für viele war die Wahl des derzeitigen EZB-Präsidenten gleichbedeutend mit der Rettung der Gemeinschaftswährung oder gar der Eurozone. Auch auf die nächste EZB-Führung wartet eine wichtige – und anspruchsvolle – Aufgabe bei der künftigen Stabilisierung der Union.

*Andrew Wilson ist CEO für EMEA und Leiter des Global Fixed Income und Liquidity Management-Teams bei Goldman Sachs Asset Management