In den USA müssen mehr als 40 Millionen Menschen Studienkredite tilgen – und viele von ihnen sind im Verzug. Um eine Krise wie 2008 zu vermeiden, schlagen Demokraten jetzt radikale Lösungen vor.

Er verkaufte sein Auto, bestellte das Kabelfernsehen ab und kündigte die Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Aber all das genügte nicht. Also nahm Steven Donovan, damals Angestellter einer Bank in Chicago, noch eine Nebentätigkeit auf.

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Nach Feierabend zog er durch die Secondhand-Läden der Stadt und erstand gebrauchte Kleidung, alte Jeans, Hemden und Pullover, die er später auf Ebay versteigerte. Nur so konnte der Mann im Sommer 2015 schliesslich die Schulden begleichen, die er in den Jahren zuvor angehäuft hatte: 46'500 Dollar.

Spartanischer Lebensstil

Donovan war nicht in den Miesen, weil er ein Haus gekauft hatte, ein teures Hobby liebte oder Geld an der Wall Street verspielte. Nein, es lag an seinem Studium. An den Gebühren, die er seiner Uni zahlen musste. Donovan hatte einen Kredit aufgenommen und führte ein spartanisches Leben, um ihn zu tilgen.

«Alle meine Ausgaben habe ich genau überwacht», erzählt er. Die Sache habe ihn psychisch belastet. «Ich kann mich noch an dieses Gefühl erinnern, als ich meinen Abschluss hatte und dann meine Schulden sah», sagt Donovan. «Das machte mich krank.»

Ein Teufelskreis

Wirtschaftlich prekäre Fälle mit seelischen Folgen wie bei Steven Donovan sind im Bildungssystem Amerikas, wo das Uni-Diplom einen extrem hohen Stellenwert hat, inzwischen eher die Regel denn die Ausnahme. «Die Studienkredite sind zu einer enormen Gefahr geworden», sagt Pamela Donnelly, eine der renommiertesten Bildungsexpertinnen Amerikas.

All die jungen Leute, die Schulden tilgen müssen, erklärt sie, geben weniger Geld für andere Dinge aus, für Häuser, Autos, Fernseher. «Das kann unserer Wirtschaft grossen Schaden zufügen», meint Donnelly. «Es ist höchste Zeit, etwas dagegen zu tun.»

Studentenschulden betragen 1,6 Billionen Dollar

Die schiere volkswirtschaftliche Dimension des Problems – die Summe, die insgesamt aussteht, beträgt mittlerweile 1,6 Billionen Dollar, ruft mittlerweile auch prominente Politiker auf den Plan. Eine radikale Lösung schlägt etwa Elizabeth Warren vor, die Senatorin aus dem Bundesstaat Massachusetts und mögliche Kandidatin der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 2020.

Warren will die jungen Menschen von ihren Krediten befreien. Ihr Plan sieht vor, dass Absolventen, deren Haushaltseinkommen weniger als 100'000 Dollar im Jahr beträgt, bis zu 50'000 Dollar Schulden erlassen werden. Auch bei einem Einkommen zwischen 100'000 und 250'000 Dollar soll es noch Unterstützung geben.

Finanzieren will Warren das mit einer Reichensteuer. Andere Politiker fordern, dass die Unternehmen, bei denen die frisch Diplomierten ihre erste Stelle finden, einen Teil der Schulden übernehmen.

Democratic presidential candidate Sen. Elizabeth Warren, D-Mass., speaks at Focus: HOPE in Detroit, Tuesday, June 4, 2019. (AP Photo/Paul Sancya)

Elizabeth Warren: Die Senatorin von Massachusetts will die erste Präsidentin der USA werden.

Quelle: Keystone

Hohe Studienquote

Dass das Problem derart monströse Grössenordnungen annehmen konnte, liegt auch am Stellenwert des Universitätsdiploms in Amerika. Zwei von drei Teenagern beginnen ein Studium, deutlich mehr als in der Schweizer oder Deutschland.

Aber die Ausbildung ist teuer, selbst wenn es nicht nach Harvard, Yale oder Stanford geht – sondern wie bei Steven Donovan an die kleine Universität Eau Claire im Bundesstaat Wisconsin. Oft werden Zehntausende Dollar fällig, wer Medizin oder Jura studiert, muss sogar mit mehr als 100'000 Dollar rechnen.

Zum Vergleich: Die Freie Universität Berlin verlangt für das kommende Sommersemester 311,99 Euro, inklusive U-Bahn-Ticket.

Hohe Schulden sind die Norm

Die meisten jungen Menschen in den USA nehmen Kredite auf, um ihr Studium zu finanzieren. Es ist ganz normal, mit hohen Schulden ins Berufsleben zu starten. Studieren, koste es, was es wolle, so lautet die gängige Meinung. 44 Millionen Amerikaner müssen so nun ihr Uni-Darlehen abbezahlen – und fünf Millionen sind damit im Verzug.

Die Gesamtsumme entspricht beinahe dem Wert aller Waren und Dienstleistungen, die 2018 im Nachbarland Kanada produziert wurden. In fünf Jahren, zeigen Prognosen, könnten zwei Billionen Dollar erreicht werden.

Schulden in schwindelerregender Höhe, Menschen, die mit ihren Raten in Verzug geraten – all das weckt Erinnerungen an das Jahr 2008. Damals konnten viele Familien ihre Immobilienkredite nicht mehr bedienen, Banken gerieten ins Wanken, Lehman Brothers kollabierte.

Droht eine Blase?

Manche in den USA fürchten nun, dass eine neue Blase heranwächst, die Rede ist von der «College Bubble». Wiederholt sich das, was einst auf dem amerikanischen Häusermarkt geschah und zur globalen Finanzkrise wurde, bald im Bildungssystem?

Droht der US-Wirtschaft eine neue Krise, die Uni-Krise? Die Annahme ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn sie in anderem Gewand daherkommt.

Die meisten Studenten borgen sich das Geld vom Staat. Im Durchschnitt schuldet ein amerikanischer Uni-Absolvent der öffentlichen Hand heute rund 30'000 Dollar, dreimal so viel wie in den 90er-Jahren.

Ausgaben werden aufgeschoben

Und es ist die maximale Summe, die die Behörden für einen Bachelor-Kurs verleihen. Darüber hinaus muss der Hochschüler sich andere Wege der Finanzierung suchen, etwa über die Eltern. Amerikas Alumni haben so hohe Kredite wie nie zu bedienen – und das hinterlässt Spuren in der Wirtschaft.

«Die Absolventen verschieben viele Anschaffungen in die Zukunft», sagt Pamela Donnelly. Eine Untersuchung der US-Notenbank Fed bestätigt das. In Amerika kaufen junge Menschen demnach immer später Häuser.

Vor zehn Jahren besass noch fast die Hälfte von ihnen ein Eigenheim, heute ist es ungefähr ein Drittel. Liegt es an den Uni-Schulden? Sicher nicht allein, meint die Fed, aber sie seien ein «wichtiger Faktor». Wenn das stimmt, dann sind die Studienkredite nichts weniger als ein Angriff auf die Seele des Landes: auf den American Dream, in dem das eigene Haus eine zentrale Rolle spielt.

Kein Knall in Aussicht

Ökonomen schätzen, dass der US-Wirtschaft wegen der Uni-Schulden in den kommenden Jahren ein bis zwei Prozent der Wirtschaftskraft verloren gehen. Die meisten erwarten keinen grossen Knall, keinen Kollaps wie 2008 auf dem Immobilienmarkt. Stattdessen rechnen sie damit, dass die Studienkredite die Ökonomie langsam herunterziehen.

Der entscheidende Unterschied ist: Die Hauskäufer standen den Banken gegenüber in der Pflicht, die Hochschüler hingegen haben einen Vertrag mit dem Staat – und der kann eine ganze Weile mit säumigen Zahlern leben.

Steven Donovan ist heute stolz darauf, es allein geschafft zu haben. Und er betrachtet es als Lehre fürs Leben. Der Mann plant seine Finanzen nun akribisch, um nie wieder in eine solche Situation zu geraten.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «Studienkredite sind Amerikas nächste Billionen-Blase».