Reichtum lässt sich auf unendlich viele Arten diskreditieren. Es beginnt mit der charakterlichen Unzulänglichkeit: Reiche seien geizig, arrogant und prahlerisch. Weiter geht es mit der moralischen Dimension: Reiche seien verantwortlich für die Armut der anderen, sie könnten nicht teilen und seien, wenn sie nicht gerade die Hälfte des Vermögens gespendet haben, sicherlich gierig, kleinlich und litten unter den charakterlichen Verformungen, die ihnen der Weg zum Reichtum angetan hat.

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Diese moralisch-charakterlichen Diskreditierungen sind meist das Futter für einen negativen Diskurs über Reiche und Vermögende in einem Land. Strauchelt der Reiche, sind schnell Häme und Schadenfreude im Spiel. Und am Ende traut sich der Reiche nur mehr nachts, seinen Porsche aus der Garage zu fahren.

Qualitative Reichtumsforschung

Das mag in anderen Ländern durchaus zutreffen, in der Schweiz ist es aber nicht der Fall. «Gegenüber Reichen überwiegen bei uns wohl eher positive Vorurteile», sagt Ueli Mäder, emeritierter Professor der Universität Basel und mit seinen Büchern «Wie Reiche denken und lenken» und «Reichtum in der Schweiz» einer der kundigsten Soziologen in diesem Bereich.

Er führte für seine Recherchen Hunderte von Gesprächen mit sehr vermögenden Menschen, aber auch mit Normalverdienenden und Armen über ihre Wahrnehmung der Reichen. «Interessant ist für mich, wie positiv sich Arme immer wieder über Reiche äussern. Reiche scheinen den Wohlstand zu garantieren. Wenn es ihnen gut geht, geht es allen besser.»

Das habe auch mit dem etwas unterwürfigen gesellschaftlichen Diskurs über Reiche in der Schweiz zu tun. «Darauf wiesen übrigens an den Schweizer Historikertagen, die im Juni dieses Jahres an der Uni Zürich stattfanden, mehrere Beiträge hin. In der alten Eidgenossenschaft war Reichtum unabdingbar, um hohe Ämter zu erlangen.

Seit dreissig Jahren ist das bei uns erstaunlicherweise wieder ausgeprägter der Fall. Nicht nur in der Wirtschaft. Auch in der Politik.» Vermögende Politiker wie Christoph Blocher hätten einen Vertrauensbonus. Reichtum stehe für besondere professionelle und persönliche Fähigkeiten.

Mäder, der sehr viele Reiche interviewt und ihre Rezeption erforscht hat, rät aber zur Vorsicht mit Vorurteilen: «Sie beurteilen eine Person ohne näheres Hinsehen. Oder sie folgen einem Muster, das uns immer wieder Selbiges sehen lässt. Nämlich das, was wir in andere projizieren. Positiv oder negativ. Beides ist problematisch. Auch positive Vorurteile sind negativ.»

Klar ist: Die Wahrnehmung von Reichen unterscheidet sich von Land zu Land. Dazu veröffentlichte der Historiker und Autor Rainer Zitelmann kürzlich in der «NZZ» interessante Ergebnisse einer aktuellen und in dieser Form erstmals durchgeführten Studie: «Die Institute Allensbach und Ipsos Mori führten im Mai und Juni 2018 eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe in Deutschland, den Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Frankreich mit identischen Fragestellungen durch», schreibt Zitelmann.

Sozialneid in anderen Ländern

Da Sozialneid nicht mit direkten Fragen («Wie neidisch sind Sie?») gemessen werden könne, wurden den Teilnehmenden drei Aussagen vorgelegt, die ein Indikator für Sozialneid sein können: «Ich fände es gerecht, wenn die Steuern für Millionäre stark erhöht würden, auch wenn ich dadurch persönlich keinen Vorteil hätte»; «Ich wäre dafür, die Gehälter von Managern, die sehr viel verdienen, drastisch zu kürzen und das Geld an die Angestellten der Unternehmen zu verteilen, auch wenn diese dadurch vielleicht nur ein paar Euro im Monat mehr bekämen»; «Wenn ich höre, dass ein Millionär mal durch ein riskantes Geschäft viel Geld verloren hat, denke ich: Das geschieht dem recht».

Als «Nichtneider» wurden jene bezeichnet, die keine dieser drei Fragen bejaht haben. Mit «Ambivalenten» sind jene gemeint, die eine der drei Aussagen unterstützen. Als «Sozialneider» werden jene bezeichnet, die zwei oder drei Aussagen unterstützen, wobei als «harter Kern» jene bezeichnet werden, die alle drei Aussagen bejahen. «Zur Gruppe der Neider gehören in Deutschland 33 Prozent, in Frankreich 34, in den USA 20 und in Grossbritannien 18 Prozent. Da in allen Ländern die gleichen Fragen gestellt wurden, haben wir eine gute Vergleichsmöglichkeit»; schreibt Zitel in der «NZZ».

Der Sozialneid-Koeffizient

Studie. Der Sozialneid-Koeffizient gibt nach Angaben des Historikers und Autors Rainer Zitelmann das Verhältnis von Neidern zu Nichtneidern in einem Land an. Er erforschte für das Buch «Die Gesellschaft und ihre Reichen» die Einstellung gegenüber Reichen in mehreren Ländern.

Neidkulturen. Die Untersuchung zeigt, dass der Sozialneid gegen reiche Menschen in Frankreich noch stärker ausgeprägt ist als in Deutschland und sogar doppelt so stark wie in Grossbritannien. Amerikaner hegen deutlich weniger Sozialneid gegen Reiche als Deutsche und Franzosen. Eine Ausnahme sind indes junge Amerikaner, bei denen der Sozialneid sehr viel stärker ist als im Durchschnitt der amerikanischen Gesellschaft. Den Befragten wurden 15 Fragen mit Dutzenden Unterpunkten zu ihrer Einstellung zu reichen Menschen gestellt.

Für die Schweiz gibt es derartige Untersuchungen zwar nicht, dennoch zeigt sich, wie sich Länder in der Wahrnehmung ihrer Reichen unterscheiden. Qualitative Forschungen und die Erkenntnisse von Soziologen wie Mäder lassen aber eher darauf schliessen, dass die Schweiz bei der Wahrnehmung der Reichen eher Grossbritannien und nicht Deutschland ähnelt und von anderen Vorurteilen geprägt ist.

Reichenforscher Mäder hatte bei seinen Interviews mit Multimillionärinnen und -millionären in der Schweiz auch selbst mit Vorurteilen zu kämpfen: «Vor einzelnen Interviews mit Reichen dachte ich: Das wird wohl mühsam. Diese Personen denken doch vor allem ans Geld. Und dann freute ich mich, wie spannend die Gespräche wurden. Die Welt habe ich gesehen, bekam ich zu hören. Und: Die nächste Jacht macht mich nicht glücklicher. So kam dann viel Philosophisches und Interessantes zur Sprache.»

Etwa bezüglich Endlichkeit. Und Fragen, was eigentlich wichtig und sinnvoll sei. Auch überraschende Kritiken an der finanzgetriebenen Wachstumspolitik. «Es gab aber auch umgekehrte Erfahrungen. Zum Beispiel bei einer reichen Person, die ein autonomes Jugendprojekt unterstützt. Das erhöhte meine Erwartungen und positiven Vorurteile. Die Begründung für die eigene Spende lautete dann aber ernüchternd: Hauptsache, die Jungs sind gegen den Staat.»

Wirkungsmächtigste Minderheit

In seinem Buch «Wie Reiche denken und lenken» führt Mäder aus, dass Reiche sich häufig Fragen nach dem Sinn von permanenter Effizienzoptimierung stellten. Gerade weil sie alles haben und sich auch Ruhephasen gönnen können, erhält die Frage besonderes Gewicht. Mäder freute zunächst auch, wie vehement ein ehemaliger Direktor einer renommierten Bank im Gespräch eine Erbschaftssteuer forderte. «Das imponierte mir. Aber leider autorisierte er diese Aussage nach Erhalt der Abschrift nicht mehr. Das irritierte mich wieder.»

Klar ist für den Soziologen: Reiche seien die wirkungsmächtigste Minderheit in der Schweiz – Reiche könnten Bilder über sich selbst besser beeinflussen als andere Minderheiten. «Sie bieten sich aber als Projektionsfläche auch besonders an. Die einen überladen Reiche mit positiven Vorurteilen.

Sie identifizieren sich mit ihnen, um sich selbst zu erhöhen. Andere werten Reiche ab, weil sie sich selbst erniedrigt fühlen», erklärt der Soziologe. Viele würden die Reichen aber auch gar nicht so wichtig nehmen. Sie wollten einfach selbst ein gutes Leben führen und möchten keinesfalls mit den Reichen tauschen.

Stefan Mair
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