Das Wort «Studentenkredit» versteht Wesley Lim nicht sofort. Dabei lehrt er derzeit als Gastprofessor Deutsch am Colorado College in Colorado Springs. Doch im Deutschen ist ihm der Begriff noch nie untergekommen. Wie auch, kaum ein Student nimmt hierzulande einen Kredit auf. Ganz anders dagegen in den USA. Daher weiss Lim beim Wort «student loan» sofort, worum es geht.
Schliesslich hat der 32-Jährige während seiner Ausbildung selbst mehrere Zehntausend Dollar als Darlehen aufgenommen. So wie Millionen seiner Kommilitonen. Denn inzwischen ist es in den USA völlig normal, dass junge Menschen am Ende eines Studiums bis über beide Ohren verschuldet sind – und das summiert sich.
«Das wird ein Riesenproblem»
1100 Milliarden Dollar haben sich Studenten dort derzeit bei Banken geliehen. Das ist inzwischen mehr, als sämtliche Amerikaner als Kreditkartenschulden oder für Autodarlehen aufgehäuft haben. «Das wird wirklich langsam ein Riesenproblem», sagt Ellen Zentner, Ökonomin bei der Investmentbank Morgan Stanley.
Doch nicht nur unter Studenten und nicht nur in den USA ist das Schuldenmachen wieder en vogue. Überall auf der Welt sind neue gigantische Kredit- und Investitionsblasen entstanden. Vieles gleicht exakt der Lage vor der Finanzkrise. Und genau wie 2007 bröckelt an der einen oder anderen Stelle auch schon der Putz. Doch genau wie damals ziehen es die meisten Spieler im System vor, einfach stur weiterzumachen statt zu versuchen, die Fehlentwicklungen rechtzeitig zu korrigieren.
Wahrscheinlich am leichtesten erkennbar ist die Blase am Londoner Immobilienmarkt. Katrin Wagner (Name von der Red. geändert) ist davon ganz direkt betroffen. «Schimmelige Wände und einfach verglaste Fenster, die oft nicht richtig schliessen, sind für mich hier der Normalzustand», sagt die 30-jährige Studentin an der London School of Economics. Trotzdem ist das Wohnen nirgendwo so teuer wie in London.
Wagner lebt in einem neun Quadratmeter grossen Zimmer im Londoner Stadtbezirk Islington. Dafür bezahlt sie umgerechnet 900 Euro im Monat. Noch. Denn im Herbst läuft der Mietvertrag aus, der in Grossbritannien meist nur für ein Jahr geschlossen wird. Danach kann man einen neuen abschliessen, aber nur mit einer saftigen Preiserhöhung. «Preissteigerungen von drei bis fünf Prozent sind üblich», ist Wagners Erfahrung. Sie wird daher dann wohl in einen Aussenbezirk ziehen müssen.
Die britische Regierung heizt Immobilienpreise an
Und was tut die Regierung? Sie heizt das Ganze noch an. Mit dem zwölf Milliarden Pfund (14,6 Milliarden Euro) schweren Programm «Help to buy« werden neuerdings junge Briten gefördert, die eine Immobilie kaufen wollen. Sie müssen nur noch fünf Prozent des Kaufpreises als Eigenkapital beisteuern, 75 Prozent können sie auf Pump finanzieren. Die übrigen 20 Prozent übernimmt als eine Art Anteilseigner der Staat. Beim Verkauf der Immobilie wird er dafür an möglichen Gewinnen beteiligt. Aber auch an den Verlusten.
Das zeigte sofort Wirkung. Die Wirtschaft auf der Insel scheint wieder zu florieren. Doch bei genauerem Hinsehen nur aus einem einzigen Grund: Die Immobilienpreise explodieren wieder. So sind in den Londoner Stadtbezirken Southwark, Lambeth, Islington und Waltham in den vergangenen zwölf Monaten die Grundstückpreise um mehr als 20 Prozent gestiegen.
Andrew Sentance, ehemaliges Mitglied des geldpolitischen Ausschuss der Bank of England, warnt daher eindringlich. Die Preise könnten durch die Kombination aus niedrigen Zinsen und politischen Unterstützungsprogrammen ausser Kontrolle geraten.
Und auch Volkswirte sind beunruhigt. «Die Häuserpreise steigen unaufhörlich und der Immobilienmarkt droht zu überhitzen«, schreiben die Experten der HSH Nordbank in einer aktuellen Analyse. «Das erinnert sehr an die Ursachen der Finanzkrise von 2008«.
Häuserpreise in China seit 2007 verdoppelt
Ganz ähnlich ist die Lage in China. Der einzige Unterschied: Dort wird seit Jahren über die Immobilienblase geredet, und auch seit Jahren wird deren Platzen vorhergesagt. Doch passiert ist bislang wenig. Deshalb schenkt der Blase dort inzwischen auch kaum noch jemand Beachtung – doch genau das ist hier das Problem.
«Ich finde es erstaunlich, dass das China-Risiko von den meisten Ökonomen inzwischen meist nur noch am Rande erwähnt wird«, sagt Jens-Oliver Niklasch, Volkswirt bei der Landesbank Baden-Württemberg. Denn die Immobilienpreise in China haben sich seit 2007 mehr als verdoppelt, in vielen Städten sind sie sogar noch stärker gestiegen.
Peking ist inzwischen sogar die teuerste Stadt der Welt, wenn man das Verhältnis von Einkommen zu Immobilienpreisen betrachtet. Knapp 23 Jahresgehälter muss ein Chinese dort für den Kauf einer Wohnung aufwenden, sogar drei Mal mehr als ein Londoner. Zudem aber droht dort nicht nur der Immobilienboom ein unrühmliches Ende zu nehmen. Gleichzeitig dräut am Horizont der Zusammenbruch eines gigantischen Schattenbanksystems. Denn in den vergangenen Jahren haben die Banken eine Parallelwelt aufgebaut.
Sie haben Tochtergesellschaften gegründet, die ausserhalb der eigenen Bilanz agieren. Diese sammeln Geld bei Anlegern ein mit dem Versprechen besonders hoher Zinsen und vergeben damit dann wiederum Kredite. Die Summen, um die es hier geht, betragen inzwischen rund ein Drittel der Wirtschaftsleistung.
Kreditverschuldung weltweit um ein Drittel gestiegen
So könnte man die Reise um die Welt fortsetzen, von der Immobilienblase in Dänemark über die Rohstoffblase in Australien bis zur Staatsschuldenblase in Japan. Allein dort ist der Schuldenberg inzwischen fast drei Mal so hoch wie die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes. Weltweit, so schätzt die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), ist die kreditmarktfinanzierte Verschuldung seit 2007 um ein Drittel gestiegen, auf rund 100 Billionen Dollar.
Solche Unsummen kann sich kaum jemand vorstellen. Würde man jedoch 1-Dollar-Scheine nebeneinander legen, so müsste man ungefähr die Strecke zwischen der Sonne und der jetzigen Position der Raumsonde Voyager damit zupflastern, um auf den Betrag zu kommen. Voyager ist vor 36 Jahren gestartet und befindet sich derzeit rund 18,5 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt.
Und das deckt nur die kreditmarktfinanzierten Schulden ab. Hinzu kommen beispielsweise noch nicht verbriefte Schulden, Garantieleistungen, Bürgschaften, Zahlungsverpflichtungen für künftige Pensionen und vieles mehr. Um dies darzustellen, muss Voyager noch lange fliegen.
Doch es ist nicht nur die Summe der Schulden, die für Nervosität sorgen müsste. Ebenso erstaunlich ist, dass Investoren und Banken inzwischen wieder jede Vorsicht aufgeben. Das zeigt der Boom der vergangenen Jahre bei Internetaktien, die zu exorbitanten Preisen gehandelt werden, nur weil man sich irgendwann in ferner Zukunft das ganz grosse Geschäft erhofft. Der anstehende Börsengang des chinesischen Amazon-Pendants Alibaba ist gerade die nächste grosse Story, die alle elektrisiert.
Banken wiederum verteilen neuerdings wieder in grossem Stil Kredite an Hedgefonds, damit diese mit dem Geld sogenannte Collateralized Loan Obligations (CLOs) kaufen können. Damit werden Unternehmenskredite bezeichnet, die zusammengepackt und dann als Wertpapier verkauft werden. Diese Kredite liegen bislang bei den Banken und belasten die Bilanz. Werden sie als CLO verkauft, sind sie aus den Augen.
Daher bieten Banken, Händlern zufolge, oft acht Dollar Kredit für je zwei Dollar, die in die Papiere investiert werden, andere sprechen sogar von neun Dollar Kredit pro ein Dollar Investment. Die Risiken aus den Unternehmenskrediten sind damit aber natürlich nicht verschwunden. Sie sind nur irgendwo im Finanzsystem verstreut, und keiner weiss genau, wo.
Zustand wie vor der Finanzkrise
Besorgnis erregt auch die Entwicklung bei anderen gefährlichen Finanzprodukten. Sogenannte «Ramschanleihen», also Anleihen von Firmen mit schlechter Bonität, erleben derzeit einen wahren Ansturm. Schon 2013 betrug ihr Volumen 378 Milliarden Dollar, mehr als doppelt so viel wie vor der Finanzkrise.
Ähnlich sieht es bei sogenannten «leveraged loans» aus. Dabei handelt es sich um zusätzliche Kredite an Firmen, die bereits hoch verschuldet sind. Diese Darlehen werden ebenfalls gebündelt und als Pakete verkauft. «Wertpapiere im Wert von 455 Milliarden Dollar wurden 2013 emittiert», schreibt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem soeben veröffentlichten Bericht zur Finanzmarktstabilität dazu, «weit mehr als beim einstigen Hoch von 389 Milliarden Dollar 2007.»
Einige Zeilen weiter warnt der IWF vor weiteren Kreditprodukten, die sich durch besonders lasche Bedingungen auszeichnen. Auch sie seien «im Kommen, so wie es vor der Finanzkrise war.»
Absturz der Twitter-Aktie als Warnzeichen
Die Ähnlichkeiten sind eindeutig. Und: Es tauchen auch schon wieder erste Risse auf. Beispielsweise in China, wo die Immobilieninvestitionen in mehreren Provinzen im ersten Quartal zurückgegangen sind, in zwei Provinzen sogar um mehr als ein Viertel.
Beispielsweise in den USA, wo inzwischen 11,5 Prozent der Studentenkredite nicht mehr bedient werden und damit praktisch ausgefallen sind. Beispielsweise im Technologiesektor, wo die Twitter-Aktie in der vergangenen Woche drastisch abstürzte, nachdem die Haltefrist für Altaktionäre ausgelaufen war. Diese wollten offenbar nur noch raus aus den Aktien.
Doch warum sieht niemand diese Anzeichen? Warum nimmt wenige Jahre nach der grössten Finanzkrise seit 1929 niemand die Warnsignale wahr, obwohl vieles der Lage von 2007 gleicht?
«Wir werden weiter auf eine perfekt Welt spekulieren»
Entlarvend ist ein Papier, das Strategen der Société Générale dieser Tage an ihre Kunden geschickt haben. «Der IWF und andere Institutionen schelten die Investoren dafür, dass diese von einer perfekten Welt ausgehen», schreiben sie darin. Sie listen dann all die Gefahren auf, die lauern, um zu erklären, dass sie daran nicht glauben.
Aber mehr noch. Sie fragen: «Selbst wenn wir mit Sicherheit von einer drohenden Überraschung wüssten, würden wir als Investoren dann heute anders agieren?» Sie geben eine klare Antwort: «Nein.» Denn, so die etwas zynische Begründung, wer zu früh aussteige, der sei als Investor tot oder werde zumindest gefeuert. «Daher werden wir weiter auf eine perfekte Welt spekulieren, aber mit einem nervösen Auge auf den Ausgang blicken, in der Hoffnung unter den Ersten zu sein, die den Absprung schaffen, wenn es Zeit dafür ist.»
Und für all jene, die nicht rechtzeitig den Absprung schaffen, steht ja immer noch der Staat bereit, um sie aufzufangen, wie die letzte Finanzkrise alle gelehrt hat. Fragt sich nur, ob die Staaten das nächste Mal noch die Kraft dazu haben und ob die Bürger das noch einmal mitmachen.
Dieser Artikel ist zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt» erschienen.