Cool bleiben oder auf Nummer sicher gehen: Mit dieser Frage sehen sich Börsenhändler im Vorfeld der Abstimmung über Grossbritanniens Verbleib in der EU konfrontiert. Die Nervosität an den Märkten hat zuletzt stark zugenommen.

Laut Umfragen sind die Austrittswilligen im Aufwind, ihr Vorsprung auf die Gegner ist am Montag auf 7 Prozent angestiegen. «BeLEAVE in Britain» textete Englands wichtigste Boulevardzeitung in grossen Lettern am Dienstag, um ihre Leser auf die grosse politische Entscheidung einzuschwören: «The Sun bittet jedermann dringend, für den Austritt zu stimmen.»

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Investoren wappnen sich für ein Ja

Ein Brexit mag der Wunsch vieler britischer Stimmbürger sein; für Investoren ist er der Worst Case. Bereits wappnen sie sich mit Verkäufen von europäischen, britischen und sogar asiatischen Aktien für ein mögliches Ja am 23. Juni. Im Gegenzug werden sichere Papiere nachgefragt wie noch nie. Erstmals in der Geschichte fielen die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit am Dienstag unter null.

Von der Panik ist auch die Schweiz betroffen. Innerhalb einer Woche purzelte der Wechselkurs zum Euro von knapp 1,11 auf noch 1,08 Franken. Wer der Eidgenossenschaft Geld leihen will, zahlt über zehn Jahre einen Negativzins von 0,48 Prozent – auch dies ein rekordtiefer Wert.

Die Fluchtwerte versprechen Sicherheit, wenn es am Tag X an der Börse rundgeht. Wenn Verluste auf globalen Aktien im Umfang von 5 bis 10 Prozent drohen und auch das britische Pfund heftigen Schwankungen ausgesetzt sein dürfte – von plus 5 Prozent im Fall eines Neins bis zu minus 11 Prozent im Fall eines Ja, wie Berechnungen der Bank BSI nahelegen.

Handelsplattformen sind vorbereitet

Die Furcht vor Verwerfungen ist so gross, dass Handelsplattformen in der Schweiz bereits im Vorfeld Massnahmen getroffen haben. So hat Swissquote den maximalen Hebel für Devisenspekulationen vom Faktor 100 auf den Faktor 20 herabgesetzt.

Die Saxo Bank ging von 50 auf 15. Die Institute wissen, was ihnen blühen könnte: Als es das letzte Mal am Währungsmarkt krachte, waren sie auf unbeglichenen Rechnungen in Millionenhöhe sitzen geblieben. Kunden hatten damals grosse Verluste eingefahren, weil der Währungsmarkt für kurze Zeit komplett illiquid geworden war.

Nichts ist ausgeschlossen

Besagte Ereignisse datieren vom Januar 2015. Sie wurden von der Schweizerischen Nationalbank ausgelöst, als diese die Untergrenze zum Euro aufhob.

Auch am Abstimmungstag zum Brexit könne es zu kurzzeitigen Engpässen und damit zu einer grösseren Lücke zwischen Kauf- und Verkaufspreisen kommen, schätzt der Handels-Chef der Saxo Bank, Claus Nielsen: «Ein Spread von 3 bis 6 Prozent ist nicht ausgeschlossen.» Normal im Handel sind Bandbreiten von Zehntel- bis Hundertstelprozent.

Zu Fremdwährungskäufen gezwungen

Die SNB wird auch am 23. Juni im Fokus stehen. Bei einem Ja zum Brexit drohen hohe Zuflüsse in den Franken. Die Nationalbank, die bereits in den letzten Monaten regelmässig am Devisenmarkt intervenierte, dürfte zu weiteren Fremdwährungskäufen gezwungen sein, will sie eine zusätzliche Aufwertung verhindern.

Die Bereitschaft dafür schätzt die Credit Suisse als hoch ein. Die SNB werde ihre Bilanz, die bereits über 500 Milliarden schwer ist, «ohne zu zögern» um weitere 20 bis 40 Milliarden Franken aufstocken.

Nächstes Blatt noch unbeschrieben

Was danach passiert, steht in den Sternen. Ein rasches Abflachen der Panik sei ebenso denkbar wie eine lange Phase erheblicher Safe-Haven-Ströme in die Schweiz, meinen die Ökonomen der CS. Die SNB könnte sich jedenfalls veranlasst sehen, die Zuflüsse mit einer zusätzlichen Zinssenkung von –0,75 auf –1,25 Prozent zu bekämpfen.

SNB-Vizepräsident Fritz Zurbrügg hatte einen solchen Schritt in einem Interview kürzlich als «möglich» bezeichnet. Die unpopuläre Massnahme stellt wohl die Ultima Ratio in einem Szenario dar, in dem der Brexit bloss den Auftakt bildet zu einer kompletten Desintegration der EU – ein Prozess, der in Ländern wie Italien beginnen könnte, wo laut einer Umfrage 48 Prozent der Leute aus der EU wollen.

Das Déjà-vu bei der Nationalbank

Ein solches Bild weckt Erinnerungen an den letzten Sommer. Damals stand nicht der Brexit, sondern der Grexit im Raum – ein Rauswurf der Griechen aus der Euro-Zone.

Die jetzige Situation sei insofern etwas entspannter, als «ein britischer EU-Austritt weniger verheerende Auswirkungen auf den Euro hätte als ein Grexit, weil Grossbritannien eine eigene Währung hat», meint Constantin Bolz, Währungsexperte der UBS. 2015 verteidigte die SNB den Franken mit Interventionen, tastete die Zinsen aber nicht an: Das bankrotte Griechenland war in letzter Minute gerettet worden.

In der Zwischenzeit ist der Euro von 1,05 auf rund 1,10 Franken erstarkt. Die Euro-Zone profitiert von einem zaghaften Aufschwung, der übers laufende Jahr hinaus anhalten soll. Sparschrauben wurden gelockert, selbst die viel gescholtene französische Wirtschaft schafft ihre Jobs. Das stetige Wachtum half auch der Schweiz, den Frankenschock zu bewältigen: Wären zuletzt weniger Aufträge aus Europa da gewesen, hätten Exportbetriebe noch mehr Personal entlassen.

Drohender institutioneller Stillstand

Ein Brexit würde für Unternehmen vieles infrage stellen. Das gilt für Europa und das dortige Investitionsklima, aber auch für die Schweiz, die auf eine baldige Klärung ihres eigenen Verhältnisses zur EU hofft. Es droht eine Phase des Stillstands – Beobachter sprechen von fünf bis sieben Jahren.

Allein die Verhandlung der Ausstiegsmodalitäten im Rahmen des Artikels 50 der EU-Verfassung nehmen zwei Jahre Zeit in Anspruch. Praktisch ausgeschlossen ist, dass die Schweiz in dieser Zeit gemeinsame Verhandlungen mit Grossbritannien führen kann. Auch, weil in England selbst völlig unklar ist, welches Arrangement mit Europa angestrebt würde.

Konservative EU-Gegner wie Ukip-Chef Nigel Farage wollen höchstens einen Freihandelsvertrag – der liberale Flügel will ein massgeschneidertes Vertragswerk, gleich gut oder «besser» als es die Schweiz oder Norwegen mit der EU pflegen.

«In is in. Out is out»

Dass Europa den Briten künftig alle Vorteile (den Zugang zum Binnenmarkt) gewährt, ohne Zugeständnisse einzufordern (bei der Personenfreizügigkeit), hält der Direktor des Thinktanks Open Europe Berlin, Michael Wohlgemuth, für wenig wahrscheinlich. «In is in. Out is out», liess auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble die Briten wissen.

Vom institutionellen Stillstand bis hin zur politischen Explosion ist in Europa somit alles möglich – selbst bei einem knappen Nein drohen Kollateralschäden. Es ist dieses schiere Spektrum an Risiken, das am Tag X an der Börse zu jenen Ausschlägen führen könnte, die Finanzmarktteilnehmer heute befürchten. Nichts davon ist aus Schweizer Sicht besonders erbaulich.