Für ihn ist es ein Ausbruch aus der Zwangsgesellschaft. Und zwar jedes Mal, wenn Ronald Wessels sich auf seinen Café Racer, eine Honda XBR, Baujahr 1985, setzt und den knatternden Einzylinder mit seinen 500 Kubikzentimetern aufdreht, wie einst die Ton-up Boys im London der fünfziger und sechziger Jahre. Damals und dort war das Zentrum der Subkultur der Café Racer: Söhne und Töchter aus Arbeiterhaushalten, die in der Nachkriegszeit zusahen, wie sich ihre Eltern in den Fabriken abrackerten, und denen, wenn sie nicht ausbrachen, das gleiche Schicksal drohte.

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Das legendäre Ace Cafe

Sie brachen aus, zumindest für gute drei Minuten am Samstagabend. So lange dauerte ein Rennen mit ihren eigenhändig zusammengeschraubten Motorrädern. Treffpunkt, Start und Ziel war das Ace Cafe, eine Raststätte an einer Umgehungsstrasse im Norden Londons. Die Record-Rennen waren schnell und kurz, man musste wieder im Ziel sein, solange die Rock’n’Roll-Single in der Jukebox lief.

Es waren gefährliche Sprints, eine Achtelmeile über öffentliche Strassen, lieber sterben als verlieren. Es starben einige. Um zu gewinnen, wurde so ziemlich alles Überflüssige an den Mopeds entfernt. Übrig blieb ein Stummellenker und ein schmaler Höckersitz auf dem schnörkellosen, gerne blank polierten Tank der tief hinter einem grossen Einzelscheinwerfer geduckten und bis auf das Maximum frisierten Maschine – das charakterisiert einen Café Racer, damals wie heute.

Ein Café Racer ist Motorrad pur, unabhängig von der Marke, reduziert auf das absolut Notwendigste. «Viele Motorradfahrer wollen das ursprüngliche Fahrgefühl wieder spüren und sie wollen auch gerne Maschinen fahren, an denen sie noch selbst rumschrauben können», sagt Matthias Göbel, passionierter Fahrer einer Triumph Bonneville, Baujahr 2008, und alljährlicher Besucher am Glemseck. Das Glemseck in der Nähe von Stuttgart ist das, was Wacken für Heavy-Metal-Fans ist: Mekka.

Mythos Glemseck

2005 als kleines Treffen einiger Café Racer ins Leben gerufen, ist es heute mit rund 40'000 Besuchern der grösste marken- und typenübergreifende Motorrad-Open-Air-Event Deutschlands und laut «Focus» «Europas bester Treffpunkt für die Freunde der Café-Racer-Kultur». Und natürlich finden in Glemseck auch die legendären Achtelmeile-Rennen wieder statt – für viele Besucherder Höhepunkt in der Tage an der alten Solitude-Rennstrecke, zu denen nicht nur, aber überwiegend Café Racer aus allen Himmelsrichtungen angeknattert kommen.

Die stetig wachsende Besucher- und Ausstellerzahl in Glemseck ist der beste Beweis für den Boom des Segments. Egal ob original fünfziger oder sechziger Jahre oder ein neues Retrobike aus dem aktuellen Jahrzehnt: Schnörkellose Maschinen sind wieder gefragt, bei Jung und Alt. Moderne Retrobikes gibt es heute in jeder Preisklasse, von der handgefertigten Norton bis zur in grosser Serie gebauten Triumph Thruxton – fast alle Hersteller sind in den letzten Jahren mit neuen Retrobikes auf den Trend aufgesprungen.

Lustobjekt der Leidenschaft

Eine Wertsteigerung wird sich vor allem bei den in kleiner Stückzahl auf den Markt gebrachten Modellen einstellen. Normalerweise bleibt der Wert eines klassischen Motorrads stabil, je nach Modell kann man sich vielleicht sogar über eine Wertsteigerung freuen. Und Originale aus den fünfziger und sechziger Jahren sind heute gefragte Sammlerobjekte, die nicht selten für hohe fünfstellige Beträge den Besitzer wechseln – wenn überhaupt, denn sie sind rar.

Ein wahrer Fan der Café Racer baut per se gerne alles um und schraubt zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört, und bohrt auf, was eigentlich nicht aufgebohrt sein darf. Motor, Zündkerzen, Anlasser, Vergaser, Benzinschlauch, Kupplungszug. Alles da, alles mit dem Schraubenschlüssel erreichbar, alles verständlich – im Gegensatz zu einem Motorrad Baujahr 2017.

Liebe zum Detail

Und es darf auch Öl verlieren. Den Sommer über wird der Töff kein einziges Mal geputzt. Im Herbst kommt es dreckig und tropfend ins Wohnzimmer. Über den Winter zerlegt Ronald Wessels seine Honda XBR komplett in alle Einzelteile und reinigt alle Ritzen. Wird es langsam Frühjahr, steht die alte Dame wieder blank poliert und blitzend auf den weissen Fliesen im Wohnzimmer, bereit für die erste spontane Ausfahrt und neue Reisen mit Gleichgesinnten.

Seine private Garage in der Ostschweiz ist zu einem Treffpunkt einer kleinen Schweizer Szene geworden – das sei irgendwie einfach so gekommen. In der Gemeinde der Café Racer passiert am liebsten alles irgendwie einfach so. Einfach mal losfahren, dahin, wo gerade die Sonne scheint. Einfach in den Lederklamotten im Gras schlafen, da, wo es schön ist. Einfach irgendwo ein paar Würstchen grillieren, wenn man Hunger hat.

Leiden mit Stil

Ronald Wessels hat früher mal eine eigene IT-Firma gehabt, betreibt die Seite www.caferacers.ch, aber was genau er heute so macht, ist unwichtig. Beruf und Arbeit sind keine Themen, über die hier gesprochen werden. Letztes Jahr ist er Richtung Osten gefahren, Ungarn, Rumänien, Ukraine, Polen – 5000 Kilometer in drei Wochen durch eine andere Welt, die noch in einer anderen Zeit zu verharren scheint.

Und das auf diesem harten Höckersitz seiner XBR? «Nach einer halben Stunde fängt der Hintern an, weh zu tun. Dann darf man sich eine weitere halbe Stunde nicht bewegen. Danach ist es ausgesessen», verrät der Mittfünfziger. Ein bequemer Sattel käme niemals infrage, das wäre mehr als ein Stilbruch, das wäre Verrat am Erbe des Ace Cafes, der einzigen Raststätte der Welt, die einer Motorradgattung ihren Namen gegeben hat, bis heute.

Ace Revival: Kult und Kommerz

Auch wenn das ursprüngliche Ace Cafe in London zunächst Ende 1969 die Schwingtüren schliessen musste – die Szene lebte unsichtbar und ohne zentralen Treffpunkt weiter. Bis der Brite Mark Wilsmore nach einigen Reunion-Treffen das Ace Cafe 2001 am alten Standort wieder öffnete und tausende Café Racer aus der Versenkung auftauchten. Wilsmore hat der Szene wieder ein Zuhause gegeben – ohne sich dem heutigen kommerziellen Zeitgeist zu verschliessen.

Das neue Ace Cafe wächst derzeit zu einer globalen Erfolgsgeschichte – von Peking über Barcelona und Orlando bis Luzern, wo der Schweizer Dany Kunz das erste Ace Cafe auf deutschsprachigem Boden eröffnet hat.

Ace Cafe in der Innerschweiz

Die Idee kam dem Marketingfachmann bei einem Besuch im Londoner Ace. «Da sassen Jung und Alt, Triumph- und Ducati-Fahrer, langhaarige Autofreaks und Rock’n’Roller mit Haartolle zusammen an grossen Tischen und alle haben kreuz und quer gequatscht», erinnert sich Dany. Diesen Groove wollte er unbedingt in die Schweiz holen, denn «so was gab es bei uns noch nirgendwo».

Er bat Mark Wilsmore um die Lizenz zur Verwendung des Namens Ace Cafe und nach Jahren der Vorbereitung, der Suche nach einem geeigneten Standort und vielen geputzten Klinken bei Banken und anderen Financiers rollten endlich die ersten Gäste auf den Parkplatz des Ace Cafe Luzern und haben Danys Traum wahr gemacht.

Treffpunkt für Benzingespräche

Vom Arbeiter aus der Firma nebenan bis zum Töffli-Bub aus dem Nachbardorf über den Banker und Schönwetterfahrer mit seiner Harley bis zum Rennfahrernachwuchs in grellem Lederkombi und dem ergrauten Liebhaber alter amerikanischer Autos findet sich so ziemlich alles unter seinen Gästen. Nur etwas haben sie alle gemeinsam: Sie sind ein wenig gaskrank, haben manchmal ein bisschen Motorweh und verstricken sich gerne in endlose Benzingespräche.