Derzeit müssten in der Schweiz etwa 6300 Jobs für Pflegefachleute neu besetzt werden, das ist auch ein Dauerzustand. Seit Jahren können die Spitäler oder Heime Tausende Stellen nicht füllen, Woche für Woche behelfen sie sich mit Notlösungen, zumal sie auch bei anderen Pflegeberufen genauso händeringend nach Verstärkung suchen, etwa nach Fachangestellten Gesundheit. Wer in diesem Bereich arbeitet, wird also mittlerweile mit Gold aufgewogen. Sollte man meinen.

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Aber nichts da. Die Honorierung in der Pflege stagniert seit Jahren. Wie das Lohnbuch des Kantons Zürich zeigt, erhält ein diplomierter Pflegeprofi im Schnitt einen Bruttolohn von 5539 Franken; vor acht Jahren, 2010, betrug der Wert 5468 Franken und in anderen Kantonen entwickelte sich der Zahlenkranz ähnlich.

Es lassen sich viele Berufe anführen, wo es so läuft. Da herrscht Dürre bei Spezialisten, da mangelt es an Kaderleuten – und da stocken die Gehälter. Auf den Arbeitsmärkten wirkt die alte Logik von Angebot und Nachfrage heute fremd, ein Trend, der in vielen Staaten spürbar wird. Er dient nun sogar als Erklärung dafür, dass die demokratischen Systeme wackeln. Wie kommt das? — Vier Thesen zur Erklärung:

1) Verteilt wird nur, was es gibt: Die ökonomische Sicht

Einer, der es wissen muss, ist Daniel Lampart. Der Chefökonom des Gewerkschaftsbundes SGB sieht zwei Ebenen, die hier wirken: Makroökonomie und Macht. Erklärt man die Sache nach Lehrbuch, so dient die eher lahme Entwicklung der Produktivität als Hauptbremse. Die Schweiz lässt sich zwar gern als Wettbewerbs-Champion feiern, aber ihre Arbeitsproduktivität entwickelte sich in den letzten Jahren eher dürftig.

Seit Mitte der 1990er Jahre stieg die Wertschöpfung pro Arbeitsstunde um gut 1 Prozent pro Jahr, geringer als in vielen anderen Staaten. Und für die Arbeitgeberseite ist klar: Die Löhne können und sollen nicht steiler steigen als die Produktivität. Sonst schmelzen die Gewinne dahin. Es gibt diverse Deutungen, weshalb die Schweiz nicht so recht produktiver werden will, etwa tiefe Investitionen oder eine alternde Bevölkerung. Obendrein drückt der starke Franken, was den Exportfirmen das Leben versauert, womit sie – je nach Sichtweise – einen guten Grund oder ein plattes Argument haben, um bei den Löhnen auf der Bremse zu bleiben.
 

2) Es ist eine Machtfrage: Am Ende wird immer verhandelt

Das führt zum zweiten Aspekt: Macht. Löhne sind immer auch Verhandlungssache. Entscheidend ist, wer am Ende den Tarif durchgibt. Da mehren sich weltweit die Hinweise, wonach sich Kräfte verlagern – sozialstaatliche Netze werden dünner, Konzerne dafür mächtiger, sodass am Ende Doppeljobber und Dauerpraktikanten ihre Tage im Lagerhaus von Amazon fristen. Das ist ein Klischeebild, aber es zeigt die Mechanik, wegen der die Lohnquote vielerorts sinkt, also der Anteil der Gehälter am Reichtum eines Landes: Dank technischem Fortschritt und globalen Netzwerkeffekten lässt sich die Ernte des eingesetzten Kapitals erhöhen – bei gleich viel Personal.

Nur: Mit der helvetischen Wirklichkeit hat das wenig zu tun. In der Schweiz blieb die Lohnquote stabil und die Wirtschaft wird eher von KMU geprägt als von Amazons. Doch auch hier schlagen sich neue arbeitspolitische Verhältnisse in den Portemonnaies nieder. In den Lohnrunden drücken die Firmen seit Jahren darauf, die Gehälter individuell zu erhöhen – also möglichst nicht generell. Was es zusätzlich zu holen gab, ging also an einzelne gefragte Mitarbeiter, es war eine Auszeichnung, und die anderen hatten dank der Negativteuerung ja auch mehr vom Geld.

Kurz: Es fehlte der Druck. Damit kam der Mechanismus aus der Mode, in zähen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zuerst mal den Teuerungsausgleich durchzupauken. «Man ist bei den Lohnverhandlungen aus dem Training», meint Gewerkschaftsökonom Lampart, und das könnte sich rächen, sobald die Inflation zurückkehrt. «Generelle Lohnerhöhungen und Teuerungsausgleich müssen wieder selbstverständlich werden.»

3) Die Schweiz ist keine Insel: Der Einfluss der Nachbarn

Aber wie? Bargaining Power braucht auch Nachdruck. Doch das Schweizer Lohnniveau ist auf allen Stufen hoch oder extrem hoch. Nur schon im Vergleich zu Konstanz oder Como klafft ein Gefälle, bei Kaderleuten wie Ungelernten. «Der Abstand zum umliegenden Europa ist noch zu gross, als dass es hier weiter aufwärts gehen könnte», sagt Jörg Scholten. Er ist Director Compensation & Performance Management bei Kienbaum und führt als Beispiel die Baubranche an.

Deren Auftragsbücher sind voll. Also fahnden die Firmen verzweifelt nach Projektleitern (etwa 1700 offene Stellen) oder Elektromonteuren (über 3500 Vakanzen). Doch ihren Wettbewerb um die Profis können sie nicht mehr via Löhne führen: Dazu sind die Margen zu eng – und zu gross ist die Gefahr, dass am Ende mehr Aufträge an eine Firma aus dem EU-Raum gehen. «Viele Unternehmen – auch in anderen Branchen – würden gern einfach 2 oder 3 Prozent mehr drauflegen, um das Thema Lohn als Wechselmotivation auszuschalten», weiss Jörg Scholten. «Aber sie können es nicht.»

4) Geld ist auch nicht alles: Lohn auf neue Arten

Was bleibt? Erstens die Möglichkeit, qualifizierte Spezialisten aus dem Ausland anzustellen, zu guten Bedingungen für sie, zu eher moderaten Bedingungen für Schweizer Verhältnisse. Zweitens der Ausweg, Know-how wenigstens stückweise einzubinden, mit Teilzeit- und Temporärpersonal. Der Pflegebereich bietet das Musterbeispiel dafür, aber zeigt auch, dass damit wieder die Bargaining Power sinkt. Und der Trend ist klar: Vor einem Vierteljahrhundert arbeitete nur jeder zehnte Beschäftigte in einem Teilzeitpensum, heute jeder fünfte und alle wissen inzwischen, was Work-Life-Balance ist.

Der Zürcher Vergütungsexperte Urs Klingler vermutet, dass dieser Trend den Rahmen verändert hat, in dem wir übers Gehalt reden und kämpfen. «Viele qualifizierte Leute streben heute ein gewisses Lohnniveau an, aber danach geht es ihnen vor allem darum, die Arbeit mit dem Privatleben abzustimmen», sagt Urs Klingler. «Auch das trägt dazu bei, dass die Gehälter nicht stärker steigen.»

Flexibilität ist auch eine Form des Fixums.