Wir gestehen: Auch hier konnten Sie es schon lesen. «2020 werden die Bedingungen reif sein für eine Finanzkrise, gefolgt von einer globalen Rezession», stand vor einigen Wochen in der «Handelszeitung».

Geschrieben hatte dies Nouriel Roubini und der bekannte Ökonom aus New York brachte auch ganz plausible Argumente vor: In zwei Jahren laufen die Impulse des amerikanischen Steuerpakets aus. Die Inflation schleicht hoch, sodass die Notenbanker die Zinsen erhöhen müssen. Und obendrein dürfte der Handelsstreit von Donald Trump noch heisser werden, mit absehbaren Folgen: weniger Wachstum, höhere Preise. Kurz: 2019 sollten wir noch halbwegs unbeschadet über die Runden kommen, dann wird es bitter.

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Diese Überblicksdarstellung hat viele hochkarätige Anhänger, von Hedgefonds-Krösus Ray Dalio bis Ex-Fed-Chef Ben Bernanke. Der Notenbanker verglich die Weltwirtschaft jüngst an einer Podiumsdiskussion mit jener Trickfilmfigur, die erst dann abstürzt, wenn sie merkt, dass unten dran nur noch Luft ist: «2020 fällt Wile E. Coyote von der Klippe.»

Analyseteams von Moody’s, Société Générale, JP Morgan witterten ebenfalls schon einen Wendepunkt im übernächsten Jahr. Und bei einer Umfrage unter US-Ökonomen, durchgeführt im September, äusserten zwei Drittel die Erwartung, dass spätestens 2021 eine Rezession eintreten werde. Auch da bezeichneten die Befragten einen Handelskrieg als Hauptrisiko. Häufig genannt wurden höhere Zinsen sowie «a substantial stock market decline» – also ein Einbruch an den Börsen.

Wacklige Prognosen

All das klingt logisch und plausibel. Nur wäre es dann ebenso logisch, wenn sich die Regierungen, Notenbanken, Unternehmer und Konsumenten konzentriert auf den Rückschlag 2020 vorbereiten würden – Zeit genug bliebe ja noch –, um dann, zweitens, das Schlimmste abzufedern oder entspannt zurückzulehnen. Aber tun sie das? Kaum.

Die akute Lage zeigt eben auch, wie wacklig Wachstumsprognosen über zwei Jahre hinaus sind. Eine Studie des Währungsfonds IWF legte dazu vor einigen Jahren die Daten vor, das Verhältnis lag bei sagenhaften 60 zu 2. Das heisst: Die beobachteten Konjunkturexperten hatten ein Jahr vor Ausbruch nur zwei von sechzig Rezessionen in Industrie- und Schwellenländern korrekt erkannt. Selbst im April des Startjahres einer Krise blieben die meisten Umschwünge noch unentdeckt.

WASHINGTON, DC - SEPTEMBER 12:  Former Federal Reserve Board Chairman Ben Bernanke answers questions at a conference with former U.S. Treasury Secretary Timothy Geithner and former U.S. Treasury Secretary Hank Paulson at the Brookings Institution September 12, 2018 in Washington, DC. The three participated in a conference on "Responding to the Global Financial Crisis: What We Did and Why We Did It."  (Photo by Win McNamee/Getty Images)

Ex-Fed-Chef Ben Bernanke: Er hat eine klare Meinung, wie sich die Wirtschaft entwickeln wird.

Quelle: 2018 Getty Images

Weshalb also soll nun der Rückschlag so exakt einfahren? Hinter der Zahl 2020 steht auch ein gewisses Ausschlussverfahren: Im nächsten Jahr wirkt der Himmel noch recht sonnig – also müssen die Wolken ja danach aufziehen. Irgendwann muss der Bruch kommen. Schliesslich durchleben wir einen Aufschwung, der fast schon bedenklich lange dauert.

In der Schweiz endete die letzte Rezession im Sommer 2009, also vor bald einem Jahrzehnt. In den USA fliegen im Februar definitiv die Champagnerkorken: Dann wird man den längsten Boom seit 1850 feiern. Soll das denn ewig so weitergehen?

Muster des Zufalls

Aufstieg und Fall, boom & bust, fette oder magere Jahre: Dass sich die grosse Ökonomie im Grunde verhält wie das nackte Leben, zählt zu den prägendsten Vorstellungen der Wirtschaftswelt. Nur: Der grosse Vergleich hinkt.

Der Rhythmus von Auf und Ab folgt keinem biologischen Gesetz. Eher herrscht das Muster des Zufalls. Einzelne Boomphasen waren nach einem guten Jahr wieder vorbei, andere hielten ein Jahrzehnt. In gewissen Staaten waren die Aufschwünge eher kurz, die Rückschläge dafür häufig (zum Beispiel in Griechenland). In anderen war es umgekehrt: Wussten Sie, dass Frankreich seit 1960 nur drei Rezessionen durchleben musste?

Was Rezessionen auslöst

Was sagt die Geschichte über unsere Zukunft aus? Antworten dazu suchte das Londoner Forschungsinstitut Capital Economics: Die Forscher untersuchten alle Rezessionen in den grossen Industriestaaten (G7) seit 1960 – es waren insgesamt 45 Rückschläge von Deutschland bis Japan. Welche Auslöser liessen sich da festmachen? Welche Rückschläge zeichneten sich im Vorfeld ab? Dies die Kernfragen.

Ein Ergebnis war rasch klar: Bei den meisten Wirtschaftskrisen spielten mehrere «Trigger» hinein. Allerdings gab es Faktoren, die überaus häufig eine Rolle spielten, insbesondere die Leitzinserhöhungen: Bei zwei Dritteln der Rezessionen waren die Zinssätze in den drei Jahren vor Ausbruch um 2 Prozent oder mehr gestiegen. Als bedeutendste Triebfedern traten insgesamt hervor:

  • Leitzinserhöhungen: Sie liefen in 29 der 45 beobachteten Fälle voraus – oder konkreter: Es kam jeweils in den drei Jahren vor Ausbruch der Rezession zu einer Erhöhung um 2 oder mehr Prozentpunkte. Und heute? In den USA wurde der kritische Wert von 2 Prozent im September erreicht. In der Schweiz – wie auch in der Euro-Zone – sind wir noch weit entfernt davon.
     
  • Ölpreisschocks: Bei 13 Fällen kam es im Jahr vor einer Rezession zu einem drastischen und unerwarteten Anstieg der Rohölpreise. Hier zeigt sich auch, dass die Auslöser sich mit der Zeit wandeln. Bis in die frühen 1980er Jahre scheint der Ölpreis wichtiger als danach; allerdings dürfte er auch ein Faktor bei der Krise von 2008 gewesen sein. Und heute? Im laufenden Jahr stiegen die Preise sehr deutlich – in der Spitze bis 45 Prozent. Aber seit September befinden sich die Notierungen wieder im Sinkflug.
     
  • Vermögensblasen – oder konkreter: Deren Folgen wie Immobilienkrisen und Aktiencrashs. Elfmal kam es nach Immobilienkrisen innert drei Jahren zu einer Rezession, fünfmal war es so weit, nachdem Aktienblasen geplatzt waren. Und heute? Mit P/E-Werten von 17 (USA), 14 (EU) oder 17 (Schweiz, Erwartungen 2018) sind die kritischen Abweichungen von den Standardwerten noch nicht erreicht; bei den Immobilien scheint die Trendwende in der Schweiz allenfalls lokal absehbar.
     
  • Bankenkrisen: Elfmal erkannten die Ökonomen von Capital Economics, dass Finanzbranchenkrisen einer Rezession vorausliefen: Bailouts für Banken, Konkurse, Bank-Runs. Tendenziell häuft sich dieser «Trigger» in den letzten Jahrzehnten – also seit etwa 1985. Der «Big Bang» – die damalige Liberalisierung der Finanzmärkte – könnte hier also tatsächlich zu mehr Unsicherheiten geführt haben. Und heute? Weder die Schweiz noch andere wichtige Industrieländer waren in den letzten Monaten mit einer ernsthaften Bankenkrise konfrontiert.
     
  • Straffere Finanzpolitik: Sinkt das Budgetdefizit eines Staates im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt? Bei 10 von 45 beobachteten Rezessionen liess sich dieses Phänomen im Vorfeld festmachen. Und heute? Dass die Konjunktur abgewürgt wird, weil die Staaten sparen – dies ist derzeit sicher nicht zu befürchten. In der Schweiz liegt die Ausgabenrate recht stabil unter 10 Prozent. Längerfristig lauert hier aber gewiss ein Kernproblem: Einmal kommt der Punkt, wo die Politiker über Einsparungen nachdenken müssen.
     
  • Währungsschocks: In acht Fällen stieg die heimische Währung im Jahr vor einer Rezession sehr deutlich (konkret: mindestens um die Standardabweichung). Und heute? Der «Währungs-Trigger» hat in der Schweiz bereits gewirkt – so zwischen Herbst 2010 und 2011 sowie nach der Franken-Freigabe im Januar 2015. Die entsprechenden gesamtwirtschaftlichen Rückschläge sind also bereits «verdaut».
     
  • Nachfrageschocks: Wachstumsdämpfer in wichtigen Exportmärkten wirken auf die heimische Industrie zurück – und tragen dort zu einer Rezession bei. Und heute? Für die Schweiz tritt hier eine kritische Rahmenbedingung ans Licht – und noch ist das Bild freundlich. In allen wichtigen Absatzmärkten der Schweiz wird fürs nächste Jahr noch ein Wachstum erwartet. Ein globaler Abschwung würde dann aber massiv einwirken.

Capital Economics Focus: «What causes recessions?», März 2018.

«Ich glaube nicht an solche eisernen Gesetze», sagt auch Simon MacAdam. «Es gibt keine festen Phasen.» Der Ökonom des britischen Makro-Beratungsinstituts Capital Economics durchforstete jüngst 45 Abschwünge in den Industriestaaten nach ihren Auslösern. Zinserhöhungen, Ölpreisschocks, Immobilienblasen spielten zum Beispiel sehr oft eine Rolle. «Wir haben plötzliche Schocks wie einen Börsencrash, wir haben Absehbares wie die Geldpolitik», so MacAdam. «Beides spielt zusammen.»

Trotz alledem rechnet Capital Economics ebenfalls mit einer Wende im Jahr 2020. Die Überlegung dabei: Die US-Notenbank drückt seit fast drei Jahren die Leitzinsen stetig nach oben. Und höhere Zinsen dämpfen nicht nur den Schwung der Wirtschaft, sondern sie treiben das gesamte System näher an die ominöse Klippe. «Wenn die Zinsen höher sind, wird die ganze Volkswirtschaft anfälliger für unerwartete Schocks», sagt Simon MacAdam.

Viele Risiken, grosse Ängste

Die Konjunktur ist solide – das Eis wirkt trotzdem dünn: Es ist ein gespaltenes Bild. Die Zick-Zack-Börsenkurven der letzten Wochen malen es weiter aus. Sie lassen spüren, wie die Ängste hervorkriechen. Da können die anerkannten Konjunkturinstitute ihre Trends noch lange fortschreiben, können sie prophezeien, dass es noch lange weitergeht wie gehabt.

UNITED STATES - OCTOBER 11: Dr. Nouriel Roubini of New York University Stern School of Business, testifies during a Senate Banking Committee hearing titled "Exploring the Cryptocurrency and Blockchain Ecosystem," in Dirksen Building on October 11, 2018. (Photo By Tom Williams/CQ Roll Call)

Nouriel Roubini: «Dr. Doom» sagt wieder eine Rezession voraus.

Quelle: © 2018 CQ-Roll Call, Inc.
  • In Lausanne malte das Institut Crea soeben ein optimistisches Wachstum von 2,7 Prozent für 2019 an die Prognosewand, gefolgt von 2,2 Prozent für das Jahr danach.
  • Beim jüngsten Consensus Forecast des ETH-Instituts KOF, veröffentlicht Ende September, fanden sich die Experten bei einem Durchschnittswert von 1,7 Prozent: So stark sollte die Schweizer Wirtschaft im nächsten Jahr wachsen. Mehr noch: In diesem Rahmen werde sich das Wachstum auch über die nächsten fünf Jahre insgesamt entwickeln.
  • Und BAK Economics sichtet in seinen Daten ebenfalls soliden Grund zur Zuversicht: Das Plus des Bruttoinlandprodukts könnte dieses Jahr 3 Prozent betragen – ein ungewöhnliches Tempo – und nächstes Jahr auf etwa 1,6 Prozent zu liegen kommen. Eine Aussage für 2020 hat das Basler Institut noch nicht vorgelegt.

«Wir rechnen mit einer Beruhigung ab nächstem Jahr»: So fasst Alexis Körber die Lage zusammen, der Leiter Macro-Research bei BAK. Allerdings gebe es auch viele Risiken, etwa in der grossen Politik, in den Bilanzen der Notenbanken oder beim Handelsstreit. «Es ist eine Mischung von miteinander verbundenen Gefahren und diese Mischung ist unbehaglich.»

Spektakuläre Klippen

Auch Alexis Körber glaubt nicht, dass die gute Phase einfach enden muss, weil es langsam an der Zeit ist: «Aufschwünge kennen keine Altersschwäche.» Im Gegenteil: Besonders wacklig sei die Wirtschaft zu Beginn einer Erholung – wenn den Akteuren noch die alte Krise in den Knochen steckt.

Und so müssten wir heute eine andere Erfahrung der Vergangenheit beachten: Der Sturz wird oft umso dramatischer, je länger der Aufstieg gedauert hat. Denn mit der Zeit geht die Lektion der letzten Krise wieder vergessen, der Staat wird laxer, die Anleger werden waghalsiger: Ungleichgewichte bauen sich auf. Womöglich jagt Wile E. Cojote noch lange durchs Land. Nur sind die Klippen diesmal spektakulär.

R1538C Bip Bip et Coyote  Road Runner and Wile E. CoyoteTVcree par Chuck Jones.COLLECTION CHRISTOPHEL © Warner Bros.

Trickfilmfigur Will Coyote: Wie meistert er die konjunkturelle Klippe?

Quelle: Credit: Collection Christophel / Alamy Stock Photo