Als Abbas Kiarostami 1997 mit «Der Geschmack der Kirsche» das Festival von Cannes gewann, erhielt er von der Schauspielerin Catherine Deneuve nicht nur die Goldene Palme in die Hand, sondern auch ein Küsschen auf die Wange gedrückt. Dies allein genügte, um in seiner iranischen Heimat eine heftige Diskussion auszulösen, die in der Forderung gipfelte, den Film zu verbieten.

Der Sprecher des Islamischen Parlaments kritisierte, dass iranische Filme zu westlichen Festivals geschickt und von westlichen Geldgebern finanziert würden – in dem vollen Wissen, dass der iranische Aussenminister höchstpersönlich mit dem Cannes-Chef verhandelt hatte, um die «Kirsche, noch in den Wettbewerb zu bringen; der Anmeldeschluss war nämlich bereits abgelaufen.

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Das wahrscheinlich interessanteste Filmwerk der Welt

Das Beispiel zeigt, welch interne Kräften an iranischen Filmemachern zerren. Aber nicht nur interne. Seit Kiarostamis «Wo ist das Haus meines Freundes?» vor fast 30 Jahren fünf Preise beim Festival in Locarno gewann, rangeln die Festivals weltweit um Filme aus dem Iran; es ist, über die Distanz von drei Jahrzehnten gesehen, wahrscheinlich die interessanteste Kinematografie der Welt.

MK2, der französische Co-Produzent von Kiarostamis «Der Wind wird uns tragen», untersagte eine Premiere im Iran, weil der Film erst in Venedig herauskommen sollte; dort gewann er dann den Grand Prix.

Die Revolution empfand er als Befreiung vom Schahregime

Abbas Kiarostami, dessen Einfluss sich bei fast jedem der grossen iranischen Regisseure der Gegenwart entdecken lässt, war kein Kind der Islamischen Revolution. Er hatte schon ein Dutzend Filme gedreht, bevor Khomeini kam. Er hatte das angesehene Zentrum für die geistige Entwicklung von Kindern und Heranwachsenden geleitet. Er empfand, wie viele, die Revolution als eine Befreiung von der Unterdrückung des Schahregimes, und tatsächlich mussten Drehbücher fünf Jahre lang, von 1989 bis 1993, nicht mehr genehmigt werden. Seine Filme handeln viel von Kindern, sind nie im Studio gedreht, spielen gern auf dem Lande und lassen sich – für westliche Augen – unendlich viel Zeit.

Nun haben Kiarostamis Filme die zensurempfindlichen Themen – Sozialkritik, politischen Widerstand, das Los der Frauen – weitgehend gemieden. Frauen sind bei ihm entweder abwesend oder bleiben im Hintergrund, und wenn sie auftauchen, sind sie Bäuerinnen oder älter. Was fast vollkommen fehlt, ist die moderne, junge, urbane Frau, die mit den Vorstellungen der Moralpolizei in Konflikt geraten könnte.

Die grosse Ausnahme ist «Ten», worin eine Frau in einem Auto durch eine Stadt fährt und Anhalter mitnimmt, darunter auch Frauen, die von ihren Männern misshandelt wurden. «Ten» war das Vorbild von Jafar Panahis «Taxi», aber eigentlich radikaler, denn allein das Bild einer Frau am Steuerrad ist im Nahen Osten so etwas wie ein feministischer Akt.

Beihilfe beim Selbstmord in Teheran

Viele iranische Filme spielen im Auto, weil man sich so der Überwachung der Zensur besser entziehen kann, und auch der hagere Protagonist mittleren Alters von Kiarostamis berühmtestem Film «Der Geschmack der Kirsche» kurvt durch Teheran, durch die hässlichen Vororte. Er sucht einen Helfer, der eine Schaufel besitzt und keine Fragen stellt, denn der Held möchte Selbstmord begehen. Der Komplize soll das Grab schaufeln, er wird Schlaftabletten nehmen und sich hineinlegen, und dann will er verbuddelt werden, und keiner soll wissen, was aus ihm geworden ist.

«Der Geschmack der Kirsche» ist keine offene Kritik an den Zuständen im Iran, wir erfahren nichts über die Motive des Selbstmordkandidaten und seine Lebensumstände. Das hebt den Film, obwohl offensichtlich in Teheran spielend, auf eine allgemeinmenschliche Ebene. Die Probleme von Kiarostamis Figuren waren immer universell menschliche, nicht von einer bestimmten Gesellschaftsform verursachte, und deshalb nahm ihn der Zensor weniger aufs Korn als Panahi oder Makhmalbaf oder Majidi. Kiarostami blieb seinem Land gegenüber stets loyal, obwohl er viel Zeit in Paris verbrachte.

Zwischen Illusion und Realität

Kiarostamis Filme waren nie genau festzumachen. Sie schwangen zwischen Illusion und Realität, Gewissheit und Unsicherheit, waren nie ein Entweder-oder, sondern stets ein Sowohl-als-auch. Seine Filmsprache war dem Westen fremd und gerade deshalb faszinierend. Seine vielen Autodialoge filmte er immer mit dem Kamerablick auf nur einen der Sprecher; wenn der andere antwortete, schnitt er nicht auf dessen Gesicht.

Die bei uns von US-Drehbuchgurus diktatorisch eingeforderte Identifikation mit einer Hauptfigur verhinderte er mit einem simplen Trick: In fast all seinen Filmen gibt es einen Mittelsmann, durch dessen Blick die Handlung gezeigt wird: einen Inspektor, einen Reporter, einen Filmemacher, der die Emotionen filtert und abschwächt. Auf der breiten Skala des Kinos, das von der lauten Action bis zur stillen Reflexion reicht, war er der grosse Meditierer, stets ein wenig traurig, aber zuweilen auch erstaunlich humorvoll.

Im Sommer 1995 wurde Kiarostami von den «Cahiers du Cinéma» mit einem Titelbild kanonisiert; das Heft widmete seinem Werk fast 50 Seiten. Jean-Luc Godard soll gesagt haben: «Der Film beginnt mit D. W. Griffith und endet mit Abbas Kiarostami.» Am Montag ist Kiarostami 76-jährig in Paris seinem Krebsleiden erlegen.

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