Donald Trump will die baltischen Staaten also nicht unbedingt gegen Wladimir Putin verteidigen. Zu teuer. Das ist die Essenz dessen, was der republikanische Präsidentschaftskandidat im Interview mit der «New York Times» am 21. Juli von sich gab.

«Können die Mitglieder der Nato, einschliesslich der neuen Mitglieder im Baltikum, auf den militärischen Beistand der USA zählen, wenn sie von Russland angegriffen werden?», fragte die Zeitung. «Werden wir unsere Verpflichtungen erfüllen?» Trumps Antwort: «Haben sie ihre Verpflichtungen uns gegenüber erfüllt? Wenn sie ihre Verpflichtungen uns gegenüber erfüllen, dann ist die Antwort, ja.»

Und wenn nicht? Im Interview hatte Trump zuvor klargestellt: «Wenn wir keine angemessene Entschädigung bekommen für die riesigen Kosten unserer Militäreinsätze zum Schutz anderer Länder, bin ich absolut bereit, diesen Ländern zu sagen: Viel Glück, nun verteidigen Sie sich mal selbst.»

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«Wahl gefährdet Sicherheit im Baltikum»

Verteidigung als Deal. Die Nato als Dienstleistungsunternehmen. «Wenn Trump die Solidarität der Nato im Falle des Artikels 5» – der den gegenseitigen Beistand festschreibt – «infrage stellt, dann würde seine Wahl die Sicherheit im Baltikum gefährden», twitterte Artis Pabriks, ehemaliger Aussenminister Lettlands und heute Mitglied des Europaparlaments. Und nicht nur dort.

Aber noch ist Trump nicht gewählt worden. Auf dem Warschauer Gipfel vor einem Monat beschloss das Bündnis, je ein multinationales Bataillon – mit Truppen aus Grossbritannien, Kanada und Deutschland – in jedem der drei baltischen Staaten zu stationieren.

Das ist eine angemessene Antwort auf die ständige Einschüchterung und Provokation durch Russland an der Nordostflanke der Nato. Zwar könnten diese Truppen keiner massiven Offensive widerstehen, aber sie dürften dennoch als Abschreckung wirken, da ein Angriff auf sie automatisch eine massive Antwort des Bündnisses auslösen würde. Gut.

Die baltischen Staaten leisten ihren Beitrag

Wie ist es aber mit Trumps Behauptung, Estland, Lettland und Litauen würden «ihre Verpflichtungen nicht erfüllen»? Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves wies per Twitter darauf hin, dass sein Land «ohne Vorbehalte» unter Artikel 5 in Afghanistan mitgekämpft habe.

Immer noch sind 45 Soldaten aus den baltischen Staaten mit der Nato am Hindukusch. Wenn man bedenkt, dass alle drei Staaten zusammen etwas mehr als sechs Millionen Einwohner haben – zwei Millionen weniger als London – und dass Estland weniger als die Hälfte der Einwohner Berlins hat, dann ist dieser Beitrag nicht trivial.

In der Tat ist Estland eines von nur fünf Nato-Mitgliedern, das die von allen Mitgliedern eingegangene Selbstverpflichtung erfüllt, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben. (Die anderen sind Griechenland, Grossbritannien, Polen und die USA.)

Wenn Lettland 2016 1,45 Prozent und Litauen 1,49 Prozent ausgeben wollen, dann ist das gewiss zu wenig. Aber immer noch mehr als Deutschland mit beschämenden 1,19 Prozent, von Italien mit 1,11 Prozent ganz zu schweigen.

Wenn Trump auf jemandem herumtrampeln will, dann soll er nicht die kleinen baltischen Staaten nehmen, sondern das grosse Deutschland.

Das Problem der «russischen» Minderheit

Jenseits der Zahlen jedoch sollte der Westen anerkennen, dass die baltischen Staaten – übrigens ein sehr lohnendes touristisches Ziel – mit einem Problem fertigwerden müssen, das innerhalb der Nato einmalig ist und das Russland ausgenutzt hat, um seine Nachbarn Georgien, Moldawien und die Ukraine zu zerlegen.

Die «russische» Minderheit – Russisch sprechende Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion, die meisten von ihnen ethnische Russen, aber auch Weissrussen, Ukrainer, Kasachen und andere – bildet mindestens 30 Prozent der Bevölkerung Lettlands, mehr als 27 Prozent in Estland und immerhin noch sieben Prozent in Litauen.

Russland hat immer wieder versucht, diese Bevölkerungsgruppe und die mit ihr verbundenen komplizierten Fragen der Sprachenpolitik und der Staatsbürgerschaft zu verwenden, um Estland und Lettland zu destabilisieren.

Da sich die meisten Russen im Zuge der Russifizierungspolitik der Besatzungsmacht Sowjetunion in den baltischen Staaten niederliessen, haben sie nach internationalem Recht nicht automatisch einen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft in ihrer jetzt unabhängigen neuen Heimat.

Schwierige Integration

Alle drei baltischen Staaten verlangen, dass Russen einen Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen und Grundkenntnisse der Staatssprache sowie der Verfassung nachweisen.

Das Ressentiment über diese Ungleichbehandlung, in Verbindung mit der Nostalgie für die Sowjetzeiten, als sie die Privilegierten waren, und einer Verachtung der «Bauernkultur» der Esten, Letten und Litauer macht die Integration der Russen äusserst schwierig.

Trotzdem haben nur einige Tausend das Angebot des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedjew wahrgenommen, nach Russland zurückzukehren. Vor zwei Jahren aber begründete Wladimir Putin seine Annexion der Krim mit der Behauptung, Russland sei die Schutzmacht aller Russen, wo immer sie seien.

Der Beitrag zur Stabilität Europas

So wird Russland von der Mehrheitsbevölkerung völlig anders wahrgenommen als von der russischen Minderheit. Piret Eti, die an der Universität Tartu in Estland forscht, fand heraus, dass ethnische Esten fast durchgehend Russland als Bedrohung wahrnehmen.

Seit der Aggression gegen die Ukraine ist dieses Gefühl der Bedrohung noch gewachsen. Ethnische Russen hingegen sind ganz überwiegend der Meinung, Russland sei ein «vertrauenswürdiger Partner».

Angesichts dieser Differenzen, die noch verstärkt werden durch die Tatsache, dass die Russen oft in alten und schmutzigen Industriezweigen arbeiten, die durch die Globalisierung, EU-Umweltschutzbestimmungen und die starke Währung Euro bedroht sind, ist das wahrhaft Erstaunliche die relative Friedfertigkeit und Loyalität der russischen Minderheit. Es handelt sich um einen bedeutenden Beitrag der baltischen Staaten zur Stabilität Europas.

Lieber Englisch als Estnisch

Paradoxerweise war ein Faktor dabei die Auswanderung nach Grossbritannien. Gerade ehrgeizige junge Russen lernen lieber Englisch als etwa eine Staatssprache wie Estnisch, die extrem kompliziert ist und nur von etwas mehr als einer Million Menschen gesprochen wird.

Gleich nach der Schule ziehen diese Russen nach London, wo sie als EU-Bürger leben, studieren und arbeiten dürfen. Leider signalisiert das Brexit-Votum das Ende dieses wichtigen Sicherheitsventils – es sei denn, Schottland und Nordirland bleiben in der EU.

«Eine europäische Identität»

Die baltischen Staaten haben aber auch gewaltige Anstrengungen unternommen, um der russischen Minderheit entgegenzukommen, ohne ihren Anspruch aufzugeben, dass es nur eine Staatssprache geben dürfe.

In Estland können russische Eltern zwischen vier verschiedenen Schultypen wählen: russischen Schulen, in denen der Unterricht erst ab der neunten Klasse teilweise auf Estnisch stattfindet; normalen estnischen Schulen, in denen Russisch eine optionale zweite Fremdsprache ist nach Englisch; bilingualen Schulen und experimentellen Schulen mit «totaler Immersion», die binnen weniger Jahre die Kinder auf den sprachlichen Stand gleichaltriger estnischer Kinder bringen.

Bei einem Besuch in Estland sprach ich mit Kristina Kallas, die in der Stadt Narva, direkt an der russischen Grenze, ein Lehrerausbildungsinstitut leitet. Kallas meint, dass der Rest Europas, der mit dem Problem der Integration diverser ethnischer Minderheiten ringt, viel von Estland lernen kann.

Sie meint auch, dass Europas Sicherheit mit davon abhängt, dass junge Russen in Estland, Lettland und Litauen «eine europäische Identität» annehmen.

Die steigende Zahl junger Russen, die einen Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen, ist der Beleg dafür, dass die Anstrengungen von Menschen wie Kallas sich auszuzahlen beginnen.

Verteidigung bedeutet mehr als Truppen

Das sind Anstrengungen und Kosten, die Trump nicht in seine Rechnungen einbezieht. Verteidigung bedeutet eben mehr als Truppen und Flugzeuge, Dollars und Euros.

Die baltischen Staaten – übrigens enthusiastische Mitglieder der Nato, der EU, der Euro- und der Schengen-Zone – beweisen das Tag für Tag. Sie verdienen die Unterstützung des Westens ohne Wenn und Aber.

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