Wuschelpuschel, raschelmaschel, ritscheratsche. Edles Tuch fliegt, aufwendige Stickereien knistern, die strengen Scherenhände der Directricen pflügen sich stoisch ihre Änderungswege. In langer Nachtarbeit müssen quadratmetergrosse Kleiderträume wieder aufgetrennt werden, die «Vision» des Herrn will es so. Alle sind megaexited und supergestresst, aber mit von der Droge Stichelarbeit leuchtenden Augen.

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Gegen Ende, wenn das Tempo steigt, die Schnitte schneller werden und die Musik ihren Rhythmus beschleunigt, schauen die Mamsellen und Messieurs aus dem Atelier von hinten zu, wie ihnen ihre Modelle der Saison genommen und von hektischen Stylisten, Coiffeuren sowie Visagisten auf klapperdürren, meist mürrisch aussehenden Models zu Artefakten aufgehübscht werden.

Draussen tobt fotoblitzzuckend der Starzirkus am Laufsteg, hinten der Backstage-Wahnsinn. Irgendwann kommt eine wenige Grade über dem Gefrierpunkt huldvoll lächelnde Anna Wintour ins Bild, vielleicht sogar ohne Sonnenbrille. Und dann noch das Brautfinale, zack, zack, Küsschen, Bravi. Alles vorbei. La petite Mort.

Wie eine Kollektion entsteht

Das ist die vorhersehbare Dramaturgie jeder Dokumentation, die hinter die Kulissen des Pariser Haute-Couture-Zirzensik blickt. Da werden Zicken und Zauberer vorgeführt, aber letztlich wird wieder nur Lieschen Müller im Kinositz dazu verführt, von ihrem Tippsengehalt sich doch eine Handtasche von C., eine Sonnenbrille von D. oder wenigstens einen Lippenstift von L. zu leisten.

Modeträume müssen immer neu geboren werden, man will wenigstens Fashionista für einen Moment sein, am Luxuslabel partizipieren; auch wenn man nie selbst in den Genuss kommt, als Stammkundin mit mindestens 350'000 Jahreseinsatz sogar in New York von der eigens eingeflogenen Atelierleiterin wegen Änderungswünschen beglückwünscht zu werden.

Wuschelpuschel, raschelmaschel, ritscheratsche. So geht das auch in Frédéric Tchengs «Dior und Ich», der jüngsten Variation dieses einigermassen glamourösen Doku-Subgenres vonstatten. Wir sehen, wie eine Kollektion entsteht, von der Inspirationsphase an, die oft nur mehr oder weniger cleverer Klau an der Kulturgeschichte ist, was dann unter Neo-, Retro-, Vintage- oder Hommage-Look firmiert.

Wir verfolgen, wie sie händisch gemacht und genäht, gestickt und gebügelt wird. Wie sie sich Änderungen und Unfälle, Verwerfungen und Jubelschreie gefallen lassen muss. Und wie sie schliesslich der Öffentlichkeit zum Frass, zum Tragen und zum Kopieren vorgeworfen wird.

Doch hier dominiert kein König Karl (Lagerfeld) im Atelier und Laufsteg und auch kein Kaiser Valentino (Garavani) am Ende seiner Laufbahn, wie ihn Frédéric Tcheng bereits als Zuarbeiter für Matt Tyrnauers «Valentino: The Last Emperor» visualisiert hat, und auch keine Fashionqueen Diana Vreeland, wie er sie in «The Eye has to travel» fiktionalisiert hat.

Hier wird gezeigt, wie der extrem scheue Raf Simons, der als Belgier dörflicher Herkunft noch nicht einmal des Französischen mächtig ist, im Frühjahr 2012 die Kreativherrschaft im legendenumwobenen Haus Dior übernimmt.

Positive PR nach üblen Schlagzeilen

Man sieht ein vorsichtiges Abtasten und menschliches Massnehmen einer Mannschaft, die vorher die Borderline-Explosionen des wegen seiner trunkenen Ausfälligkeiten entfernten John Galliano meisterlich in Stoffextravaganzen umzusetzen wusste, wie sie jetzt den knappen Anweisungen eines bisher noch nicht in der Haute Couture angekommenen Jil-Sander-Minimalisten Folge zu leisten versucht. Man erlebt, wie eine eingeschworene Mannschaft sich ganz in den Dienst von etwas Neuem stellt, ohne ihre Tradition aufzugeben.

Tcheng wurde von jetzt auf gleich für den Film ins Atelierallerheiligste an der legendären Ecke Avenue Montaigne/Rue François 1er gerufen und gelassen, natürlich auch weil dem Haus Dior nach den üblen Galliano-Schlagzeilen positive PR wichtig war.

Tcheng konnte sich vorher nicht viel Dramaturgisches überlegen, hatte zudem eine sich zunächst verweigernde, nur mählich auftauende, die Kamera freilich nie zur Selbstdarstellung nutzende Hauptfigur. Ohne zu stören musste hier eingefangen werden, wie in knappsten acht Wochen ein weiterer «New Look» à la Dior-Simons entsteht. Was auf faszinierende Weise gelang – und von der fast schwebend tanzenden Kamera diskret, doch sehr präsent dokumentiert wurde.

Raf weint

Eine Marke häutet und erfindet sich neu, bleibt sich aber – altes Modemantra – irgendwie treu. Menschen wachsen zusammen, werden sich vertraut. Man erlebt, wie bei allem Geniekult und Geschichtsbewusstsein der Name Dior eben auch Teamwork ist: der vielen kleinen Hände, der «petites mains» der Näherinnen mit ihren wunderbar verschiedenen Chefinnen Florence und Monique, aber eben auch von Simons' feinfühligem Assistenten Pieter Mulier.

Und das Rätsel Raf wird wirklich gelöst, er wird nahbar, bricht fast auf einer Dachterrasse zusammen, weint am Ende sogar, wenn er wie im Rausch trotz Panikattacke durch die mit Blumenwänden geschmückte Stadtwohnung wandelt, die dieser ersten, entscheidenden Kleidersammlung als Präsentationsort diente.

Das ist so elegant wie spannend anzusehen. Da hätte es die zweite Ebene mit dem sich mit seinem Alter Ego unterhaltenden Christian Dior als gutem Geist aus der Vergangenheit gar nicht gebraucht.

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