Frau Budde verfolgt mich seit einigen Wochen. Ständig fährt sie mir mit ihrem Rollator quasi direkt über den Weg. Als ob sie mir etwas zeigen wollte. Als ob sie mir etwas sagen wollte, auf ihre Weise. So hat es sich erst kürzlich begeben, als ich auf dem Weg zu einem dämmrigen Abendlauf war. Und Frau Budde war mütterlich, nein urgrossmütterlich in Sorge.

Heute traf ich sie wieder. Sie stellte sich mit dem Rollator einfach quer, direkt vor meine Haustür. Es war dringend, Frau Budde hatte Gesprächsbedarf. «Herr Kleiss, wissen Sie, es ist nicht schön, so alt zu werden. Alle Freunde und Bekannte sind längst tot. Die Kinder und Enkel kommen selten vorbei, sie müssen gucken, wie sie sich durchs Leben schlagen. Man ist oft alleine. Und hat niemanden, mit dem man reden kann. Man gerät in die Isolation. Und man bewegt sich kaum noch aus dem Haus», platzte es aus Frau Budde heraus. Ohne «Hallo», ohne «Guten Tag». Es war wirklich dringend.

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Auf den ersten Blick könnte man meinen: einfach nur eine alte Dame, die einsam ist, die dem Nachbarn ihr Leid klagt. Nichts davon hatte Frau Budde in diesem Moment. Ganz im Gegenteil. Und Sie können sich mit Recht fragen: Was hat das in einer Laufkolumne zu suchen? Ich will es Ihnen gern sagen.

Warum diese alte Dame so bewundernswert ist

Frau Budde hat etwas gemacht, was vielen Läufern oft fehlt. Oder denen, die gerne laufen würden. Sie hat zunächst ihren Schweinehund besiegt. Mit 93 Jahren. Bei wirklich üblem, nasskaltem Wetter hat sich Frau Budde auf den Weg gemacht. Anstatt es sich in ihrer Komfortzone gemütlich zu machen, ist sie mit viel Kraft hinausgetreten. Auch heraus aus der Isolation, die sie beschrieben hat. Dazu hat sie für sich selbst Verantwortung übernommen und hat sich einen Kommunikationspartner gesucht. Und wartete nicht, bis ihre Kinder oder Enkel zu Besuch kommen.

Was noch viel wichtiger war: Frau Budde hat sich bewegt. Sie hat über das gesprochen, was ihr Herz bewegt. Einfach raus damit. Sie bewegt sich, sie läuft. Und wenn es mithilfe des Rollators ist. Das Laufen ist die Bewegung, die bei Frau Budde auch im hohen Alter noch Dinge in Bewegung bringt. Und mich bewegt sie sowieso. Jedes Mal, wenn ich sie treffe.

Ein Bewegungsvorbild

«Frau Budde, ich bewundere Sie für Ihre Offenheit. Ich bewundere Sie dafür, dass Sie jeden Tag laufen. Und wenn es nur die 300 Meter zum Supermarkt und weitere 200 Meter zum Metzger sind. Bei Wind und bei jedem Wetter. Und ich bewundere Sie für Ihre Kraft. Sie sind ein Bewegungsvorbild, wenn man genau hinsieht. Und ich bin mir sicher, dass Sie – gerade weil Sie laufen – auch noch lange Zeit sehr fit sein werden. Und gesund. Und Sie finden auf Ihre Weise auch einen Weg, nicht isoliert zu sein. Klingeln Sie doch einfach bei mir, wenn Ihnen danach ist. Lassen Sie uns ein Stück zusammen laufen, immer wenn Ihnen danach ist», sagte ich.

«Ich will Ihnen verraten, warum ich weiter laufe, Herr Kleiss», sagte Frau Budde keck, geheimnisvoll und mit einem Lächeln. «Ich kann nicht anders. Ich kann einfach nicht anders. Als ich jung war, da gewöhnte ich mir an, jeden Tag mindestens eine Stunde zu laufen. Egal, wie das Wetter war. Egal, zu welcher Jahreszeit. Damals kannte man das Wort joggen noch gar nicht. Wenn ich nicht laufen konnte, weil es zu heiss war, dann lief ich im Garten und machte schwere Gartenarbeit. Danach machte ich einen Mittagsschlaf. Und dann ging es weiter im Text.»

Was wir von Frau Budde lernen können

Nun könnte man sagen: gut, nette Geschichte einer alten Dame. Und was hat das mit dem Laufen zu tun? Ich will es Ihnen gerne sagen: Frau Budde war quasi die Vorreiterin der Streak Runner. Sie ist täglich gelaufen, schon in den 1920er-Jahren. Und sie hat ihrem Körper danach Zeit zur Regeneration gegeben. Nachdem sich ihr Körper erholt hatte, war sie wieder deutlich leistungsfähiger. Per Instinkt hat sie mehr richtig gemacht als die meisten Läufer heute. Sie hat damals schon verstanden, dass die Regeneration ebenso dazugehört wie das Laufen selbst.

Von Frau Budde können wir wieder lernen, worauf es beim Laufen wirklich ankommt. Und warum das Laufen fit fürs ganze Leben machen kann. Wer sich einmal daran gewöhnt hat, wird sich quasi täglich bewegen müssen, um in Bewegung zu bleiben. Für echte Läufer ist Stillstand der Tod, und deshalb erfreut sich Frau Budde noch immer ihres Lebens. Sie hat gelernt, niemals aufzugeben. Täglich kämpft sie gegen den inneren Schweinehund. Täglich gewinnt sie diesen Kampf. Sie führt ihn, um sich gesund zu halten, soweit es eben geht. Sie führt ihn, um nicht zu vereinsamen. Sie führt ihn, um sich gut zu fühlen, für sich selbst tut sie es. Sie muss niemandem mehr etwas beweisen.

Heute wird Frau Budde wieder ein Jahr älter. Herzlichen Glückwunsch, Frau Budde! Es ist bewegend, Sie als Nachbarin zu haben. Ich wünsche uns allen eine Frau Budde. Denn wer genau hinsieht und zuhört, kann von Frau Budde eine Menge lernen. So läuft es.

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