Jörg Wolle, Konzernchef des Zürcher Handelsriesen Diethelm Keller Siber Hegner (DKSH), hat ein ganz profanes Rezept gegen die Midlife-Crisis: «Ich habe mir eine Harley-Davidson gegönnt, lange bevor ich wusste, wie man Midlife-Crisis buchstabiert.» Genau darum sei sie bei ihm wahrscheinlich gar nie eingetreten.

Jörg Wolle ist leidenschaftlicher Harley-Fahrer. Und mit seinem Hobby längst kein Exot mehr in schweizerischen Cheftagen, ganz im Gegenteil. Die schwer verchromten Eisen aus Milwaukee werden anscheinend gern von Schweizer Führungskräften gefahren. Zum Beispiel von Nestlé-Chef Peter Brabeck. Oder von Börsenguru Marc Faber. Oder von Armin Meyer, Chef der Ciba Spezialitätenchemie. Wie ein verspielter Bub wirke er auf seiner Harley Electra Glide, sagt ein Töff-Kollege über Armin Meyer: «Beim Anblick schwerer Motorräder bekommt er glänzende Augen.»

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Ähnlich erging es lange Jahre auch Fred Kindle; allerdings hat der ABB-Chef kürzlich seine Harley verkauft. Und ähnlich ergeht es noch heute Peter A.C. Blum, Präsident der Billig-Airline Helvetic.

Bei Peter A.C. Blum war es ein Schreinermeister, der das Virus auslöste. Blum, der als Kind oft im Ferienhaus seiner Eltern im aargauischen Stetten Urlaub machte, war fasziniert, wenn der Mann seine Dachbalken auslieferte. Er transportierte sie im Seitenwagen seiner Harley-Davidson, ein knatterndes Ungetüm mit Tankschaltung. «Ich konnte mich nicht satt sehen», sagt Blum. Und später sei ihm klar geworden, dass eine Harley in seine Garage müsse. Er fuhr zwar auch schnellere Maschinen, aber genau deshalb liebt er heute seine Harley: «Damit kannst du nicht bolzen. Damit kannst du nicht fräsen. Eine Harley ist auch kein perfektes Produkt. Sie ist einfach ein Lebensgefühl.»

Wer Harley fährt, folgern wir daraus, fragt nicht nach schnöden Banalitäten wie Spitzentempo und PS-Tabellen. Wer Harley fährt, fragt tiefer gehend: nach dem Sinn des Motorradfahrens und nach einer ganz bestimmten Lebensart.

Um das besser zu verstehen, empfiehlt sich zunächst ein allgemeiner Blick in die Welt der Motorradfahrer. Wer meint, es handle sich hier um eine homogene Gruppe mit einem gemeinsamen, verbindenden Hobby, liegt ziemlich falsch. Denn Motorradfahrer ist nicht gleich Motorradfahrer, ganz im Gegenteil.

Da gibt es zunächst den Herrenfahrer. Er legt besonderen Wert darauf, aufrecht im Sattel seines Fahrzeuges zu sitzen. Und er hält sich an die britische Devise, wonach man auf einem Töff auch mal am Sonntagmorgen im Tweedanzug zur Messe fahren können muss. Eine alte BMW 100 RT passt besonders gut zu ihm.

Der so genannte Knieschleifer zieht eine superschnelle Suzuki Hayabusa vor. Tempo geht ihm über alles. Am Knie hat er eine Art Kissen, das in schnellen Kurven auch mal am Boden kratzt.

Der Italo-Nostalgiker, gerne auf einer alten Moto Guzzi V7 Sport anzutreffen, findet zuverlässige Maschinen langweilig und hässlich. Er liebt das Bollern seiner Guzzi oder das unverwechselbar klassische Design einer Ducati.

Der Bequemfahrer wiederum hockt auf einem Ungetüm, gross wie ein Einfamilienhaus. Musik dudelt aus Lautsprechern, in den Koffern am Töff könnte man die gesamte Wohnung zügeln, oft schmücken farbige Lämpchen das Ungetüm wie einen Christbaum zu Weihnachten.

Der Abenteurer schliesslich fährt durch die Stadt, als wäre sie die Sahara. Er hat ein GPS-Ortungssystem, Stollenreifen, Griffheizung, Alukoffer, Ersatzreifen, Riesentank und das ganze Equipment, das die Prospekte hergeben. Er weiss, dass er das alles nie wirklich braucht. Es gibt ihm allerdings das beruhigende Gefühl, mit seinem Range Rover auf zwei Rädern – meist eine BMW 1150 GS – notfalls auch bis nach Timbuktu fahren zu können.

Und der Harley-Fahrer? Na ja, den Harley-Fahrer per se gibt es nicht. Es sind, ganz im Gegenteil, mindestens drei verschiedene Gruppen von Harley-Fahrern zu unterscheiden.

Da wäre zunächst der Chromie Homey. Er hat vermutlich eine klassische, blaue Electra Glide mit Weisswandreifen in der Garage stehen. Er greift zur Polierpaste, wann immer es geht. Und er fährt seine Maschine so wenig wie möglich. Erstens, weil sie dabei dreckig würde. Zweitens, weil etwas kaputt gehen könnte. Und drittens, weil man eine schöne Harley eh nicht zum Fahren hat.

Dann gibt es den Outlaw. Nachdem ihn der Chef um 17 Uhr zusammengestaucht hat, markiert er ab 18 Uhr den Hell’s Angel. Seine Maschine ist matt gespritzt, der Lenker hoch, ein Tatoo schmückt seine Oberarme, der Helm ist ein lächerlicher Klodeckel-Verschnitt.

Und dann kommt jene Gruppe, die von anderen Töfffahrern am liebsten als «Zahnwälte» verspottet wird, weil neben Werbern Zahnärzte und Anwälte tatsächlich eine viel gesehene Klientel der Marke bilden. Der Zahnwalt hat stets die Harley-Service-Card dabei. Wo das Bordwerkzeug ist, weiss er nicht – schon gar nicht, wie man es benutzt.

Übertrieben? Gewiss, masslos sogar. Motorradfahrer lieben solche Typologien dennoch, denn sie haben mehr als nur einen wahren Kern.

Doch um dem Mythos Harley wirklich auf die Spur zu kommen, empfiehlt es sich, die Fahrer selber zu Wort kommen zu lassen. Fragen wir also Bernadette Brabeck-Letmathe – eine der prominentesten Fahrerinnen, die wiederholt laut über die Eröffnung eines eigenen Harley-Geschäftes nachgedacht hat –, was für sie die Faszination der Marke ausmacht.

«Mir gefällt ganz besonders die Möglichkeit, eine Harley zu personalisieren», sagt sie. Tatsächlich geht der Spruch, man treffe selten zwei genau gleiche Harleys an. Die Marke bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Töff dem eigenen Geschmack anzupassen. Ein Stück Chrom hier, ein besonderer Lenker da, dazu eine Tankabdeckung, ein tief gelegter Rahmen, ein spezieller Gepäckträger – manche Harley-Fahrer stecken so viel Geld in Accessoires, wie das Motorrad in der Grundversion kostet. Statt 30 000 Franken kostet die Maschine dann schnell mal 60 000 Franken. Bernadette Brabeck-Letmathe, Ehefrau von Nestlé-Chef Peter Brabeck, schwärmt aber auch vom Motor: «Er vibriert ein bisschen, hat einen tollen Sound und sieht einfach wunderbar aus.» Dazu kämen die Accessoires, Harley-Klamotten findet die Fahrerin besonders cool.

Und weiter? «Harleys verführen zum Geniessen, nicht zum Rasen», sagt Jörg Wolle, Konzernchef des Zürcher Handelsriesen Diethelm Keller Siber Hegner. Und genau in diesem Punkt pflichten ihm fast alle Harley-Fahrer bei. Dazu kommt für Wolle ein entscheidender Punkt: «Eine Harley-Davidson ist das einzige mir bekannte Luxusprodukt, auf das im wahrsten Sinne des Wortes ein breit gefächertes Publikum abfährt.» An den legendären «Love Rides» etwa sei alles dabei – «muskelbepackte Jungs vom Bau und zerstreute Universitätsprofessoren, tätowierte Rocker und Topmanager, Krankenschwestern und Herzchirurgen».

Martin Klaus, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Bank Leu in Zürich, sieht die Harley gar als «Ur-Töff». Er schöpfe seine Kraft aus zwei grosshubigen Zylindern, entwickle einen unverwechselbaren Sound und animiere zum gemächlichen niedertourigen Cruisen, «ein Kontrapunkt zu den hochgezüchteten Strassenmaschinen».

Für solche Zensuren aus berufenem Mund hat Harley-Davidson viel investieren müssen. Noch Anfang der achtziger Jahre sah es ganz gewaltig danach aus, als müsse die letzte uramerikanische Motorradfabrik definitiv ihre Tore schliessen, die Firma war praktisch am Ende. Den unerwarteten Aufschwung verdankt das Unternehmen aus Milwaukee ein bisschen dem damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Und einer ganz neuen Firmenführung.

Die Administration Reagan erliess im April 1983 auf schwere ausländische Motorräder exorbitant hohe Schutzzölle von bis zu 45 Prozent. Diese «Lex Harley-Davidson» gab der legendären Marke die nötige Luft, längst fällige Neuerungen einzuführen.

Dazu kam ein mustergültiges Management-Buyout. Im AMF-Konzern war Harley zur Nullnummer verkommen; erst als die Biker im US-Konzern um Vaughn Beals den Lenker in die Hand nahmen, wurde alles gut.

«Nach dem Wechsel übernahmen Motorradfahrer die Führung. Sie verstanden viel von der Leidenschaft für Motorräder», erzählt Bill Davidson, der Urenkel des Firmengründers. Davidson zog eine Lehre daraus: «Du musst nahe am Kunden sein. Nur so verstehst du seine Träume und Wünsche.» (Siehe Nebenartikel «Bill Davidson, Chef Marketing und Entwicklung von Harley: «Im Schaffen von Träumen sind wir ziemlich gut»»)

Man bezahle bei Harley-Davidson für einen Traum, geht das Bonmot, den Töff gebe es gratis dazu. Damit hat der Mythos ganz bestimmt zu tun. Und natürlich ganz wesentlich mit ein paar wunderbaren Filmklassikern.

Marlon Brando fährt in «The Wild One» 1954 zwar eine britische Triumph; angesichts der wichtigen Rolle, die Motorräder aus Milwaukee im berühmten Rebellen-Streifen spielen, gilt er aber als Wegbereiter für den Kultstatus von Harley-Davidson. Vor allem «Easy Rider» prägte 1969 dann eine ganze Generation, darunter viele Männer, die heute auf der Kommandobrücke von grossen Unternehmen stehen.

In Frankreich, dies nur nebenbei, sang das damalige Sexsymbol Brigitte Bardot 1967 eine Hymne auf die chromblitzenden Eisenhaufen, erotisch aufgeladene Todessehnsucht inklusive: «J’irai peut-être au paradis, mais dans un train d’enfer», heisst es. Und: «Il me monte des désirs dans le creux de mes reins.» (Auf Deutsch ungefähr: «Ich reise vielleicht ins Paradies, aber in einem Höllenzug.» Und: «In meinem Becken spüre ich aufströmende Lust.»)

Ist hier soziokulturell die Affinität Schweizer Führungskräfte für die Marke Harley-Davidson begründet? Hat Hollywood sie zu einem wilden Haufen von Chromosexuals gemacht, wie in den Vereinigten Staaten Harley-Fahrer mitunter verspottet werden?

«Auf der Harley kann ausgelebt werden, was im Beruf zu kurz kommt», glaubt der Zürcher Psychologe Rudolf Olivieri. An den Hebeln der Macht sässen heute oft Menschen, die damals, als etwa «Easy Rider» lief, vor allem ans Studium dachten – mit entsprechendem Nachholbedürfnis.

Tatsächlich ist es mitunter kurios anzusehen, wie sonst ausschliesslich in piekfeiner Schale auftretende Männer sich plötzlich ins wilde Lederkostüm mit langen Fransen stürzen. Einige von ihnen haben selber sehr direkt von der Harley-Erfolgsstory profitiert. Der CEO Jörg Wolle zum Beispiel hat zweimal eine Harley gekauft. Beide Male investierte er den gleichen Betrag auch in Harley-Aktien. «Nach anderthalb Jahren», so freut er sich, «war die Maschine durch die Wertsteigerung der Aktien finanziert.»

Merke: Harley mag Lifestyle sein. Harley ist aber vor allem auch eine unglaubliche Erfolgsgeschichte.