Die Idee klang faszinierend: Warum bauen wir nicht in Afrika, wo es reichlich Platz und Sonne gibt, Solarkraftwerke und erzeugen dort Strom fürs verregnete Nordeuropa? So lautete, einfach gesagt, der Plan von Desertec. Fünf Jahre lang verfolgte ihn das Industriekonsortium, an dem unter anderem die Schweizer ABB beteiligt war. Doch Mitte Oktober platzte der Traum vom sauberen Sahara-Strom: Die letzten grossen Industriepartner zogen den Stecker, das Milliardenprojekt wurde auf Miniformat zurückgeschrumpft.
Ein totaler Fehlschlag also. Allerdings klang das in den Worten des Managements ganz anders. Paul van Son, Chef der Desertec-Initiative, betonte, dass «rund 70 Projekte inzwischen realisiert oder in der Umsetzung» seien. Also doch keine Pleite? Keineswegs, man stelle sich lediglich «auf veränderte Anforderungen» ein.
Leichen werden im Keller verscharrt
Was nach Fehlschlag klingt, ist in echt ein Volltreffer – diese seltsame Metamorphose findet gerade jetzt häufig statt. Auf zahllosen Weihnachtsfeiern betreten gut gelaunte Chefs die Bühne und preisen den Erfolg des vergangenen Geschäftsjahres. Und so mancher Mitarbeitende traut seinen Ohren nicht. Was ist mit dem verpatzten Produktstart, dem versandeten Umbauprojekt, der gescheiterten Strategie? Nein, davon redet niemand mehr. Die Leichen wurden heimlich im Keller entsorgt, es gibt nur noch Erfolge. Man hat sich auf «veränderte Anforderungen eingestellt».
Aber sollte mit dieser Scharade nicht langsam Schluss sein? Schliesslich predigen Business-Gurus seit Jahren, dass Unternehmen eine neue Fehlerkultur bräuchten, so wie in den USA, wo in jeden guten Lebenslauf – angeblich – mindestens eine gescheiterte Unternehmensgründung gehört.
«Fehlerkultur» existiert nicht
Fehlanzeige, sagen Kenner der Geschäftswelt. «Das Gegenteil ist der Fall! Wir leben im Perfektionswahn, und wer einen Fehler zugibt, ist immer noch der Bote, den man köpft», sagt Martin Wehrle, Führungskräfte-Coach und Autor des Buchs «Ich arbeite in einem Irrenhaus». Er war lange Zeit als Manager in einer Aktiengesellschaft tätig und kennt die Zustände in Grossorganisationen. Seiner Einschätzung nach ist das ganze Gerede von der «Fehlerkultur» nur Rhetorik. Pleiten würden weiter runtergespielt, vertuscht oder mit rhetorischem Zuckerguss überzogen. «Deshalb sind die Leute an der Spitze auch immer so gut gelaunt und optimistisch», lacht Wehrle, «die kriegen ja nichts mit.»
Er gibt ein Beispiel aus seiner Praxis: Ein Druckerhersteller bringt ein neues Modell auf den Markt, das mit Funktionen völlig überladen wurde. Die Vertriebsleute merken das in Sekunde eins, doch niemand traut sich, den Produktpatzer offen auszusprechen. Und so merkt der Chef nichts vom Schwelbrand, bis die Flammen hochschlagen – und die Umsätze sinken. Den Mitarbeitern ihren Schweigekurs vorzuwerfen, wäre falsch, findet Wehrle. «Wer zu Fehlern steht, hebt sich negativ von den Kollegen ab.»
In weiten Teilen der Wirtschaft gilt also nach wie vor: Nur wer Misserfolge schönredet, kommt weiter. Deshalb hier die wichtigsten rhetorischen Kniffe, um den Tiefschlag in einen Triumph umzumünzen:
- 1. Leugnen Sie!
Strategie eins: Den Fehler leugnen. Dieser Klassiker hat sich durch die Jahrhunderte in Wirtschaft und Politik bewährt. Als echter Meister der Vogel-Strauss-Taktik in Erinnerung geblieben ist zum Beispiel Bill Clinton mit seinem berühmten Satz: «Ich hatte keine sexuellen Beziehungen zu dieser Frau, Miss Lewinsky.» Später stellte sich heraus, dass der US-Präsident mit seiner Praktikantin durchaus ein etwas intimeres Verhältnis gepflegt hatte. Echte Champions des Dementi erkennt man übrigens daran, dass sie selbst dann nicht aufgeben, wenn sie längst überführt wurden. Als meisterhaft zu bezeichnen wäre hier zum Beispiel David Dinkins, ehemals Bürgermeister der Stadt New York. Der gab, als man ihm Steuerhinterziehung vorwarf, zu Protokoll: «Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich habe nur nicht nach den Gesetzen gehandelt.»
- 2. Schieben Sie es auf die Konjunktur!
Wenn ein Dementi partout nicht mehr möglich ist, greift der geübte Schönbeter zu wirtschaftlichen Ausflüchten. Die Konjunktur war schuld, die Märkte, irgendwie alles. «Im Moment beliebt sind auch die ‹geopolitischen Verhältnisse›. Das ist besonders bizarr, wenn es sich um einen 20-Mann-Betrieb handelt», spottet Bernhard Baumgartner. Der 41-jährige Österreicher gehört zu den bekanntesten Business-Kabarettisten im deutschen Sprachraum. Er kennt die Floskeln des Führungspersonals aus dem Effeff, zum Beispiel. «Wir haben uns fit für die Zukunft gemacht.» «Das heisst, die Ziele von heute sind gnadenlos verfehlt worden», lacht Baumgartner. Mitarbeiter sollten vor allem dann hellhörig werden, wenn der Chef davon schwadroniere, dass in «interne Abläufe» investiert werde, so der Kabarettist. Denn das bedeute im Klartext: Wir haben den Karren in den Dreck gefahren – und ihr könnt euch auf zusätzliche Überstunden einstellen.
- 3. Machen Sie sich zum Propheten!
Lässt sich der Fehler weder der Wirtschaft noch der Konkurrenz in die Schuhe schieben, wendet der Profi Strategie drei an: Die Klage des Propheten. Zu erkennen ist sie daran, dass der Verantwortliche zu Formulierungen greift wie «Der Markt war noch nicht reif» oder «Unsere Kunden sind nicht so weit». Wer so argumentiert, kaschiert nicht nur den eigenen Fehler, sondern stellt sich selbst auch noch als Pionier da. Die Botschaft: Ich war meiner Zeit einfach zu weit voraus, und alle anderen haben eigentlich Pech gehabt, dass sie für meine wegweisende Idee kein Geld ausgeben wollten. Wer so argumentiert, zeigt, dass er ein wahrer König des Wunschdenkens ist.
- 4. Reden Sie von Verschwörung!
Bei Bedarf lässt sich das Ganze auch zu einer Verschwörung hochstilisieren, so nach dem Motto: Es kann eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen, dass unser Produkt immer noch ein Ladenhüter ist. Das wäre dann Strategie vier: Die grosse Verschwörung. Coach Wehrle nennt das scherzhaft das «Geisterfahrer-Argument»: Wir sind die Einzigen, die in die richtige Richtung fahren, alle anderen sind auf falschem Kurs. Wehrle beobachtet diesen Ansatz auch im Sport. «Dann hat sich der Ball eben geirrt, weil er am Tor vorbeigegangen ist.» Auch Andeutungen zum unfairen Verhalten der Konkurrenz oder zu unerklärlichen Marktbewegungen werden gern genommen, wenn es darum geht, eigene Fehleinschätzungen zu kaschieren.
- 5. Stilisieren Sie sich zum Lernenden!
Besonders perfide ist Strategie fünf: Die totale Pleite wird als hilfreiche Lernlektion verkauft. Da avanciert das mit Pauken und Trompeten untergegangene IT-Projekt dann zum Beispiel zu «wertvollen Lessons Learned». Überhaupt bietet es sich immer an, den Fehlschlag mit Fremdwörtern zu verklausulieren, da er so nicht sofort offensichtlich wird. Besonders angesagt ist dabei im Moment die Vokabel «Resilienz». Sie beschreibt, wie schnell sich ein System nach einer Störung wieder erholt. Fabuliert die Führung häufig von einer «resilienten Organisation», bedeutet das, es gab reichliche dieser Störungen. Doch wer will schon so ein hässliches Wort in den Mund nehmen?
Aber Spass beiseite: Pleiten, Pech und Pannen unter den Tisch zu wischen, mag kurzfristig die Karriere retten, auf lange Sicht jedoch schadet es enorm. «Die ganze Angepasstheit bringt uns nicht weiter», warnt Gerhard Scheucher, Berater und Autor des Buches «Die Kraft des Scheiterns». Er weist auf ein grundsätzliches Problem hin: «Wir haben eine falsche Wahrnehmung von dem, was Erfolg ist.» Gerade in Europa neige man dazu, nur das gelungene Endergebnis zu sehen – aber nicht den steinigen Weg dorthin.
Rückschläge akzeptieren um weiter zu kommen
Als Beispiel nennt er den britischen Erfinder James Dyson. Der musste sich durch sage und schreibe 5126 Prototypen seines beutellosen Staubsaugers ackern, bevor er beim 5127. Versuch einen Hit landete. Nur wer solche Rückschläge akzeptiere, komme auf Dauer weiter, so Scheucher. «Echte Energie wird nur freigesetzt, wenn man nicht permanent mit der Bedrohung ‹Rübe ab› leben muss.» Leider würde nur eine Handvoll Unternehmen diese tolerante Fehlerkultur pflegen.
Insofern sollte der gute Vorsatz fürs neue Geschäftsjahr lauten: Auf zum nächsten Misserfolg, ab ins nächste Desaster – dem Umsatz zuliebe. Oder in den Worten von Business-Kabarettist Baumgartner: «Ich habe so viel aus Fehlern gelernt, dass ich plane, in Zukunft noch mehr davon zu machen.»