Mut bedeutet keineswegs die Abwesenheit von Angst, von Bedenken, von Respekt vor der Grösse einer Herausforderung. Wenn wir wirklich mutig sind – und nicht etwa fahrlässig in blindem Vertrauen agieren – dann haben wir die Sachlage zuvor gedanklich geprüft und wir kennen im besten Falle auch unsere emotionale Einschätzung bezüglich der Sachlage. Dabei sind unsere Gefühle – wenn Mut gefragt ist – in der Regel ambivalent, denn wir sehen oder erahnen Risiken. Und wir wissen um Chancen und hoffen auf zusätzliche, noch unbekannte Opportunitäten.

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Mutige Formen des Organisierens gehen somit Risiken ein und kennen zugleich Respekt vor der Komplexität der Aufgaben. Sie wissen, dass beim Organisieren letztendlich jegliche Vollkasko-Versicherung versagt und der Selbstbehalt im Schadensfall beträchtlich sein kann. Und dennoch sehen wir zusehends diese mutigen Formen des Organisierens: Und dies nicht nur in den diesbezüglich einschlägig verdächtigen Start-ups, sondern auch in KMU sowie in grossen Konzernen. Das liegt meines Erachtens daran, dass die Sache mit der Vollkasko-Versicherung immer auch für den Status quo gilt. Warum in aller Welt sollten die althergebrachten organisatorischen Lösungen uns vor dem Eintreten eines vielleicht noch unkalkulierbareren Schadensrisikos schützen? Und was wäre überhaupt «feiges Organisieren»? Vermutlich doch ein Stillhalten und Beharren, bis man irgendwann zu wissen glaubt, was die Digitalisierung nun an Organisationsform braucht. Aber dies kann genau fahrlässig sein. Die Dinge bewegen sich heute schnell und man ist dann irgendwann auch schnell weg, vom Fenster nämlich. Ich kenne viele Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in KMU und in Konzernen, die sich dessen bewusst sind: Eine Fortführung des Status quo – mit Blick auf das Führungssystem und die Aufbauorganisation – ist vielerorts keine Option.

Alte Muster hinterfragen

Wenn dem so ist, dann taucht die Frage auf, ob ein Unternehmen die Art und Weise, wie Führung und Zusammenarbeit funktionieren, grundsätzlich innerhalb der bisherigen Parameter weiterentwickeln will oder ob es einen prinzipiellen Kurswechsel braucht. Dabei ist immer nur im Einzelfall zu entscheiden, was genau «grundsätzlich» bedeutet. Aber sicher stellen neue Organisationskonzepte wie Holacracy, Exponentielle Organisationen, Connected Company, Responsive Organization etc. althergebrachte Muster hinsichtlich Denken und Organisieren zum Teil markant in Frage.

Wer sich in diese Richtung bewegt, strebt in der Regel nicht mehr eine Systemoptimierung, sondern einen Prozessmusterwechsel an. Bei der System- optimierung entwickeln wir das Bestehende weiter, um es zu verbessern und lassen somit – wenn die aus der Biologie entlehnte Metapher erlaubt ist – die strukturelle sowie die kulturelle DNA des Ganzen unverändert. Das System tickt somit eigentlich im gleichen Pattern weiter. Beim Prozessmusterwechsel manipulieren und schneiden wir an der DNA. Das Pattern ist danach wirklich ein anderes. Joseph Schumpeter hätte von einer schöpferischen Zerstörung historisch gewachsener und sowohl erprobter als auch erfolgreicher Organisationsformen gesprochen. Dies mit dem Ziel, einen Etikettenschwindel zu vermeiden und wirklich Neues zu ermöglichen.

Von Apologeten und Propheten

Das Aufgeben der klassisch hierarchischen Muster als leitende Prinzipien des Organisierens ist so etwas prinzipiell Neues; jedenfalls für die meisten Konzerne und Unternehmen. Und dieses Neue polarisiert die Diskussion immens. Polarisierung und Aufgeregtheit sind Indikatoren für einen anstehenden Prozessmusterwechsel; den Wechsel in die Zeitrechnung 4.0, wenn Sie so wollen. Und der verlangt Mut sowie einen klaren Kopf. Einerseits finden sich die Apologeten einer vermeintlichen Abschaffung von Führung und Organisationsstruktur; diesen gegenüber treten andererseits die dystopischen Szenarien der Organisationsuntergangspropheten, die vor Chaos und völligem Kontrollverlust warnen. Gemeinsam haben Apologeten und Propheten die irrige Vorstellung, dass neue und mutige Formen des Organisierens auf Führung und Struktur verzichten würden. Dies ist schlicht nicht der Fall.

Nehmen wir zum Beispiel das vielleicht am besten vermarktete Angebot im aktuellen Programm der Management-Modelle: Holacracy. Diese neue Organisationsform will nun wirklich so einiges, aber ganz sicher kein Abschaffen von Strukturen. Die Basis der Strukturen sowie die Regeln zur Kooperation werden sogar explizit in eine sogenannte Verfassung («constitution») gegossen. In seiner Bibel spricht der Autor Robertson davon, dass Unternehmen mit Holacracy ein «Upgrade ihres Betriebssystems» vornehmen würden. Das Bild spricht Bände: Es geht darum, das Muster der Maschine zu ändern und auf ein neues Niveau zu hieven – also eben einen Prozessmusterwechsel im oben genannten Sinne zu vollziehen – aber es bleibt eine Maschine, die sich programmieren lässt.
Wenn Sie mir die persönliche Gefühlsäusserung an dieser Stelle erlauben: Mir graust es vor Holacracy als Gesamtkonstrukt. Aber nicht, weil Holacracy Strukturen und Führung zerschlagen würde, sondern weil es Strukturen und Führung – zumindest ist das die Ideologie, die zwischen den Zeilen zu lesen ist – zu entmenschlichen versucht: Holacracy trägt deutlich techno-totalitäre Züge. Mit einem Abschaffen von Hierarchien hat Holacracy nur in gewisser Hinsicht zu tun. Es werden Hierarchien zwischen Personen verabschiedet. Allerdings werden dafür explizit Hierarchien zwischen – zunächst menschenleeren – Rollen und Kreisen etabliert, die je für bestimmte Aufgaben explizit verantwortlich sind. Es soll am Ende einfach egal sein, wer einen bestimmten Job macht; solange er die Rolle in seinem Circle so wahrnimmt, wie sie definiert ist. Ideologisch ist Holacracy diesbezüglich gar nicht so weit entfernt vom Status quo des Denkens in dem einen oder anderen mir bekannten Unternehmen, nicht dem Ihren natürlich.

Versteckte Potenziale

Da die Dinge im Kontext mutigen Organisierens immer auch ambivalent sind, möchte ich für den verbleibenden Text eine 180-Grad-Kehrtwende in der Beurteilung von Holacracy vollziehen und die durchaus auch vorhandenen positiven Ansatzpunkte aufzeigen. Dies gelingt jedoch nur durch das Wechseln der Flughöhe. Wenn wir uns vom Gesamtkonstrukt verabschieden und uns – um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten – bestimmten Prinzipien von Holacracy zuwenden, dann stecken darin durchaus Potenziale.

1. Verantwortungsübernahme wird gefordert und gefördert. Die Definition von Rollen und Circles erzeugt eine erhöhte Transparenz über die Abgrenzung von Aufgabenbereichen für alle Beteiligten. Es wird im gelingenden Fall wesentlich deutlicher, wo Verantwortung alloziert ist. Und es wird zugleich erschwert bis verunmöglicht, dass die Verantwortung für Aufgaben vage durch das Unternehmen mäandriert. Wer die Verantwortung für eine Rolle übernommen hat, hat auch die Verantwortung für Aufgaben übernommen und wird diese auch – solange er die Rolle einnimmt – bis auf weiteres nicht wieder los. Es sei denn, ein überzeugender Veränderungsvorschlag zur Rolle wird formuliert, gegen den keine plausiblen Gegenargumente vorgebracht werden können (s.u.).

2. Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. In holakratischen Organisationen wird in der Regel angestrebt, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Rollenträger «vor Ort» zu vergrössern. Das ist schlicht auch eine Erfordernis, damit diese ihre Verantwortung überhaupt wahrnehmen können. Damit wird also auch die Verantwortung, Entscheide zu treffen, näher dorthin gebracht, wo einerseits die Zusammenarbeit mit Kunden stattfindet und andererseits die entsprechende Fachexpertise zu finden ist: Es geht um das Prinzip «refer to expertise», wie schon im Konzept der organisationalen Mindfulness.

3. Privilegierung einer kontinuierlichen Entwicklung der Organisation selbst. Holacracy setzt auf die Weiterentwicklung und nicht die Tradierung der etablierten Organisationsstruktur. Diese Weiterentwicklung erfolgt nicht am «grünen Tisch», sondern auf Basis der Erfahrung von Spannungen innerhalb der bestehenden Organisation oder zwischen der Organisation und Kunden, Zulieferern etc., die ein produktives Arbeiten verhindern. Es geht darum, Spannungen und Dilemmata produktiv werden zu lassen. In sogenannten «Governance Meetings» – in denen über die Art und Weise der Zusammenarbeit gesprochen und die Organisation verändert werden kann –, wird die Beweislast für Veränderung umgekehrt. Nicht die Verfechter eines Veränderungsvorschlags müssen beweisen, dass dieser Hand und Fuss hat, sondern diejenigen, die die Veränderung nicht wollen, müssen argumentativ überzeugend nachweisen, dass diese zu Schäden führen oder die Organisation insgesamt zurückwerfen könnte. Nur so kann eine Veränderung «verhindert» werden.

4. In Meetings werden Run und Change getrennt. Die definierten Organisationseinheiten (die «Circles») kennen zwei unterschiedliche Formen von Meetings. In den einen wird im System gearbeitet – das sind die sogenannten «Tactical Meetings» –, während in den anderen am System gearbeitet wird; das sind die sogenannten «Governance Meetings». Damit wird – bei stringenter und erfolgreicher Umsetzung – die unproduktive Vermischung von Diskussionen über das Tagesgeschäft mit jenen über die Organisation des Tagesgeschäfts vermieden. Beide Ebenen der Auseinandersetzung haben einen klaren Ort; und zwar dezidiert nicht den gleichen.

5. Agilität im Sinne von Beweglichkeit wird zum Prinzip des Organisierens. Jede Rolle und jeder Circle etablieren sich im Prinzip allein durch den Fokus auf eine Aufgabe bzw. ein Produkt und dessen Beitrag zum Ganzen. Braucht es das Produkt nicht mehr, so braucht es die Rolle oder den Circle nicht mehr. Braucht es ein neues Produkt, so braucht es eine neue Rolle oder einen neuen Circle. Da nun die Aufgaben nicht fix an bestimmte Menschen gebunden sind, sondern an Rollen; und da diese Rollen wiederum – immer nur bis auf weiteres – von Menschen übernommen werden, wird die Aufgabe zum Primat der Organisationsentwicklung, nicht die Person. Die Organisation gewinnt an Beweglichkeit, da sich das Aufgabenportfolio einer Person sowohl sehr fokussiert, aber auch sehr diversifiziert – also über verschiedenste Rollen verteilt – darstellen kann. Damit kann die holakratische Organisation auch potenziell Optionen für Mitarbeitende erhöhen, die Vielfalt ihrer Kompetenzen, also ihre Polyvalenz, auszubauen und sich persönlich zu entwickeln. Das ist gut für Person und Organisation.

Kein allgemeingültiges Prinzip

Noch ein ausgewogenes Statement zum versöhnlichen Schluss: Es gibt unendlich viele Evidenzen in der Organisationsforschung einerseits und in der Beratungspraxis andererseits, die zu der Erkenntnis führen, dass es kein prinzipiell richtiges Organisationsprinzip gibt. Es gibt immer nur, relativ betrachtet, mehr oder weniger pragmatisch sinnvolle Organisationsprinzipien. Sinn oder Unsinn erschliessen sich immer erst in einem bestimmten Kontext, in dem das fragliche Unternehmen steht. Jedes Organisationsprinzip erzeugt seine eigenen Kosten. Auch Agilität ist nicht umsonst zu haben.

 

 

 

PROF. DR. CHRISTOPH CLASES ist Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie – FHNW. Zudem ist er seit 2009 Partner der AOC Unternehmensberatung in Zürich.