In diesen Tagen expandieren Sie mit Auticon in den USA. Und auch in der Schweiz wollen Sie durchstarten. Warum ausgerechnet hier?

Markus Weber: Der Schweizer Markt ist interessant, weil es zum einen sehr viele innovative Firmen gibt, beispielsweise in der Banken- und Versicherungsbranche, die alle ähnliche Probleme haben wie in Deutschland, England oder Frankreich, nämlich grosse Datenmassen, viel Transformation, viel Veränderung, einen hochregulierten Markt. Und diese Firmen brauchen Mitarbeiter mit gewissen Skills.

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Und hier kommen Ihre Mitarbeiter mit Autismus ins Spiel?

Die Schweiz hat im Bereich Autismus die gleichen Probleme wie viele andere Länder. Nämlich, dass es sehr viele begabte Menschen mit Autismus gibt, die ohne Job sind. Nicht wegen ihrer Fähigkeiten, sondern wegen der sogenannten Soft Skills, weil Arbeitsplätze nicht autistengerecht sind, weil das Recruitingverfahren in grossen Firmen so ist, dass Autisten, aber auch andere sehr begabte Menschen dort aussortiert werden. Und das möchten wir ändern. Deswegen stand die Schweiz bei uns immer schon auf der Agenda. Unser Ziel ist, dass wir dort hingehen und möglichst viele Jobs für Autisten schaffen und dass wir zeigen, dass man mit Autisten super Mitarbeiter hat, die anders sind und die Mehrwert schaffen.

Wie ist die Firma Auticon entstanden?

Unser Gründer Dirk Müller-Remus ist selber ein früherer IT-Manager und hat vier Kinder; bei einem seiner Söhne wurde Autismus diagnostiziert. Als die Familie das erfahren hat, hat sie sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Und es gab ein Schlüsselerlebnis, da sass der Gründer mit mehreren erwachsenen Autisten an einem Tisch. Er fragte, was ihr Hintergrund sei – alle hatten studiert, Ausbildung, zum Teil promoviert. Die zweite Frage war: Was macht ihr denn heute? Alle Personen waren arbeitssuchend. Das ist so ein Bild, das zieht sich durch. Je nach Studie sind 85 bis 95 Prozent der Autisten arbeitslos – das ist natürlich fatal. Man hat Leute mit tollen Fähigkeiten, die von der IV leben, aber eigentlich arbeiten möchten. Wir versuchen solche Menschen von der IV wegzubringen und zu Steuerzahlern zu machen.

Sie meinten vorhin, die Arbeitsumgebung und der Rekrutierungsprozess müssten an Autisten angepasst sein. Beginnen wir bei der Arbeitsumgebung – wie muss die aussehen, damit es für Autisten stimmt?

Erst mal muss man sagen, dass alle unsere Kollegen sehr individuell sind. Einige arbeiten gerne im Grossraumbüro und haben wenig Probleme mit der Lautstärke. Und dann gibt es Leute, die können sich deutlich besser konzentrieren, wenn sie einen ruhigen Arbeitsplatz haben. Wir achten darauf, dass es nicht zu laut ist, nicht zu hektisch. Wir haben Mitarbeiter, die haben besondere visuelle Begabungen, die können Fehler und Muster sehen, bevor sie aktiv danach suchen. Die haben aber oftmals eine gewisse Eigenheit, was das Licht angeht. Die könnten nicht unter dieser Neonröhre sitzen, weil sie die Frequenz des Flackerns dieser Röhre sehen und das immer aktiv ausblenden müssten.

Wie finden Firmen diese Dinge heraus?

Für die Kollegen geht unser Job-Coach ins Unternehmen, schaut sich das an und sagt, der Schreibtisch geht vielleicht nicht, aber wenn ihr den nebenan nehmt, wäre das perfekt. Wir gehen mit ausgebildeten Psychologen in die Unternehmen, kennen die Stärken und Schwächen unserer Mitarbeiter sehr gut und arbeiten mit dem Kunden ein Szenario aus, wie das ablaufen kann.

Sehen Sie sich als Jobvermittler?

Nein, das sind wir nicht, wir sind ein klassisches IT-Beratungsunternehmen, das heisst, wir machen Consultingaufträge. Wir machen mehrmonatige Projekte bei Kunden. Und unsere Mitarbeiter sind und bleiben fest angestellt bei uns, weil wir auch wissen, dass unsere Kollegen den konstanten Support von Job-Coaches haben wollen. Die Kunden bekommen eine Leistung und wenn die erbracht ist, geht es zum nächsten Kunden. Unser Ziel ist nicht, unsere Kollegen langfristig dem Kunden zu vermitteln.

Wenn ich als Firma das Interesse an so einem Berater habe, wie ist das Prozedere?

Wir sind Ansprechpartner und gehen in die Unternehmen. Wir sprechen mit Firmen über Projekte und sagen sehr schnell, was wir können und was wir nicht können. Ich komme ja selber aus der Beratung, ich war lange bei PwC. Da lernt man schnell, Projekte zu verkaufen. Wir sind aber bei Auticon eher zurückhaltend, weil für uns auch das Umfeld wichtig ist, wir können unsere Kollegen nicht in ein komplett hektisches Projekt stecken für typische Firefighting-Einsätze, denn da würden sie auf der Strecke bleiben.

Gibt es zwei, drei typische Projekte, die ideal sind für Ihre Angestellten?

Ideal sind sehr komplexe Dinge, die mathematisch-statistisches Know-how und Interesse erfordern. In Kombination mit IT. Zum Beispiel ein Kernbankensystem wird abgelöst, wird auf Java umgesetzt, jemand muss den Code lesen, verstehen und die Software aktualisieren. Oder jemand muss die finanzmathematischen Prozesse in einer Versicherung prüfen und gleichzeitig das IT-Know-how haben, um zu wissen, wie man das in einem anderen System abbilden kann. Wir haben Kollegen, die sind sehr gut darin, sich sehr lange zu konzentrieren, und die grosse Dokumente lesen können, beispielsweise aus komplexen Lieferverträgen rausfinden, was die Muster sind, um bei Verhandlungen bessere Ergebnisse zu erzielen. Also alles, was mit Konzentration zu tun hat und komplex ist.

Wenn Sie das erklären, erinnert das an KI, Algorithmen, automatische Auswertungen. Nimmt das Autisten wieder Jobs weg?

Künstliche Intelligenz ist ja nicht per se vorhanden, sondern es braucht sehr schlaue Leute, die dem Computer diese Intelligenz beibringen. Und da sind unsere Kollegen sehr gut, in der Mustererkennung, in der Analyse, in einem strukturierten Vorgehen. Unsere Kollegen lassen sich nicht ablenken.

Sie sehen keine Gefahr, wenn sich KI weiterentwickelt und selbstlernend wird?

Im Gegenteil. Unternehmen suchen die besten Leute in den Bereichen und tun sich schwer damit. Wir haben gerade mit einer grossen Schweizer Versicherung ein Projekt in diesem Bereich gestartet. Und nach drei Monaten ist das Feedback sehr positiv, was die Arbeitsleistung, aber auch was die Zusammenarbeit mit autistischen Kollegen betrifft. Einfach weil sie in dem Bereich kompetent sind und vorangehen.

Wie rekrutieren Sie Angestellte? Arbeiten Sie mit Autisten-Verbänden zusammen?

Das ist ein wichtiger Teil von Auticon. Wir müssen aktiv auf Verbände zugehen, wir müssen uns präsentieren, damit Menschen mit Autismus auf uns zukommen. Es gibt Autisten, die sind in Verbänden und suchen Unterstützung. Es gibt andere, die haben Jobs, sind aber nicht 100 Prozent zufrieden, weil es zu laut, zu hektisch ist. Weil sie zu viel ad hoc machen müssen. Und sie suchen ein ruhigeres Umfeld und einen Arbeitgeber wie uns. Die möchten wir ansprechen. Wir müssen schauen, dass wir die richtigen Mitarbeiter finden. Wir haben da einiges umgestellt, etwa haben wir keine Bewerbungsgespräche mehr, wir laden alle Bewerber erst mal zu einem kognitiven Test ein, wo wir feststellen, wer wie gut ist in Mustererkennung, Konzentrationsfähigkeit, Geschwindigkeit. Und so können wir auch Bewerber einstellen, die vielleicht keine IT-Erfahrung haben, aber die kognitiven Fähigkeiten, IT zu lernen.

Wie führt man autistische Kollegen ?

Wenn man autistischen Kollegen sagt: «Ich gebe dir morgen Feedback», aber man gibt das Feedback erst einen Tag später, dann hat man seine Aussage nicht gehalten und dann können Autisten unzufrieden werden, zu Recht. Wir benutzen im Sprachgebrauch Floskeln, wo wir ungenau sind – «treffen wir uns nachher zum Essen» etwa ist ein schwieriger Satz. Man sollte sagen: «Ich würde gerne mit dir essen gehen, treffen wir uns um zwölf in der Kantine.» Sonst verwirrt man viele Kollegen, weil sie den ganzen Tag nachdenken, was man gemeint hat.

Sie waren früher bei PwC, heute bei Auticon. Was ist der grösste Unterschied?

Das Kommunizieren ist anders. Manche Kunden sagen, seitdem sie mit unseren Kollegen arbeiten, kommunizieren sie grundsätzlich klarer in der Firma. Ein typisches Beispiel ist, wenn Sie einem Kollegen Dokumente geben und sagen, er solle das bis nächste Woche prüfen, dann ist das zu unspezifisch. Sollen Rechtschreibfehler, logische Brüche oder was genau soll geprüft werden? Bis wann genau, in welcher Qualität? In unseren Arbeitsanweisungen sind wir oft zu ungenau, weil wir selber nicht genau wissen, was wir wollen.

Stefan Mair
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