Jean-Marc Jacot ist für seine gut sitzenden Anzüge und sein gewinnendes Lächeln bekannt. Beim Wort «Manufaktur» gefriert dem Parmigiani-Fleurier-Chef das Lächeln allerdings abrupt: «Jeder beansprucht für sich, eine Manufaktur zu sein. Das ist doch alles sehr unerfreulich.»

Dass Jacot sich echauffiert, ist verständlich. Grosszügig alimentiert durch die Fondation Sandoz, legte sich Parmigiani Fleurier einst die volle Fertigungstiefe zu: eine eigene Konstruktionsabteilung mit heute zehn Ingenieuren, eine eigene Werkfertigung, einen eigenen Hersteller für Räder und Triebe, einen eigenen Gehäusebauer, eine eigene Assemblage sowieso. Und selbst die Zifferblätter stellt die von Michel Parmigiani gegründete Marke selber her.

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Am Ende – und rechtzeitig vor der Krise – buchstabierte Parmigiani allerdings wieder leicht zurück. Werkkonstruktion und Herstellung wurden aus dem Unternehmen ausgegliedert. Sie führen seither unter dem Namen Vaucher ein eigenes Firmenleben. Dass die Highend-Marke Parmigiani Fleurier damit weniger Manufaktur geworden wäre, wird niemand behaupten. Schon gar nicht Jean-Marc Jacot. Die Branchendefinition schliesst nämlich die Belieferung Dritter nicht aus. G.A. Berners «Dictionnaire professionnel illustré de l’horlogerie» bezeichnet als Manufaktur ein «grösseres industrielles Unternehmen, (...) das beinahe die ganze Uhr herstellt».

Rund vier Millionen mechanische Werke produziert die Schweizer Uhrenindustrie jährlich. Davon fertigt die Swatch-Tochter ETA rund 1,7 Millionen, Selitta in La Chaux-de-Fonds eine Million (bisher auf ETA-Basis, künftig mit eigener Konstruktion) und Rolex ungefähr 800000.

Politik der Unabhängigkeit

Dass Rolex der Definition einer Manufaktur gerecht wird, steht ausser Frage. Aber die Grossmarke hat gar nie für sich in Anspruch genommen, eine Manufaktur zu sein. Dabei verfolgt Rolex ganz gezielt eine Politik der Unabhängigkeit dank «doppelter Quelle»: So fertigt die Firma mittlerweile den Federstahl für Unruhen und Aufzugsfedern selber, bezieht daneben aber auch weiterhin Material beim faktischen Branchenmonopolisten Nivarox-FAR, einer Tochter der Swatch Group.

Stephen Urquhart, seit 1999 Omega-Präsident und mit der Traditionsmarke sehr erfolgreich, legt dagegen Wert darauf, Omegas Leistungen unter dem Begriff Manufaktur zu kommunizieren: «Das 2007 eingeführte Co-Axial-Kaliber 8500/8501 kennzeichnete die Rückkehr zu unseren Wurzeln als Manufaktur. Jedes Bauteil wurde spezifisch für das Uhrwerk hergestellt, welches um die 1999 von uns auf den Markt gebrachte radikale Co-Axial-Hemmung herum gefertigt wurde.»

Omega greift für ihre exklusiven Co-Axial-Kaliber auf die gewaltigen Ressourcen der Swatch Group zurück. Die Chronographenkaliber für die legendäre Speedmaster stammten schon immer von Lemania in der Vallée de Joux. Der Betrieb in L’Orient VD wurde in der Uhrenkrise abgestossen und gelangte erst mit dem Breguet-Erwerb zurück in den Konzern. Heute ist er das Kernstück der Manufacture Breguet. Die Marke legt selber grossen Wert darauf, eine Manufaktur zu sein.

Vewässerter Begriff

Und Jaeger-LeCoultre? Die Marke mit dem Anker unter dem Schriftzug ist mit der Integration von Gehäusebau und Werkproduktion bis hin zur eigenen Ankerfertigung – deshalb das Logo – die Vorzeigemanufaktur schlechthin. Aber was unterscheidet Jaeger-LeCoultre von Rolex? Sicher einmal die Grösse. Die Unterschiede sind gewaltig: Jaeger-LeCoultre fertigt um die 60 000 Uhren, Rolex knapp 800 000. Dann die Konzentration auf einen Standort bei Jaeger-LeCoultre, während Rolex die Werke in Biel produziert und die Habillage (Gehäuse) in Genf angesiedelt ist.

Weiter die konstanten technischen Avantgardeleistungen: Seit dem Jahr 2000 haben die Jaeger-LeCoultre-Ingenieure 68 verschiedene Kaliber konstruiert und darüber 80 Erfindungen patentieren lassen. Das sind eindrückliche Leistungen. Verständlich also, wenn Jérôme Lambert, seit zehn Jahren angesehener Chef der mythischen Manufaktur, die Verwässerung des Manufakturbegriffs mit Besorgnis beobachtet.

Das gilt auch für Zenith-CEO Jean-Frédéric Dufour. Er betonte jüngst in Stockholm, seine Marke sei ganz klar eine Manufaktur. Denn Zenith gehöre mit dem El-Primero-Kaliber zu den wenigen Brands, die ein echtes Manufakturwerk für Chronographen hätten. Dass sich die Schwelle für die Herstellung eigener Werke gesenkt hat, ist allerdings nicht zu übersehen. Heute reichen ein Konstrukteur, ein erfahrener Feinmechaniker, ein Drehautomat, eine Funkenerodiermaschine, ein Multiachsen-Bearbeitungszentrum und ein oder zwei Uhrmacher, um ein Werk zu konstruieren, zu fertigen und zu remontieren.

Carl F. Bucherer packte so im waadtländischen Ste-Croix die Produktion ihres Kalibers mit der aussenliegenden Schwungmasse an. Armin Strom in Biel («Manufacture d’Horlogerie») konstruiert und fertigt Werke in exklusiven Stückzahlen, nicht anders Vulcain in Le Locle NE oder Louis Moinet in St-Blaise NE. Vorausgegangen in der Initiative, auch bei kleinsten Stückzahlen mit Werkentwicklungen zu glänzen, waren ihnen Uhrmacher wie François-Paul Journe (Montres Journe) oder Robert Greubel und Stephen Forsey. In kleiner Auflage im Highend-Bereich Fuss fassen konnte auch Maximilian Büsser (MB&F). Büsser nimmt für seine «Horological Machines» nicht in Anspruch, dass sie aus einer Manufaktur stammen. Aber die Stückzahlen sind so verschwindend klein – 2010 waren es 152 –, dass die Fertigung unweigerlich handwerklich ist.

Geteilte Welten

Lange Zeit lebte die Branche gut mit ihrer intensiven Arbeitsteiligkeit. Auf der einen Seite die Habilleure – zuständig für Gehäuse, Zifferblätter und Zeiger –, auf der anderen alles, was mit dem Werk zu tun hat. Von der ETA als wichtigstem Rohwerkhersteller bis hin zu Komplikationsspezialisten wie Dubois Dépraz in Le Lieu VD, der vom Chronographen bis zum ewigen Kalender alles in gewünschter Form zur Verfügung stellt.

Diese Teilung war sehr strikt. Das in der Uhrenkrise der dreissiger Jahre verabschiedete Uhrenstatut hatte die Industrie zum Status quo verpflichtet. Nach der Aufhebung rutschte die Industrie schon bald in die Krise der siebziger Jahre und war vom Überlebenskampf absorbiert. In der Not ging ein Unternehmen wie IWC unter der Führung des verdienstreichen Günter Blümlein dazu über, die Titangehäuse für die Porsche-Kollektion selber zu fertigen. Blümlein mit seiner intellektuellen Begabung und seinem Marktinstinkt war es, der aus dieser Gehäusefertigung den Anspruch ableitete, eine Manufaktur zu führen.

Die Renaissance des Manufakturbegriffs geht mit der Renaissance der mechanischen Werke einher. Blümleins Bête noire war nicht zufällig der ihm ebenbürtige Jean-Claude Biver. Der vormalige Omega-Manager roch den Verdruss über Quarzwerke und das Bedürfnis nach einer seelenvollen Uhrmacherei förmlich. 1980 verbündete er sich mit dem Werkproduzenten Frédéric Piguet in Le Brassus VD, um Blancpain zu lancieren und eine nostalgische Idee der Uhrmacherei in die Welt zu tragen. Blancpain prägte die Vorstellung der Ateliermanufaktur, in welcher der mit Eselsgeduld gesegnete Maître-Horloger in der tief verschneiten Vallée de Joux seine Quantième Perpétuel finissierte und assemblierte. Seither steckt der Wert einer Uhr weniger im Gehäuse als im Werk. Vor allem, wenn das Werk aus eigener Fertigung stammt.

Industriell sorgte der damalige Swatch-Präsident Nicolas G. Hayek für Schub, als er entschied, dass ETA künftig nur noch fertig montierte Kaliber ausliefern werde. Damit standen klassische Etablisseure mit einer eigenen Werkmontage plötzlich vor der Wahl, Mitarbeiter abzubauen oder eine eigene Werkfertigung aufzubauen. Am stärksten traf es zweifellos Selitta: Das Unternehmen aus La Chaux-de-Fonds hatte ausschliesslich ETA-Werke assembliert.

Natürliche Grenzen

Der Schritt in die industrielle Tiefe der eigenen Werkkonstruktion und Teilefertigung verlangt Geld, Energie und solide geistige Vorarbeit. «Man kann sich keine Fehler erlauben», so Karl-Friedrich Scheufele, der dieses Wagnis einging, indem er in Fleurier NE die Chopard Manufacture aufbaute: «Bei einer Manufakturproduktion kann man immer noch etwas korrigieren, ohne sich vor Kostenfolgen fürchten zu müssen. Bei einer industriellen Fertigung ist das nicht möglich. Da ist die Planung das Wichtigste. Sie muss klar definiert sein. Nachträgliche Änderungen auf halbem Weg kosten nämlich richtig viel Geld.»

Eine ähnliche Bilanz zieht Jean-Paul Girardin, der für Breitling eine eigene Werkproduktion aufzog und heute mit Stolz das Breitling-Chronographenkaliber B01 präsentieren kann.

Richemont mit ihren grossen Konzernressourcen fand ebenfalls eine industrielle Antwort auf die Marktnachfrage nach einer intensivierten Fertigungstiefe und zog in Buttes NE mit der Valfleurier ein Gegenstück zur ETA auf. Valfleurier beliefert einzelne Konzernmarken mit individuell entwickelten Kalibern.

Vacheron Constantin, die Spitzenmarke mit einer kontinuierlichen Geschichte von mittlerweile 256 Jahren, besann sich auf die Genfer Punze. Der von der Genfer Uhrmacherschule überwachte Poinçon de Genève ist ausschliesslich Werken vorbehalten, die auf Genfer Boden und nach strengen Qualitätskriterien gefertigt werden.

Die Tendenz hin zur Manufaktur ist in der Uhrenindustrie unübersehbar. Eine natürliche Grenze indes setzen die Lederbänder. Das sieht auch Parmigiani-Fleurier-Chef Jean-Marc Jacot ein: «Alligatoren werden wir wohl selbst bei einem dramatischen Klimawandel nicht in der Schweiz züchten können.»