Mit 30 Jahren hat er zum ersten Mal das Meer gesehen. Qingyun Ma lächelt verschmitzt. «Ich bin im chinesischen Hinterland geboren und habe mich nie richtig mit der See anfreunden können. Für mich sind Hügel und Berge viel wichtiger als Wasser.» Als der chinesische Architekt vor ein paar Jahren von Shanghai an die University of Southern California (USC) berufen wurde, suchte er deshalb nicht die Nähe zur Küste, sondern richtete seinen Fokus auf den hügeligen Gürtel, der den Grossraum von Los Angeles umgibt. «Ich habe mich immer schon für die kalifornische Architektur interessiert», erzählt Qingyun Ma, «und freute mich, die Umgebung zu erkunden und nach einem geeigneten Zuhause zu suchen.»

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Bereits auf seiner zweiten Fahrt durch die erhöhten Wohngegenden rund um das Los Angeles County stiess er auf ein interessantes Objekt in einem Canyon von Pasadena. Hier stand ein originaler Bungalow im typischen Stil der kalifornischen Moderne. Aussergewöhnlich war zudem die Lage des Grundstücks in einem schmalen, natürlichen Seitental des Canyons, das abrupt in einem steilen Abhang endet und eine ein- malige Aussicht auf die weite Ebene des grossstädtischen Konglomerats bietet. «Bei meiner Suche hatte ich immer Julius Shulmans klassische Schwarzweissfotografien moderner Architekturikonen im Kopf», sagt der Architekt. «Hier sah ich meine Vision plötzlich verwirklicht. Es war diese typische Aussicht auf Los Angeles, ein Lichterteppich in der Nacht, die mich sofort überzeugt hat.»

Futuristischer Anbau

Ein weiterer Vorteil des Landstücks war, dass es genügend Raum bot, um das bestehende Gebäude um einen Neubau zu erweitern. Der Bungalow stammt aus dem Jahr 1953 und wurde von einem amerikanischen Architekten namens Arthur Leslie erbaut, einem Abgänger der USC, derselben Universität, an der Qingyun Ma heute Dekan ist. Das Gebäude war im Auftrag der Chefredaktorin eines lokalen Magazins entworfen worden und diente dieser in erster Linie für Empfänge und Partys. «Da das Haus für soziale Anlässe und den kommunikativen Austausch konzipiert worden war, wollte ich es auch in diesem Sinne renovieren», erläutert Ma sein Erneuerungskonzept. «Ausserdem wollte ich den Charakter des Mid-Century bewahren und natürlich den dramatischsten Aspekt des Hauses stärker herausstreichen: den Felsen im Wohnzimmer.»

Der grosszügige Wohnraum nimmt den Hauptteil des Altbaus ein und öffnet sich mit einer verglasten Fassade zum rückwärtigen Garten mit der Aussicht auf die Stadt. Noch eindrücklicher ist der rohe Felsen, der eine ganze Seite des Raumes einnimmt und um den herum der ursprüngliche Architekt das Wohnhaus gebaut hatte. Zwischen dem Ende der Raumdecke und dem Felsen befindet sich ein Oberlicht, das die südkalifornische Sonne über die raue Oberfläche des Steins spült und indirekt das Haus erhellt. An seinem Fuss, verborgen hinter einer kleinen Betonmauer, befindet sich ein halber Meter Erdreich, in dem Kakteen wachsen. In dem trockenen Boden und unter der Hitze des Glases gedeihen die einheimischen Pflanzen prächtig. Die Mauer selbst ist im hinteren Bereich als Sideboard mit Schränken ausgebildet, zum Garten hin wird sie zur Sitzbank.

Sorgsame Restaurierung

Qingyun Ma hat die originalen Elemente des Raumes – vom Terrazzoboden über die offene Küche mit Bar bis zu den holzverkleideten Wänden – sorgsam restaurieren lassen und diesen Teil des Hauses zum öffentlichen Herzen gemacht. Dazu kommt ein zweiter, intimerer Wohnraum mit grossem Backsteinkamin und passendem olivgrünem Hochflorteppich – eine ästhetische Huldigung an die sechziger Jahre. Der Altbau allein wäre für Qingyun Ma und seine Familie – Ehefrau Shouning und die gemeinsamen beiden Söhne – allerdings viel zu klein gewesen, weshalb der Architekt einen Anbau entwarf. «Ich wollte an das Erbe des innovativen Wohnbaus in Los Angeles anknüpfen und zugleich mit der lokalen Architekturtradition brechen», erläutert er. «Mir schwebte etwas Merkwürdiges und Fremdes vor, das sich trotzdem gut in die Umgebung fügt.»

Wo sich der Bungalow von 1953 bescheiden in die Landschaft duckt, holt Qingyun Ma 50 Jahre später zur grossen Geste aus: Im steilen Gelände des Seitencanyons schlägt er von dem bestehenden Gebäude aus wortwörtlich eine Brücke über das Grundstück. «Der Neubau hat ein Doppel-T-Profil und eine Stütze auf der anderen Seite – genau wie eine Brücke», erklärt Ma. Darauf ruht, von aussen nicht erkennbar, eine leichte Holzkonstruktion. «Ich nutze in meinen Bauten alle Möglichkeiten, um hybride und überraschende Strukturen zu schaffen», meint der Architekt. Gegen aussen darf seine Architektur dann durchaus wieder monomaterialistisch und skulptural wirken. Das Haus in Pasadena etwa hat er mit einem von dunkelviolett bis anthrazitfarben changierenden Spritzbeton überziehen lassen, der an die raue Haut einer Echse erinnert. Ein chinesischer Drache in Kalifornien? Qingyun Ma lächelt nur.

Der Erweiterungsbau sollte nicht nur zusätzlichen Wohnraum schaffen, sondern auch das Potenzial des Geländes besser nutzen und die Landschaft in das Design einbeziehen. Der neue Teil öffnet sich mit scheinbar zufällig platzierten Kugelfenstern – einer weiteren Reminiszenz an die Science-Fiction-Ästhetik der sechziger Jahre – zur Natur. Mal schaut man auf einen Hang voll wilder Agaven, mal in eine Gruppe Palmwedel vor kalifornisch blauem Himmel oder in ei- nen duftenden Eukalyptusbaum. Dann wiederum öffnet sich der Blick unvermittelt auf das städtische Panorama und den San-Gabriel-Gebirgszug in der Ferne.

Begrünte Betontreppe

Auf dem Grundstück fanden auch zwei Gärten Platz. Einmal vor dem Altbau, wo das Gelände ein natürliches Dreieck bildet und sich Richtung Abgrund verjüngt. Entlang der Felswand liess Qingyun Ma einen leicht erhöhten und sich ebenfalls verjüngenden Swimmingpool anlegen, der die dynamische Perspektive noch verschärft und die Aussicht stärker in den Fokus rückt. Vom ersten Garten fällt seitlich ein steiler Hang ab, den Ma als begrünte Betontreppe ausgebildet hat, und endet unter dem Neubau, wo Bäume, Topografie und Architektur einen geschützten Sitzplatz bilden.

Qingyun Ma ist es gelungen, sowohl auf die lokale Geschichte wie die topografischen Besonderheiten des kargen Hinterlandes von Los Angeles einzugehen und dabei etwas völlig Neues zu schaffen. Sein Neubau wurde in der Nachbarschaft wie auch in Kollegenkreisen mit Staunen und Wohlwollen aufgenommen. Damit hat Ma ein weiteres Ziel erreicht: sich einerseits mit den lokalen Bauprozessen vertraut zu machen, auszuloten, wie die öffentliche Anerkennung in Kalifornien funktioniert, und schliesslich mit beidem umzugehen, um optimale Resultate zu erzielen.