Unter Diplomaten ist es schon länger ein offenes Geheimnis: Die grösste Knacknuss im EU-Poker um ein Rahmenabkommen ist mittlerweile nicht mehr der helvetische Widerstand gegen die ominösen «fremden Richter», sondern Brüssels Unmut über die «flankierenden Massnahmen». Eine heikle Situation für die Anfang Jahr neu belebte Europa-Allianz. Denn diese beruht auch auf der Übereinkunft, dass am bestehenden Lohn- und Arbeitnehmerschutz nicht gerüttelt wird.

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Doch dieser Konsens ist in Frage gestellt, seit der zuständige Bundesrat Ignazio Cassis unbeschwert in ein SRF-Mikrofon sagte, dass das «eine fast religiöse Frage für beide Seiten» sei und dass «sowohl die EU wie die Schweiz» bereit sein müssten, «über den eigenen Schatten zu springen und kreative Wege zu finden».

Was hat sich Cassis dabei gedacht?

Der Protest der Linken liess nicht lange auf sich warten, und die Gewerkschaften verschanzten sich sogleich im argumentativen Schützengraben. Das Resultat: verwirrte Parteifreunde, mediale Aufregung und ideologische Schockstarre anstatt der angestrebten «Kreativität».

Und nun fragt sich tout Berne: Was hat sich Cassis dabei gedacht? Umso mehr, als er spätestens nach seinem Patzer mit dem Uno-Palästinenser-Hilfswerk wissen sollte, was für einen Wirbel er mit unbedachten Aussagen auslösen kann.

Cassis will das Abkommen

Die Antworten gehen weit auseinander. Einige Politiker vermuten, Cassis sei auch nach acht Monaten noch immer nicht ganz angekommen in seiner Position. Andere diagnostizieren bei ihm eine gewisse Lust aufs Unkonventionelle, auf Provokationen – ohne Rücksicht auf mögliche Kollateralschäden. Und wieder andere wittern hinter der gespielten Naivität einen Plan – wobei auch hier die Interpretationen auseinanderdriften: Wollte er seine Verhandlungsposition gegenüber Brüssel stärken, indem er der EU plastisch vorführt, was passiert, wenn man am Arbeitnehmerschutz herumschraubt? Oder wollte er nur das Terrain vorbereiten, damit er dann die Schuldigen – Linke und Gewerkschaften – präsentieren kann, sollten sich die Schweiz und die EU bis im Herbst nicht handelseinig werden?

Wenigstens in einem Punkt sind sich alle einig: Cassis will dieses Abkommen. Er hat in seinem ersten Bundesratsjahr alles auf die Europa-Karte gesetzt. Sollte er aber jetzt auf der Zielgeraden stolpern, dann muss er einen Teil der Schuld auf sich nehmen.