Die Türken bekommen in diesen Tagen die Schattenseiten des aktuellen «Der Präsident entscheidet alles»-Systems auf brutale Weise ganz neu zu spüren. Die türkische Währung und die Finanzmärkte am Bosporus befinden sich im freien Fall, aber niemand in der Regierung oder auch der Notenbank traut sich an die Öffentlichkeit, um den Sturz aufzuhalten und offensiv für Vertrauen zu werben.

Offensichtlich will der Präsident Recep Tayyip Erdogan, der seit Juni mit dem neuen Präsidialsystem uneingeschränkt herrscht, keine Krise sehen oder aber keine Schwäche zeigen. Und in diesem Machtvakuum kursieren an den Finanzmärkten die wildesten Gerüchte. Die Türkei könne schon bald zu drastischen Mitteln greifen, um die Krise unter Kontrolle zu bringen.

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Sogar von möglichen Kapitalverkehrskontrollen ist plötzlich die Rede, um den Lira-Exodus zu stoppen. Selbst ein Hilfeersuchen an den Internationalen Währungsfonds (IWF) wird als Option nicht ausgeschlossen. Klar scheint nur, je länger die Krise andauert, umso schwieriger wird es, die Finanzschmelze aufzuhalten.

«Präsident Erdogan muss irgendwann reagieren, aber bis dahin kann noch viel Schaden für die türkische Wirtschaft entstehen», sagt Tim Ash, Stratege beim Anlageverwalter Bluebay Asset Management. «Die Probleme sind bekannt, aber Ankara muss endlich beherzt eine kohärente Antwort finden. Es fehlt eine klare ökonomische Führung, und die Notenbank hat sämtliche Autorität eingebüsst.»

Rekordtief der türkischen Lira

Erst zu Wochenbeginn hatte die türkische Lira ein neues Rekordtief markiert. Vorübergehend mussten 5,42 Lira pro Dollar bezahlt werden. Damit hat die türkische Währung im laufenden Jahr rund 27 Prozent an Wert eingebüsst.

Längst ist die Währungskrise auf die Banken übergesprungen. Denen fällt es in Zeiten der fallenden Lira immer schwerer, ihre Dollar-Schulden zu begleichen. Die Investmentbank Goldman Sachs hat gewarnt, dass jede Abwertung um zehn Prozent die Kapitalpuffer der türkischen Banken um einen halben Prozentpunkt schmälert. Sollte die türkische Währung bis auf 7,10 Lira pro Dollar fallen, wären die überschüssigen Reserven dahin.

«Banken sind besonders verletzlich durch die Lira-Schwäche», schreibt Goldman-Analyst Waleed Mohsin in einer achtseitigen Studie. Nicht nur würden die Kapitalpuffer dahinschmelzen, sondern auch die Qualität des Kreditbuchs sinken. Schliesslich hätten auch viele türkische Industrieunternehmen zunehmend Probleme, ihre Dollar-Verbindlichkeiten abzustottern. Das führe zu vielen faulen Krediten in den Büchern der Kreditinstitute.

Die Investoren sind alarmiert und verkaufen panikartig ihre Anleihen türkischer Institute. Am Dienstag schossen die Renditen für Dollar-Bonds der Halkbank auf über 22 Prozent in die Höhe. Auch die Renditen anderer türkischer Institute gingen nach oben.

Halkbank ist in einer besonders prekären Lage. Dem Institut, das sich mehrheitlich im Staatsbesitz befindet, droht in den USA eine zweistellige Milliardenstrafe, weil es Geschäfte mit dem Iran gemacht und damit gegen die Sanktionen verstossen hat. Sollten die Milliarden vollstreckt werden, wäre das ein weiterer Schlag gegen die ohnehin fragile ökonomische Situation in der Türkei. Die Devisenreserven des Landes sind auf 78 Milliarden Dollar gefallen.

Die Türkei könnte auf Zeit spielen

Der Türkei bleiben nicht viele Optionen, um den Kollaps abzuwenden. Sie könnte auf Zeit spielen und darauf hoffen, dass sich die Probleme durch die Marktkräfte bereinigen. Zumindest das hohe Leistungsbilanzdefizit, das sich durch eine überhitzte Binnenkonjunktur und steigende Einfuhren aufgebläht hat, dürfte zurückgehen. Denn wenn die Importe immer teurer werden, dürfte die Nachfrage nach ausländischen Gütern zurückgehen.

Zuletzt sind die Verkäufe ausländischer Autos eingebrochen. Gleichzeitig führt die billige Lira dazu, dass der Tourismus in der Türkei boomt. Angezogen von Schnäppchenpreisen, sind die Zahlen ausländischer Besucher gegenüber dem Vorjahr um rund ein Drittel gestiegen. Schritt für Schritt könnte so das Leistungsbilanzdefizit von zuletzt 57 Milliarden Dollar zurückgeführt werden.

Sollte die Notenbank gleichzeitig noch die Zinsen anheben, könnte der Prozess beschleunigt werden. Allerdings müsste sich Erdogan von seinem Wachstumsdogma verabschieden. Der türkische Präsident hatte in den vergangenen Monaten immer wieder gefordert, die Währungshüter sollten die Zinsen eher senken, um die gute Konjunktur am Laufen zu halten.

Von höheren Zinsen würden indirekt auch Firmen und Banken profitieren. Sie müssen kurzfristige Dollar-Verbindlichkeiten von rund 180 Milliarden Dollar refinanzieren und sind auf eine stabile Währung angewiesen. Sollte die Lira zu stark fallen, dürften sich keine ausländischen Finanziers für diese 180 Milliarden finden. «Zwei Drittel seiner Finanzmittel kommen aus dem Westen, Erdogan kann es sich nicht leisten, sich mit den Partnern zu überwerfen», sagt Ash.

Deal mit Europa

Eine Option wäre es also, aktiv einen Deal mit Europa zu schließen. Dazu müsste sich Erdogan aber vom Dogma lösen, dass dunkle Mächte im Westen ihn stürzen wollen. Hilfen vom IWF kann sich Ash dagegen nicht vorstellen: «Erdogan sieht den IWF als Agenten der USA.» Allerdings habe 2009 allein die vage Ankündigung von IWF-Hilfen eine mögliche Krise gestoppt.

Die Türken könnten nach alternativen Geldgebern Ausschau halten. Doch die Mittel des Nahost-Partners Katar würden wohl nicht ausreichen, mutmaßt Ash. Und China sei nicht übermäßig erpicht, der Türkei Geld zu leihen, auch wenn die Türken angedeutet haben, dem BRICS-Staatenverbund von Brasilien, Russland, China und Südafrika beitreten zu wollen.

Blieben als Ultima Ratio noch Kapitalverkehrskontrollen. Das würde jedoch den internationalen Handel beeinträchtigen, weil zum einen ausländische Investoren nicht mehr sicher sein könnten, ihr Geld außer Landes zu bringen. Zum anderen wären auch inländische Firmen negativ tangiert bei ihren grenzüberschreitenden Transaktionen.

Außerdem würden sämtliche ausländische Geldgeber umgehend ihre Finanzierung einstellen, und der Türkei bliebe als Ausweg nur der Bankrott. Immerhin scheinen die Märkte eine Staatspleite nicht mehr auszuschließen. Auf Sicht von fünf Jahren beziffern die Akteure das Risiko eines Zahlungsausfalls inzwischen auf über 20 Prozent.

Vor diesem Hintergrund versucht Ankara, zumindest das Verhältnis zu den USA wieder zu verbessern, und hat eine Delegation nach Übersee geschickt. Washington hat wegen der Inhaftierung des amerikanischen Pastors Andrew Brunson in der Türkei Sanktionen gegen das Land verhängt und mit weiteren repressiven Maßnahmen gedroht, sollte Erdogan nicht einlenken und Brunson nicht freilassen. Möglicherweise folgt der Befreiungsschlag, auf den die Märkte warten.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «Erdogan muss sich jetzt schnell von seinem Starrsinn lösen»