BILANZ: Wir erleben in der Schweiz jetzt Massenentlassungen: UBS, Lonza, Elmex, Straumann. Wird sich das fortsetzen?

George Sheldon: Wir haben dazu einen Frühindikator entwickelt, und wir sehen, dass dieser steigt. Wir bewegen uns auf eine saisonbereinigte Arbeitslosenquote von 3,1 Prozent zu – was international immer noch ein Superwert ist.

Wie kommen Sie zu dieser Zahl?

Die Arbeitslosenquote liegt jetzt bei 2,9 Prozent. Hohe Arbeitslosigkeit kann dadurch entstehen, dass die Beschäftigungsverhältnisse sehr instabil sind oder aber die Arbeitssuche sehr lange dauert. Mit einem mathematischen Modell können wir nun einschätzen, wie lange diejenigen ohne Stelle bleiben, die jetzt arbeitslos werden. Dabei erkennen wir, dass die Dauer der Arbeitssuche sich weniger verändert, aber die Entlassungen klar steigen.

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Sie beschäftigen sich intensiv mit Fragen der Wanderungsbewegungen, einem Forschungsgegenstand, der Ihnen auch persönlich nicht fremd ist.

Gewiss nicht. Schon meine Vorfahren waren gewandert. Sie kamen aus England, Schottland und Irland.

Und Sie haben selbst eine Wanderer-Biografie.

Wohl wahr, schon meine Kindheit war durch Wanderjahre geprägt. Mein Vater war beim US-Militär. Wir waren in Wien stationiert von 1953 bis 1955, in Frankfurt von 1958 bis 1961, bis der Vater aus dem Militär ausschied. Ich war bis zum Abitur in acht verschiedenen Schulen. Man nannte uns Soldatenkinder, Army Brats.

Und nun sind Sie in Basel sesshaft geworden?

Nein, ich bin Grenzgänger. Ich wohne mit meiner Ehefrau im Dreisamtal im Schwarzwald. Unsere Söhne leben in Frankfurt und in Nürnberg.

Was sind Sie im Herzen: Amerikaner oder Deutscher?

Schwierige Frage. Ich fühle mich hier in Europa wohl, ich werde nach der Emeritierung sicher nicht zurückwandern.

Sie haben in einer Studie die Geschichte der Zuwanderung aufgearbeitet. Es lösten sich liberale Phasen und restriktive Phasen ab. Wo stehen wir heute?

In der Schweiz war es so, dass man sich meistens pragmatisch der Nachfrage angepasst hat. Man hat immer das bekommen, was man brauchte.

Hat nicht die Öffnung durch das Freizügigkeitsabkommen alles verändert?

Nicht dramatisch. Der Trend setzte schon Mitte der neunziger Jahre ein. Wir sehen nach Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens keinen Knick, wenn wir die Konjunktureffekte herausrechnen.

Was machte diese Wende in den neunziger Jahren aus?

Bis dahin waren etwa 60 Prozent der ausländischen Arbeitskräfte Ungelernte und 15 Prozent Akademiker. Das hat sich dann radikal geändert. Der Grund war eine Umstrukturierungsphase. Dann ist der Akademikeranteil auf mindestens 50 Prozent gestiegen.

Sind Sie mit Ihren Zahlen up to date? Kann es nicht sein, dass der Qualifikationsgrad inzwischen wieder zurückgeht?

Das glaube ich nicht. Wir haben zwei grundsätzliche Trends in allen OECD-Ländern. Erstens die Internationalisierung der Arbeitsteilung: Monotone Tätigkeiten werden immer mehr ausgelagert, und anspruchsvollere Tätigkeiten bleiben hier. Und zweitens zeigt sich seit den siebziger Jahren, dass der technische Fortschritt immer bildungsintensiver wird.

Höher qualifiziert bedeutet noch nicht hoch bezahlt. Wissen wir eigentlich, wie viel die Zuwanderer verdienen?

Hier haben wir ein Datenproblem. Ich vermute dennoch, dass der Verdienst besser sein muss als in den Herkunftsländern. Sonst kämen sie nicht.

Und drückt die Zuwanderung die Löhne in der Schweiz?

Sicherlich wirkt sie dämpfend. In unseren Untersuchungen sehen wir, dass die Schweizer Hochqualifizierten eher davon profitieren. Wir haben untersucht, was mit einem Schweizer Arbeitnehmer passiert, der unter seinen Arbeitskollegen viele Zugewanderte hat, im Gegensatz zu einem, der weniger Ausländer in seiner Nähe erlebt. Das Ergebnis war klar: Die Schweizer haben eher profitiert. Man sieht aber, dass bereits länger ansässige niedrig qualifizierte Ausländer aus Drittstaaten, zum Beispiel aus Ex-Jugoslawien, unter dieser Zuwanderung leiden.

Ein Einwanderungsland mit glücklichen Schweizern, welche die Zuwanderung eigentlich begrüssen müssten?

Nach meinem Verständnis ist die Schweiz kein klassisches Einwanderungsland, weil die Zugewanderten nicht hierherkommen, um Bürger des Landes zu werden wie in den USA, in Australien oder Kanada. In der Schweiz ist ja die Voraussetzung, dass der Einwanderer eine Arbeitsstelle hat. Wir haben keinen Lohnzerfall, weil die Zuwanderung vom Arbeitsmarkt gesteuert wird.

Sie sprechen von «der neuen Zuwanderung» der Hochqualifizierten. Wird das Phänomen nicht zu sehr beschönigt? Nach manchen Verlautbarungen hat man den Eindruck, es kämen nur noch Nobelpreisanwärter.

Ich rede nicht von Nobelpreiskandidaten, aber mindestens von Fachhochschulabsolventen. Nein, diese Statistiken können Sie nicht in Abrede stellen.

Aber schauen wir doch auf die Löhne. Hier kommen doch nicht nur Professoren und Jungmillionäre ins Land, sondern mehrheitlich ganz gewöhnliche Arbeitnehmer mit durchschnittlichen Jobs und durchschnittlichen Salären.

Es mag sein, dass die Entwicklung übertrieben wahrgenommen wird. Ich erlebe hier in Basel auch Zuwanderergeschichten von Leuten, die in der Pharmaindustrie angeworben werden und zunächst nur auf das Salärangebot fixiert sind. Erst später sehen sie dann die Rechnung der Krankenversicherung oder die Pendlerkosten.

Oder die Wohnkosten.

So ist es. Für das höhere Salär gibt es zwei Varianten von Empfängern. Man gibt das Geld entweder dem Bodenbesitzer oder dem Staat. Höhere Mieten oder höhere Steuern – das ist die Wahl.

Die Kritiker sprechen über die nackte Zahl der Eingewanderten, ignorieren aber die Aus- und Rückwanderung. Dann sind sie schnell beim Bild mit dem vollen Boot.

Es macht nur Sinn, wenn wir die Netto-Zuwanderung betrachten, den Wachstum des Bestands.

Also die Bilanz von Kommen und Gehen.

Ja, und hier sehen wir ein interessantes Phänomen. Vielfach entsteht das Wachstum des Bestands durch eine höhere Sesshaftigkeit: Es liegt nicht an der hohen Zahl der Zugewanderten, sondern daran, dass diejenigen, die bereits da sind, länger bleiben.

Warum hat sich das geändert?

Es kann sein, dass es daran liegt, dass nach dem Freizügigkeitsabkommen aus Jahresaufenthaltsbewilligungen Fünf-Jahres-Bewilligungen wurden.

Daher mehr Deutsche, die auch noch länger bleiben?

Nein, es gibt kein Volk, das so schnell wieder abwandert wie die Deutschen. Wir haben herausgefunden, dass die Leute sesshafter werden, je niedriger der Bildungsstand ist. Das heisst, die Höherqualifizierten kommen und gehen, die Niedrigqualifizierten bleiben.

Was heisst das nach Herkunftsländern betrachtet?

Portugiesen bleiben länger, und Ex-Jugoslawen haben die höchste Neigung, sesshaft zu werden.

Also das Gegenteil von dem, was ökonomisch erwünscht ist.

Richtig. Und noch etwas: Heute sind wir sehr euphorisch angesichts des besseren Qualifikationsmix.

Weil die Zugewanderten mehr in die Staats- und Sozialkassen einzahlen, als sie herausnehmen.

Ja, das sieht auf den ersten Blick wunderbar aus, kann aber langfristig ein Problem werden: Sesshaft wird man, wenn man weniger gut gebildet ist. Sesshaft wird man auch, wenn man älter wird. Das heisst: Langfristig wird sich die Fiskalbilanz verschlechtern.

Warum bleiben die höher Qualifizierten nicht?

Wenn der Akademiker seine Stelle in Zürich verliert, dann hat er noch München, Hamburg oder Düsseldorf als Alternative. Warum soll er dann bleiben? Er will sich nicht mit Arbeitslosengeld zufriedengeben, und er weiss auch, dass dies im Lebenslauf grauenhaft aussieht.

Und warum bleiben die anderen?

Da spielen oftmals ganz andere Lebensentwürfe eine Rolle. Zum Beispielbeim Türken, der hier Schweizer geworden ist und zwischenzeitlich seine gesamte Familie – Grosseltern, Schwiegereltern, Geschwister – nachgezogen hat. Dem deutschen Akademiker käme es nie in den Sinn, die Schwiegermutter mitzubringen, die lässt er liebend gerne in der Heimat.

Heisst das, dass die heute willkommene Einwanderung langfristig zum ökonomischen Problem wird?

Damit müssen wir rechnen. Wir müssen allerdings auch bedenken, dass wir hier über die erste Generation sprechen. In der zweiten Generation kann es sich verbessern, weil diese sich besser bildet. Und wir dürfen nicht ausser Acht lassen, dass die zurückgewanderten Akademiker Wertvolles hinterlassen. Die Menschen gehen zwar, aber das Wissen bleibt hier.

Wie soll die Schweiz ihr Bildungssystem steuern? Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hat kürzlich dafür plädiert, die Maturitätsquote zu senken, um die Berufsausbildung zu stärken.

Bundesrat Schneider-Ammann liegt absolut falsch. Wenn wir uns unsere Studien dazu anschauen, dann sehen wir, dass früher 60 Prozent eines Jahrgangs die Berufslehre ergriffen. In Deutschland sind es ungefähr 42 Prozent der Jugendlichen, und dort habe ich nicht den Niedergang des Abendlandes festgestellt. Schliesslich holen wir die Akademiker aus dem Ausland, weil sie uns fehlen. Wir müssen nur schauen, wie die Jugendlichen sich verhalten. Sie wissen durchaus, was gefordert wird: Zwischen 2005 und 2010 wurde ihr Drang zur höheren Bildung so gross, dass wir eine neue Prognose erstellen mussten.

Wie hoch ist die optimale Maturitätsquote?

Das kann niemand sagen. Man sollte das Bildungssystem durchlässig gestalten. Dann werden die Menschen selber entscheiden. Wenn wir Akademiker brauchen und weniger Zuwanderung wollen, dann müssen wir selbst Akademiker ausbilden.

Von der Vision einer Zehn-Millionen-Schweiz wurde schon in den sechziger Jahren gesprochen. Es kam anders. Sind wir dieser Vision heute näher?

Schwer zu sagen. Wir müssen bedenken, dass diese Entwicklung sich in Wellen bewegt. Das alles ist konjunkturabhängig. Wenn es gut läuft, dann sehen wir die Reise um Jerusalem. Solange die Musik spielt, sind alle beweglich.

Und in schlechten Zeiten?

Wenn die Konjunktur einbricht, dann bewegen sich die Menschen weniger – weniger herein und weniger hinaus. Die Mobilität braucht Risikofreude, und diese fehlt in schlechten Zeiten.