Wer diesen beiden zuhört, fühlt sich in die Küche eines alten Ehepaares versetzt. Einer spricht, der andere fällt ihm ins Wort und ergänzt, widerspricht oder bestärkt, der eine schwenkt gleich auf eine gemeinsame Linie ein oder gibt noch etwas zu bedenken – aber letztlich kommen sie dann doch immer zusammen.

Kennen gelernt hat sich das Duo per Internet – allerdings schon vor zehn Jahren und nicht über Tinder, sondern via E-Mail. Christian Jott Jenny, in der Öffentlichkeit bekannt als Gesellschaftstenor Leo Wundergut mit weissem Anzug und schwarzer Fliege, war damals Universitätsstudent und richtete Konzerte im Weinkeller des Hotels Kronenhof in Pontresina aus.

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Doch dort wurde der Raum knapp, und Jenny, damals eher Mitte als Ende 20, träumte ohnehin von einem Club-Festival. Nicht, dass der von Festivals überzogenen Schweiz noch ein Me-too-Event gefehlt hätte. Jenny wollte etwas anderes: den Jazz und seine Musiker nicht in grossen Hallen oder vor einer Kirchenorgel auftreten lassen, sondern dort, wo Jazz herkommt und für ihn am richtigen Ort ist – in einem Club.

Passend zum Geist vom Dracula

Und so schrieb er eine E-Mail an Rolf Sachs, der den legendären Dracula Club 
in St. Moritz präsidiert: viel Holz, urchige Atmosphäre und auf der ersten Etage eine umlaufende Galerie, die den Blick nach unten zu den Künstlern freigeben würde. Und zugleich mit handverlesenen Clubmitgliedern, die nach ähnlichen Kriterien ausgesucht werden, wie man sie Jazzmusikern zuschreibt: Individualisten sollen sie sein, Exzentriker vielleicht gar, Energie haben, Humor, Originalität, Mut zur Improvisation.

Jennys formlose E-Mail-Anfrage «hat mich sofort angesprochen», erinnert sich Rolf Sachs. Er fand immer schade, dass der Club im Sommer leer steht, «brachliegt», nennt er es. Jenny kam ihm wie gerufen; Kultur, gerade Jazz, «passt unglaublich gut zum Geist vom ‹Dracula›». Und Christian Jott Jenny konnte hier seinen Traum von einem «coolen» Festival umsetzen, bei einem der ersten Konzerte sass er auf der Treppe, «und da habe ich ganz egoistisch gedacht: So möchte ICH das haben, so möchte ICH diese Musik erleben.»

Unkomplizierte Enge

Weltstars in Wohnzimmeratmosphäre, Kissen für jene Gäste, die auf dem Boden sitzen, und unkomplizierte Enge: Der Pianist von The Manhattan Transfer beschied einmal einem Zuschauer, der ihn immer wieder während des Auftritts touchierte: «I’ll get you a drink later!» – und spielte unbekümmert weiter.

So etwas, sagt Rolf Sachs, «gibts nirgendwo sonst, vielleicht noch in New York»; «dort gibts das auch nicht mehr», meint hingegen Jenny, «doch schon, dass mal ein Weltstar reinkommt» ins Lokal, beendet Sachs seinen Satz, «dann ist es aber meistens eine private Veranstaltung», sagt Jenny, und da sind die beiden sich dann wieder einig.

Draht zu den Stars

Während der Konzerte stehen die beiden gemeinsam hinter der Bar wie Waldorf und Statler aus der «Muppet Show», beobachten die Szenerie und kommentieren, was sie für nötig halten – und wenn Drinks auszugeben sind, packen sie mit an.

Jenny ist es, der die Künstler bucht, der den Draht zu den Stars hat. Und wer da schon alles ins Engadin reiste – und allein dieses Jahr reisen wird: Fazil Say. Chick Corea. Nigel Kennedy. Herbie Hancock. Paolo Conte. Helge Schneider. Michel Legrand, der noch mit der Piaf und Dizzie Gillespie spielte. Dazwischen der Schweizer Jungstar James Gruntz, Richard Dorfmeister mit seinem Elektro-Projekt «Tosca» oder der Indonesier Joey Alexander, dem man mit seinen gerade 14 Jahren alles Mögliche zutraut, nur nicht den hochbegabten Jazzpianisten, den Wynton Marsalis oder Herbie Hancock in ihm sehen.

Den Anfang des Line-ups, den ersten Abend am 5. Juli, ziert natürlich Othella Dallas. Sie stammt eigentlich aus Memphis und wanderte in den sechziger Jahren in die Schweiz ein. Ob Benny Goodman, Louis Armstrong, Nat King Cole oder Duke Ellington: Dallas sang mit den Allergrössten. Im September wird sie 92, führt noch heute eine Tanzschule im Basler Stadtteil Gundeldingen, und inzwischen hat Jenny eine Wette mit ihr laufen: Zum Hundertsten richtet er ihr einen Ball aus. Schon im «Kronenhof» von Pontresina hat sie gesungen, gilt heute als Maskottchen des Festivals.

Kein Gesellschaftsanlass

Zum zehnten Mal laden Christian Jott Jenny und Rolf Sachs dieses Jahr nach St. Moritz ein. Zeit, zurück und vor allem nach vorn zu schauen. Im Rückblick muss man wohl das Festival da Jazz als erfolgreichen Unfall bezeichnen – Jenny hatte anderes vor, als die Schweiz dauerhaft mit einer Konzertreihe zu beglücken. Doch es wuchs organisch zum heutigen Umfang von fast vier Wochen, und erstmals gibt es heuer kaum konzertfreie Tage – zuvor waren Montag und Dienstag meistens unbespielt. Das Wachstum ist gewissermassen unüberhörbar.

Früh gelang es den beiden, einen lässigen Spirit bei ihrem Festival zu etablieren; wer einen Event mit Programmheft wie in der Zürcher Tonhalle erwarte, sei hier falsch, sagt Jenny. Man sitzt und steht, wo es passt, «auch 80-Jährige sitzen bei uns auf der Treppe». Man ist zwar in St. Moritz, aber es solle gerade kein Gesellschaftsanlass sein, sagt Rolf Sachs – die Macher wünschen sich Gäste, die wegen der Musik kommen.

Jenny hat angeblich bei den Konzerten immer ein Bündel Scheine bei sich, die er zückt, falls es Leute gibt, die sich partout nicht auf die rustikale, enge Clubatmosphäre einlassen können oder wollen: Denen bietet er an, cash alle Kosten zu übernehmen, wenn sie nächstes Mal dann eben das Luzerner KKL aufsuchten. Häufig komme das nicht vor, wiegelt er ab, «maximal» ein Mal pro Saison.

Atmosphäre als Lockstoff

Doch gerade die Atmosphäre ist wohl auch der beste Lockstoff. Jenny und Sachs erinnern sich an einen Abend, vor zwei oder drei Jahren müsse das gewesen sein, als alle vier Grossverleger der Deutschschweiz dasselbe Konzert besuchten: Jürg Marquard, Michael Ringier, Pietro Supino und Peter Wanner – weder geladen noch verabredet, sondern völlig zufällig. Die Liste der Unterstützer soll auch so lang wie illuster sein; darüber schweigen die beiden jedoch. Manche spendeten 500 Franken, andere 5000, wieder andere finanzieren gezielt weibliche Musiker oder spezielle Abende.

Zu den bekannten Namen gehören die Finanzgrössen Walter Kielholz und Lukas Mühlemann, der Zürcher Immobilienkönig Urs Ledermann, der Uhrenhändler Jörg Bucherer und Firmenchefs wie Denner-Boss Mario Irminger. Rund 90 Prozent der Kosten müssen über Sponsoren gedeckt werden – denn der Club fasst maximal 200 Gäste, 150 sollten es jeweils sein, und mit den moderaten Eintrittspreisen lassen sich die Gagen der Superstars längst nicht begleichen.

Keine Cüpli-Zelte in Sicht

Doch die Preise sollen bezahlbar bleiben – zwar ist mehr als die Hälfte der Konzerte ohnehin eintrittsfrei, aber auch bei den Top-Acts im «Dracula» wünschen sich Sachs und Jenny eine gute Mischung im Publikum, nicht nur die oberen Eintausend.

Man müsse sich das Festival da Jazz zwar «leisten können wollen – aber wenn man will, kann man», sagt Jenny und macht die Rechnung auf: Ein Pauschalpackage für 290 Franken umfasse Konzert, Anfahrt von Zürich mit der Bahn (Halbtax!) und Dreisternehotel im Ort. Tatsächlich kann man in Montreux für ein einziges Konzert mit Tom Jones schon mehr bezahlen – wobei der «Tiger» mit Jazz bekanntlich nur mittelbar zu tun hat. Dafür findet man am Genfersee zuverlässig zum nächsten Cüpli-Zelt; in St. Moritz muss man wissen, dass nach dem Konzert das Clublokal beizeiten ausgefegt wird und die feiernde Truppe meist in die Bar des Hotels Kulm weiterzieht.

Zwei Themen sind zu bearbeiten

Nun, zum zehnten Jubiläum, werden sich Festivaldirektor Jenny und Gastgeber Sachs zu einem kleinen Think Tank versammeln. Zwei Themen sind zu bearbeiten: Erstens soll die Finanzierung auf ein langfristiges Fundament gestellt werden, damit die jährliche Zitterpartie für Jenny endet. Aber wie dies erreichen – breiteres oder engeres Programm? Braucht es Rahmenveranstaltungen? Soll man einen Preis ausloben, was Interesse von Medien und Sponsoren wecken könnte?

Zweitens ist die Frage des Line-ups zu klären. Die grossen Namen des Jazz sind fast alle (altershalber) vom Tod bedroht. Al Jarreau, mit dem Christian Jott Jenny noch einiges geplant hatte, verstarb im Februar. Wer solche Lücken schliessen könnte, zumindest neue Impulse setzen, den möchte Jenny finden. Dass er Joey Alexander gebucht hat, zeigt den Drang zur Erneuerung.

Als Festivalmacher sind Jenny und Sachs, die sich zuvor nicht kannten, gute Freunde geworden, «fast verheiratet», grinst Jenny, «eine schöne Symbiose», lacht Sachs. Der eine nennt den anderen «Drac», was sich von selbst erklärt, der andere den einen «AV» für Amtsvorsteher, weil Jenny seine Agentur «Amt für Ideen» getauft hat. Diese Freundschaft sei «etwas vom Schönsten, wie man es sehr selten findet», sagt Rolf Sachs. Und so können sich die beiden halb kaputtlachen über die Geschichte mit dem exaltierten, aber grandiosen Geigenvirtuosen Nigel Kennedy.

Kennedy im «Kulm»

Es war vor einigen Jahren, da wollte Christian Jott Jenny nach dem Festival aus dem «Kulm» auschecken, als ihm der Concierge noch eine «kleine offene Rechnung» präsentierte. Kennedy hatte nach seinem Konzert in der Bar des Hotels weitergefeiert, und als die um drei  Uhr früh schloss, nahm er kurzerhand alle Gäste mit in seine Suite – die dürften eine unvergessliche Feier erlebt haben. Solche Aktionen lieben Sachs und Jenny. Dem nun eine Quittung in die Hand gedrückt wurde mit den zögernden Worten: «Die Kennedy-Gruppe ist schon abgereist ...» Auf dem Papier stand, handgeschrieben: «N. Kennedy, Room 508, 2 Packungen Kondome.» Diese Rechnung zahlte Jenny gern. Bis heute bewahrt er sie im «Amt» auf.

Solche Nächte würden viele Amtspersonen gern miterleben.

Wie Schweizer Musik-Künstler heute noch Geld verdienen, sehen Sie in der Bildergalerie:

 

Dirk Ruschmann
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