Der rote Teppich ist ausgerollt, die Wühltische stehen bereit, die Sicherheitsleute sind auf Position. Es kann losgehen: Die Halle einer ehemaligen Fabrik an der Zürcher Peripherie ist an diesem Tag Anfang Juni in ein Schnäppchen-Eldorado für Designermode umgemodelt worden. Schuhe von Dior, Taschen von Gucci, Kleider von Stella McCartney, Badehosen von Vilebrequin, Armreifen von Bottega Veneta – alles mit Preisabschlägen von 40 bis 70 Prozent. Die pelzverbrämten High Heels von Roberto Cavalli sind von 1770 auf 531 Franken reduziert. Der Andrang ist gross. Bereits nach zehn Minuten stehen die ersten Kundinnen an der Kasse, zahlen, schnappen ihre in weisse Tragtaschen verstaute Beute und stöckeln vergnügt von dannen.

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Preisbewusst einkaufen bietet zu Krisenzeiten Erfolgserlebnisse. Ringsum etablieren sich Discountkanäle – Lagerverkäufe, private Tauschbörsen oder Vintage-Sales von Designermarken. Das Internet ist voll von Onlineboutiquen, Epigonen der boomenden Webseite www.net-a-porter.com, mit Nachschub für den Kleiderschrank, ohne dass das Budget übermässig strapaziert würde. Selbst in Hochglanzmagazinen wie «Vogue» finden sich mittlerweile Tipps fürs schmale Budget. Sparkünstler kommen auch bei alltäglichen Dingen zum Zug: Plattformen wie www.aktionitis.ch, www.guenstiger.ch oder www.toppreise.ch haben steigende Frequenzen. «Recessionista» heisst der Typ der Konsumenten, die in der Krise nicht auf ihre liebste Freizeitbeschäftigung, das Shopping, verzichten wollen, diese aber als permanente Schnäppchensuche verstehen. Das exklusive Modehaus Grieder in Zürich reagierte prompt auf den Trend und verlegte den Ausverkauf vor. Anstatt wie früher Mitte Juni begann er diesmal schon im Mai. «Unsere Kundinnen haben uns zu verstehen gegeben, sie würden ihre Einkäufe auf die Ausverkaufszeit verschieben», sagt Franco Savastano, Chef im Haus, «da dachten wir, warum noch warten?» Und die Zwischenbilanz von Philipp Schwander von der Zürcher Weinhandlung Selection Schwander lautet: Deutlich weniger teure, dafür umso mehr günstige Weine werden bestellt. Konkret: «Dank den vielen preiswerten Weinen, die wir im Angebot haben, liegt unser Umsatz 20 Prozent über dem Vorjahr.»

Clever Einkaufen. Gemäss einer global angelegten Konsumstudie des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group (BCG) vom April 2009 wollen 59 Prozent der Konsumenten in den Industrieländern ihre Ausgaben im laufenden Jahr einschränken. «Die Konsumenten», heisst es, «reagieren auf die Notwendigkeit, weniger auszugeben, indem sie bescheiden und cleverer einkaufen.»

«The Age of Less» wird quer durch alle Schichten eingeläutet. Laut David Bosshart, Leiter des Gottlieb Duttweiler Instituts in Rüschlikon, beschreibt dieses Schlagwort nicht die Tatsache, dass viele den Gürtel aus blanker Not enger schnallen, sondern den Trend zu Bescheidenheit aus freien Stücken. Die Parole «Weniger ist mehr» gewinnt laufend Anhänger. Statt von Sparzwang spricht der Zukunftsforscher denn auch von bewusstem Konsum (siehe Grafik im Anhang). Das Preisbewusstsein ist nicht Ausdruck von Geiz, sondern eine Facette des aufkeimenden haushälterischen Umgangs mit Ressourcen. «Diese Art von Verzicht hat nichts mit antihedonistischer Konsumkritik zu tun», sagt Bosshart und zitiert Paco Underhill, US-Autor von Bestsellern wie «Why we buy». «The acquisition of nothing is transformational», die Akquisition von nichts verändert – den konsumwütigen Menschen. Der neue Spirit mündet ganz natürlich in eine schlichtere Lebenshaltung, in den «Lifestyle of Health and Sustainability», kurz «Lohas», bei dem für die Wahl von Produkten Aspekte wie Ökologie, Regionalität und Natürlichkeit ausschlaggebend sind.

Die Konsumwelt befindet sich mitten in einem tief greifenden Wertewandel. Selbst Wohlhabende revidieren ihre Gewohnheiten aus innerem Antrieb, nicht aus wirtschaftlicher Not. In den teuren Boutiquen der Zürcher Bahnhofstrasse etwa fragen Kundinnen vermehrt nach logofreien Einkaufstaschen. Protzen und Klotzen gehören der Vergangenheit an. Franco Savastano, Chef von Grieder in Zürich, sagt: «Bling-Bling, also plakativer, lauter Luxus, leidet stärker unter der Krise als die ehrlichen Marken.» Ehrliche Marken? «Das sind die, bei denen das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt», sagt Savastano, «diese Relation ist heute das Schlüsselthema.» Als «ehrliche Marken» gelten Marken mit Understatement wie Hermès oder Ermenegildo Zegna.

Neue Bescheidenheit. «Authentizität und Savoir-faire überflügeln kurzlebige Trends, da wir uns in eine Ära neuer Bescheidenheit begeben», sagt Anna Zegna, die für den weltweiten Auftritt des Familienunternehmens verantwortlich ist. «So gesehen begrüssen wir die neuen Tatsachen.» Auch im gehobenen Warenhaus kommen Produkte mit einer Aura von Echtheit gut an: Bei Globus ist das aus Südafrika stammende, von Hand gefertigte und darum leicht wacklige Geschirr «Wonki Ware» praktisch ausverkauft.

Das neue Lebensgefühl sorgt auch in der Autoindustrie für Umwälzungen. Das Auto als Statussymbol funktioniert nicht mehr. «Jetzt, wo ich einen Haufen Leute entlassen musste, kann ich es mir nicht leisten, einen neuen Bentley zu kaufen», wird ein Konzernchef in der BCG-Studie zitiert. Das falsche Zeichen zur falschen Zeit; auch Offroader werden als uncool oder gar peinlich wahrgenommen, nicht nur bei den Grünen. Viele dieser Karossen verschwinden in der Garage und werden allenfalls noch für die Winterferien im Engadin in Gang gesetzt. Wer sich nicht verdächtig machen will, fährt Smart oder die Nostalgievehikel Mini-Cabriolet oder Cinquecento. 2008 befanden sich in der Schweiz unter den 20 meistverkauften Modellen 8 Kleinwagen. Im ersten Quartal 2009, in dem die Autoverkäufe im Vergleich zur Vorjahresperiode um 11 Prozent zurückgingen, waren die Mikrowagen die einzige Kategorie, die zulegte.

Peter Sloterdijk sieht im aktuellen Geschehen das nahe Ende der «Frivolitätsepoche», die geprägt war von Leichtsinn und exzessivem Konsum, und in der Finanzkrise das Fanal dieser überschwänglichen Zeit. Dies und eine Vielzahl von Ratschlägen, wie im postmateriellen Zeitalter zu überleben ist, hat er in seinem vor wenigen Wochen erschienenen Buch niedergeschrieben. Der Titel ist Programm: «Du musst dein Leben ändern».

Viele haben die Wende bereits vollzogen. Bereits heute setzen erstaunlich wenige Menschen Luxus mit materiellem Wohlstand gleich. Das zeigt eine von der deutschen Beratungsfirma Brand:Trust durchgeführte Umfrage, die Anfang Mai am Luxury Congress im «Dolder Grand» in Zürich präsentiert worden ist (siehe Grafik oben). Auf die Frage «Wie definieren Sie Luxus?» antworteten 69 Prozent der Mitwirkenden, dass sie darunter etwas Immaterielles vestehen wie Selbstbestimmung, Lebensqualität, Überschaubarkeit oder Exklusivität. Über ihren Weg von «mehr haben» zu «mehr sein» berichten fünf Männer und Frauen, die Karrierekult und Raffgier überwunden und zu einer neuen, einfacheren Lebensphilosophie gefunden haben (siehe Testimonials ab Seite 52). Ein hoher Lebensstandard wird nicht mehr automatisch mit einer hohen Lebensqualität gleichgesetzt. «Bei den Konsumenten in den Industrieländern hat sich ein Back-to-Basics-Gefühl festgesetzt», heisst es in der BCG-Konsumstudie. Es gehe aber nicht nur darum, Geld zu sparen, sondern «emotionale Vorteile» zu erringen, indem man mehr Zeit mit der Familie verbringe, verloren geglaubte Traditionen entdecke und die Befriedigung darüber, zu den wesentlichen Dingen des Lebens zurückzufinden.

Sinnliches Erleben. Tatsächlich zeigt sich die Nachfrage nach hochwertigen Nahrungsmitteln wie etwa nach biologisch und fair produzierten Produkten bis jetzt als weitgehend krisenresistent. Die Biolabel von Coop und Migros verzeichnen nach wie vor Zuwächse, ebenso die Marke Max Havelaar, die für faires Verhalten und soziales Engagement steht. Auch das Reisen bekommt neue Inhalte und Werte. Schweiz Tourismus stellt seit zwei Jahren einen Trend zum «authentischen, sinnlichen Erlebnis» fest, der sich seit Krisenbeginn im vergangenen September noch verstärkt hat. Adrenalinkicks wie Bungee Jumping oder River Rafting weichen beschaulicherem Tun: kneippen im Entlebuch, Vögel beobachten in Malbun, Mineralien suchen im Binntal und Glocken giessen in Bärau. Exotische Destinationen werden ersetzt durch Erlebnisse in der Nähe, die Nachfrage nach Fernreisen und Langstreckenflügen sinkt, die Schweizer buchen günstigere und kürzere Ferien oder bleiben ganz zu Hause. Gut möglich, dass das eingesparte Budget oder mindestens ein Teil davon in die Verschönerung der eigenen vier Wände fliesst. Möbel- und Heimwerkermärkte florieren. «Die einzige Krise, die wir derzeit spüren, zeigt sich in einem akuten Mangel an Parkplätzen und Einkaufswagen», flachst Oliver Kenda, stellvertretender Kassenchef von Bauhaus in Schlieren, dem grössten Bau- und Handwerkermarkt der Schweiz.

Wer weiterhin in die Ferne verreist, tut es nicht wie einst mit einer verschwenderischen Attitüde, sondern immer häufiger ökorrekt. Der Reiseveranstalter Kuoni sieht gemäss Schweiz-Chef Stefan Leser «grosses Potenzial» für verantwortungsvolles und bewusstes Reisen und unterstützt mit speziellen Reiseprogrammen Projekte der Wohltätigkeitsorganisationen Unicef und Caritas sowie des Zoos Zürich: «An Bedeutung gewinnen werden künftig vermehrt Reisen als sinnstiftende Erfahrungen im Einklang mit den Menschen und der Umwelt», sagt Leser. Noch ist das Nachhaltigkeitsprogramm von Kuoni ein Nischenangebot, aber keine Reiseidee scheint zu ausgefallen, um vom «bewussten Urlauber» nicht ausprobiert zu werden. Von einem Angebot konnte sich selbst Leser nicht vorstellen, dass es sich durchsetzen würde. Es stösst aber auf reges Interesse: ein Trip an den Schauplatz der grössten zivilen Atomkatastrophe der Menschheit, nach Tschernobyl.

Iris Kuhn Spogat
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